Flutkatastrophe im Ahrtal: Mann überlebte 15 Stunden auf Hügel in reißender Ahr - FOCUS online
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Flut-Überlebender spricht erstmals über Drama: Das Wunder von der Ahr: Diese Geschichte zeigt, warum die Katastrophe bis heute unbegreiflich ist
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FOCUS online Das Wunder von der Ahr: Diese Geschichte zeigt, warum die Katastrophe bis heute unbegreiflich ist
  • FOCUS-online-Chefreporter (Insul im Ahrtal)
Sonntag, 28.11.2021, 10:46

Es ist ein Wunder, dass Oliver Grieß die Flutkatastrophe im Ahrtal überlebte. Der 54-Jährige wurde auf eine kleine Insel inmitten des mörderischen Strudels gespült und harrte dort die ganze Nacht schwerverletzt aus. Auf FOCUS Online sprechen er und seine Freundin erstmals über das unfassbare Drama. Auch die 50-Jährige entkam dem Tod nur knapp – auf dem abgefetzten Dachstuhl ihres Hauses.

Mit weit aufgerissenen Augen steht Oliver Grieß in den kreischenden Fluten der Ahr und beschließt zu sterben.

Das Einfachste wäre, einen Schritt zur Seite zu gehen und im Strudel zu verschwinden. Er könnte sich auch vor einen der riesigen Gastanks hechten, die qualmend an ihm vorbei zischen. Oder sich aufspießen lassen von einer der Schollen, die wie Styroporplatten im Wasser treiben, aber in Wahrheit scharfkantige Betonbrocken sind.

Hauptsache, es ist vorbei. Endlich.

Flut im Ahrtal: Dramatische Szenen in der Gemeinde Insul

Oliver Grieß, 54, hat in den letzten zehn Minuten alles im Leben verloren. Seine Freundin, die Hunde, das Zuhause. Alles weg. Mitgerissen von der Flut. Er selbst wird von einstürzenden Trümmern fast erschlagen. Die Druckwelle schießt ihn nach draußen in die tobende Ahr und spült ihn auf einen Erdhügel inmitten des Todesflusses.

Als er wieder zu Sinnen kommt und sich aufrappelt, beginnt er zu weinen. Er ahnt, dass niemand ihn retten wird. Weil keiner mehr zu sehen ist weit und breit. Und weil seine Hilfeschreie im ohrenbetäubenden Lärm der Flut ohnehin nicht zu hören sind.

Er ist verloren. Für immer. Sein letztes Hemd ist ein Bademantel, der nass und schwer auf seiner Haut klebt. Er hat keine Schuhe an und keine Unterhose. Er hat keine Vergangenheit mehr und auch keine Zukunft. Er ist allein. Allein unter einem Lindenbaum, dessen mächtige Wurzel den Hügel zusammenhält, auf dem er jetzt steht.

Jeder kann helfen!

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15 Stunden im reißenden Fluss: Kampf auf Leben und Tod

Es ist die letzte Insel im wütenden Strom, kaum vier Quadratmeter groß. Eine Insel, auf der Oliver Grieß sich nichts sehnlicher wünscht als den Tod. Eine innere Stimme hält ihn zurück. „Der Überlebenswille war größer“, sagt er heute.

Die ganze Nacht harrt er neben der Linde aus, 15 Stunden. Irgendwann entdeckt ihn jemand und ruft Hilfe herbei. Ein Helikopter zieht ihn an Land. Oliver Grieß nimmt seine Freundin in die Arme, die ebenfalls vom Wildwasser mitgerissen wurde. Er hatte gedacht, sie sei tot. Und sie hatte gedacht, er sei tot. Auf wundersame Weise überleben beide.

Überlebende sprechen erstmals über ihr Flut-Schicksal

Vier Monate nach der Apokalypse vom 14. auf den 15. Juli 2021 sprechen Oliver Grieß und seine Freundin zum ersten Mal mit einem Journalisten über ihre Erlebnisse. Über das Unglück, das sie aus ihrem alten Leben warf. Und über das Glück, zurück zu sein in einem neuen Leben.

Der Flut-Überlebende Oliver Grieß steht vier Monate nach der Katastrophe in der zerstörten Ahrtal-Gemeinde Insul.
Göran Schattauer / FOL Der Flut-Überlebende Oliver Grieß steht vier Monate nach der Katastrophe in der zerstörten Ahrtal-Gemeinde Insul.

„Manchmal sitze ich einfach auf einer Bank, spüre den leichten Wind und die Stille und die Sonnenstrahlen im Gesicht. Dann bin ich glücklich“, sagt die 50 Jahre alte Freundin, die angenehm zurückhaltend ist und sich nicht mit ihrem Namen in die Öffentlichkeit begeben will. Anders als ihrem Freund fehlt ihr auch die Kraft, mit dem FOCUS-Online-Reporter an den Ort des Schreckens zurückzukehren, in die Ahrtal-Gemeinde Insul im nördlichen Rheinland-Pfalz. „Das schaffe ich nicht.“

Zurück am Ort des Schreckens: Wo stand der Carport?

Oliver Grieß will es zumindest versuchen. Als er ankommt an der Stelle, wo einst das Zuhause der Familie stand, rollt dort dröhnend eine zehn Tonnen schwere Planierraupe hin und her. Grieß nutzt eine Pause des Fahrers und läuft über den plattgewalzten Schlamm. Er versucht, den alten Standpunkt des Hauses, Baujahr 1973, mit seinen Schritten abzugehen, aber es will ihm nicht gelingen. „Es sieht alles so anders aus.“

Wo stand der Carport? Die Garage? Die Terrasse? Wo der Zaun des 1100 Quadratmeter großen Gartens mit direktem Zugang zur Ahr? Der Grillkamin? Oliver Grieß hebt die Schultern. „Ich kann es nicht mehr sagen.“ Sein Blick ist leer und traurig. Er schweigt lange. Man spürt, wie sehr ihn das alles mitnimmt, auch wenn er immer wieder betont, es sei „alles gut“.

Fund im Treibgut: "Da ist ein Stück von unserer Fassade"

Etwa 20 Meter weiter ragt die alte Linde auf, die ihm in der Katastrophennacht Schutz bot. Auf dem Weg dorthin stößt Grieß auf etwas Treibgut, das die Bagger noch nicht weggeschafft haben. „Da ist ein Stück von unserer Fassade“, ruft er aufgeregt und zeigt auf einen terrakottafarbenen Betonbrocken. Auch eine Terrassenplatte und ein Stück vom Zaun findet er im Flutmüll. Grieß kraxelt die Anhöhe zu dem Baum hinauf. Er stützt sich mit der Hand am rissigen Stamm ab und schaut auf die Ahr. Ruhig und gemächlich schlängelt sie sich durch das Tal.

An heißen Sommertagen stellte Oliver Grieß gern seinen Campingstuhl ins Flussbett und genoss es, wenn das Wasser seine Fußknöchel umspielte. Nachts schlief er mit seiner Freundin sogar draußen im Garten. Während die beiden in den Himmel schauten und Sterne beobachteten, plätscherte es neben ihnen. „Es war ein schönes, friedliches Rauschen“, erinnert sich Oliver Grieß. „Nicht ansatzweise so wie am Tag als das Hochwasser kam.“

Sorgen schon am Nachmittag: "Sieht nicht wirklich gut aus"

Am Nachmittag des 14. Juli 2021 steht seine Freundin am Fenster und dreht ein Video. Dabei schwenkt sie die Kamera ihres Smartphones hinunter zur Ahr, die sich immer unruhiger durch die Landschaft wälzt. Sie sagt: „Es fließt ganz schön viel. Es fließt ganz schön schnell. Es sieht nicht wirklich gut aus.“

Auf dem Film ist auch ihr Freund Oliver Grieß zu sehen. In Gummistiefeln läuft er durch den Garten und holt aus dem Schuppen Wasserpumpen für den Fall, dass der Keller absäuft. Außerdem bringt er Blumentöpfe hoch auf die Terrasse. Rückblickend sagt er: „Wir waren uns sicher: Bis dahin kommt das Wasser nicht.“ Eine Fehleinschätzung, wie sich kurz darauf zeigt. Auf der Straße neben dem Haus steigt die braune Brühe immer höher – und kann von der Kanalisation nicht mehr aufgenommen werden. „Plötzlich hörte das Gurgeln in den Gullys auf“, sagt Oliver Grieß. „Das Wasser floss nicht mehr ab. Es war gespenstisch.“

 

Zuflucht auf dem Dachboden, Tiere spüren große Gefahr

In den Minuten des angespannten Wartens und der zittrigen Unsicherheit klingelt es an der Tür. Die befreundeten Nachbarn – Vater, Mutter und ihr zehn Jahre alter Sohn – kommen. Gemeinsam würde man das Unwetter bestimmt besser aushalten, glauben sie. Die Ahr schraubt sich derweil immer höher, sie erfasst schon den halben Garten und droht, über eine Außentreppe in die Kellerwohnung zu laufen. Oliver Grieß und sein Nachbar versuchen, einströmendes Wasser abzupumpen. Zusätzlich keilen sie eine aufblasbare Badewanne vor die Kellertür.

Luftbildaufnahme der zerstörten Gemeinde Insul kurz nach der Flut. Auf der Insel mitten im Fluss, die fast komplett überspült war, überlebte Oliver Grieß.
dpa Luftbildaufnahme der zerstörten Gemeinde Insul kurz nach der Flut. Auf der Insel mitten im Fluss, die fast komplett überspült war, überlebte Oliver Grieß.

Verzweifelt stemmen sie sich die Männer gegen die Naturgewalten, doch bald merken sie, dass sich der immer garstiger werdende Fluss nicht aufhalten lässt. Die Frauen und der zehnjährige Junge sind bereits über eine ausklappbare Leiter auf den Dachboden geflüchtet. Sie haben Trinkwasser und etwas zu Essen dabei. Auch die Hunde Muka und Luna sowie Katze Leni sind auf dem Speicher. Das Verhalten der Tiere verheißt nichts Gutes. Sie spüren Gefahr. Die Hunde verkriechen sich wimmernd in den Ecken, Leni irrt umher.

Kontrollgang im Keller: "Als würde man in Aquarium gucken"

Oliver Grieß macht sich immer größere Sorgen und will nachsehen, was sich im Keller tut. Er steigt die Innentreppe runter, 15 Stufen. „Als ich in die Kellerwohnung gekommen bin, stand das Wasser schon kniehoch“. Grieß schaut auf die schwere hölzerne Tür zum Garten, die in der Mitte fast vollständig verglast ist. „Es sah aus, als würde man in ein Aquarium gucken. Oben war nur noch ein kleiner Streifen Luft und Licht. Darunter überall Wasser, das sich bedrohlich bewegt hat.“

Dann passiert etwas, was man als Alptraum bezeichnen kann – und zugleich als unfassbares Glück. Noch während Oliver Grieß fassungslos in das Aquarium starrt, fliegt die Tür aus den Angeln und schießt wie eine Rakete durch den Flur, angetrieben von tonnenschweren Wassermassen.

„Wenn ich nicht in der Nähe der Treppe gestanden hätte, wäre ich von der Druckwelle erfasst worden und ertrunken“, sagt Grieß. „Oder die herumfliegende Tür hätte mich zweigeteilt.“ Die Waschmaschine braust durch den Gang, die Couch, weitere Türen. Binnen Sekunden steht der Keller – 90 Quadratmeter, 2,20 Meter Deckenhöhe – komplett unter Wasser.

Wasser schießt ins Haus - zum ersten Mal wird es brenzlig

Dass Oliver Grieß sich über die Treppe ins Erdgeschoss retten kann, gleicht einem Wunder. Es wird nicht das letzte bleiben an diesem Tag. Aber das weiß der 54-Jährige in diesem Moment noch nicht. Nach dem Drama im Keller beschließen er und sein Nachbar, nun ebenfalls auf den Speicher zu gehen, zu ihren Frauen, dem Kind und den Tieren. Sicher ist sicher.

Nur eines will Oliver Grieß noch fix erledigen: seine durchnässten Kleider wechseln. Er zieht sich aus, wirft einen Bademantel über und läuft in die Küche, um einen letzten Blick aus dem Fenster zu riskieren. Er erschrickt. Er sieht dasselbe Bild wie zuvor im Keller: ein Aquarium. Die Ahr drückt wie eine braune Mauer gegen die Glasscheibe. Oliver Grieß denkt sich: „Jetzt passiert gleich dasselbe wie unten.“

"Das war‘s", denkt Oliver Grieß, "das überlebst Du nicht"

Im nächsten Moment explodiert das Fenster und die Giebelwand stürzt krachend zusammen. Die Hängeschränke der Küche knicken ab, der große Kühl- und Gefrierschrank kippt, der Boden bebt. Es knirscht und knallt in allen Ecken.

Oliver Grieß wird von der hereinbrechenden Welle verschlungen und auf eine andere Wand zugeschleudert. „Das war‘s“, denkt Grieß, „das überlebst Du nicht“. Und wieder rettet ihn ein Wunder: Kurz bevor er aufzuschlagen droht, bricht auch diese Wand ein. „Ich wurde aus dem Haus katapultiert und landete in der Ahr.“

Die Flut zerstört das Zuhause von Oliver Grieß und seiner Freundin. Beide sind in diesem Moment mit ihren Nachbarn im Gebäude. Wie durch ein Wunder überleben alle fünf.
Screenshot Video Die Flut zerstört das Zuhause von Oliver Grieß und seiner Freundin. Beide sind in diesem Moment mit ihren Nachbarn im Gebäude. Wie durch ein Wunder überleben alle fünf.

Der Nachbar sitzt auf der Leiter zum Dachboden und muss die Katastrophe ohnmächtig ansehen. Als ihn die Frauen fragen, was da unten gerade so gekracht habe, gibt er keine Antwort. Er wirkt wie gelähmt. Die Freundin von Oliver Grieß: „Da habe ich geahnt, dass etwas Schreckliches passiert ist.“

"Wir müssen sterben": Auf Dachboden greift Angst um sich

Vielleicht sei es besser gewesen, dass ihr Nachbar geschwiegen habe, glaubt die 50-Jährige heute. „Sein Sohn hat bitterlich geweint und immer gerufen ‚Wir müssen sterben!‘“ Daraufhin habe sie gesagt: „Wir schaffen das, wir schaffen das!“ Sie holt eine alte Holztür und spricht beruhigend auf das panische Kind ein: „Leg dich auf die Tür drauf und halte dich an dem Griff fest, deine Mama legt sich daneben. Und wenn das Dach doch einbricht, dann ist das wie ein Floß, das euch rettet.“

Anschließend knotet sich Grieß‘ Freundin ein Seil um die Hüfte, an dem sie ihren Hund Luna festbindet. Der andere Hund Muka versteckt sich die ganze Zeit in einer Ecke. Er hat Angst und reagiert nicht auf Rufe. Vielleicht hört er sie auch gar nicht. Die Ahr walzt nicht nur alles kaputt, sie brüllt auch alles nieder. Ihr Rauschen ist furchtbar laut, der Klang purer, ungezähmter Gewalt.

Haus bricht auseinander, Nachbar filmt das Unfassbare

Wie gefährlich die Lage inzwischen ist, sieht die Freundin von Oliver Grieß mit eigenen Augen. Sie steckt ihren Kopf aus der kleinen Fensterluke in der Dachschräge und erhascht einen kurzen Blick auf die Ahr. Ein tonnenschwerer Bagger schwimmt vorbei, knallt gegen ein Haus. Es sind Bilder wie aus einem Horrorfilm. Irgendwann droht auch sie der Mut zu verlassen. Sie murmelt: „Papa, ich komme“. Er war erst vor wenigen Monaten gestorben. Dann faltet sie die Hände zum Gebet: „Vater unser im Himmel ... erlöse uns von dem Bösen“.

Kurz darauf bricht das Haus fast vollständig zusammen. Die Flut frisst die Trümmer, alle Möbel und auch den größten Teil des Dachstuhls. Er wird regelrecht abgefetzt. Mit größter Mühe retten sich die drei Erwachsenen und das Kind auf den kleineren Teil des Speichers. Von draußen filmt ein Anwohner die dramatischen Momente mit der Handykamera. Er hört erst damit auf, als aus den Überbleibseln des Hauses verzweifelte Hilfeschreie kommen. Das etwa sieben Minuten lange Video wird später im Internet kursieren, zusammen mit einem dubiosen Spendenaufruf. Er stammt von einem Betrüger, der aus dem Leid der Opfer Kapital schlagen will.

Lesen Sie hier: „Flut reißt Haus komplett weg: Betrüger nutzt Schockvideo, um Spenden zu ergaunern“

Teil vom Dach wird weggespült, doch alle schaffen es raus

Das aufgeschlitzte Dach kreiselt im Strudel wie eine Nussschale. Es treibt ab und strandet schließlich auf einem anderen Haus. Den vier um ihr Leben Kämpfenden gelingt es irgendwie, die wankende Holzkonstruktion zu verlassen, bevor sie endgültig versinkt. Das bis heute Unbegreifliche: Keiner von ihnen ist nass geworden.

Oliver Grieß ist tot, fürchtet seine Freundin. Sie glaubt, dass er von den einstürzenden Mauern erschlagen oder in den reißenden Fluss gespült wurde. Die Chance, dass er dort überlebt haben könnte, ist kleiner als ein Lottogewinn. 

Oliver Grieß muss noch krampfhaft versucht haben, sich an einem Treppengeländer im Garten festzuklammern, aber genau weiß er es nicht mehr. Vermutlich hat der Sog ihn gegen einen Zaun gepresst. Dass er sich dabei schwer am Fuß verletzt hat, realisiert der fast nackte Mann nicht. Halb benommen kauert er auf der kleinen Erhebung im Fluss. Im Schutz des Lindenstammes richtet er sich auf, sucht sein Zuhause, doch er findet es nicht. Die Wellen haben es verschluckt, samt Mensch und Tier. „Für mich war klar, von denen lebt keiner mehr.“

"Nur ein Baum blieb stehen - und der hat mich gerettet"

Nach Anbruch der Dunkelheit sieht Oliver Grieß am Ufer Blaulicht zucken. Die Feuerwehr ist da. Aber er kann sich nicht bemerkbar machen. Auf der anderen Seite des Flusses gehen Taschenlampen an. Doch die Lichtkegel reichen nicht bis zu ihm. Er bleibt unsichtbar. Er friert, ist nass, hat Durst. Die Lichter geben ihm Hoffnung. Immer wieder steckt er seine Fußzehen in den aufgeweichten Boden rund um die Linde, um zu prüfen, ob der Baum noch halbwegs stabil steht.

Oliver Grieß auf einem Erdhügel neben einem Lindenbaum in der Ahrtal-Gemeinde Insul. Hier überlebte der 54-Jährige die Flutkatastrophe im Juli 2021.
Göran Schattauer / FOL Oliver Grieß auf einem Erdhügel neben einem Lindenbaum in der Ahrtal-Gemeinde Insul. Hier überlebte der 54-Jährige die Katastrophe im Juli 2021.

Vier Monate später sagt er dem FOCUS-Online-Reporter, das Ganze sei schon verrückt. Früher habe er sich öfter über die sieben Linden in der Nähe des Grundstücks geärgert, weil die klebrigen Blüten immer in den Garten flogen. Sechs Linden hat die Flut entwurzelt und weggetragen. „Nur ein Baum blieb stehen, und ausgerechnet der hat mir das Leben gerettet“, sagt Oliver Grieß. „Verrückt“.

Er schreit um Hilfe, wieder und wieder. Er will erreichen, dass die Lampen anbleiben, er will erreichen, dass die Menschen da drüben wissen: Im Fluss ist noch jemand.

Seine Hilfeschreie werden erhört - aber sie wirken irreal

Tatsächlich werden seine Schreie erhört. Die Nachbarin, die zusammen mit Grieß‘ Freundin im Dachstuhl war und dem Tod knapp entrinnen konnte, sagt: „Hörst Du das? Da ruft doch einer um Hilfe.“ Die Freundin, die noch immer unter Schock steht, antwortet: „Wo soll da einer um Hilfe rufen? Es ist doch nichts mehr da!“

Wenn Sie Oliver Grieß und seine Partnerin unterstützen wollen – in Form von finanzieller oder sonstiger Hilfe beim Wiederaufbau ihres Zuhauses, schreiben Sie bitte an

flutbuero@burda-forward.de
oder per Telefon unter: 02641 30 49 444

Dort erfahren Sie die Kontaktdaten der betroffenen Familie.

Am nächsten Morgen zieht sich die Flut langsam zurück. Zentimeter für Zentimeter gibt sie überspültes Land frei, auch auf dem Zufluchtshügel von Oliver Grieß. Er setzt sich auf einen umgeknickten Baumstamm, zerreißt einen Lappen, der von irgendwoher angeschwemmt wurde, und wickelt ihn um den verletzten Fuß. Mit seinen gewölbten Händen sammelt er ein paar Schlucke Ahrwasser und trinkt es.

Die Erlösung: Jeder gestreckter Finger steht für Überlebenden

Er ist erschöpft. Die ganze Nacht hat er kein Auge zugemacht. Langsam weicht das Adrenalin aus seinen Adern. Sein Blick stochert umher und erfasst ein ramponiertes Haus. Eine Frau schaut aus dem Fenster. Es ist seine Freundin. Sie lebt. Er kann es kaum fassen.

Und die anderen? Oliver Grieß streckt drei Finger in die Luft – sinnbildlich für die Nachbarn und deren Sohn. Seine Freundin zeigt drei Finger zurück, was bedeutet: alle am Leben. Anschließend hebt Grieß zwei Finger – und auch dieses Signal weiß seine Freundin zu deuten. Sie spreizt einen Finger ab. Das Zeichen, dass nur einer der beiden Hunde überlebt hat. Zum Beweis hebt sie Luna hoch, den sie auf dem Dachboden an sich festgebunden hatte.

Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiß: Auch Hund Muka hat das Inferno überstanden. Er wurde weggespült und zwei Tage später gefunden – sechs Kilometer stromabwärts. Unverletzt.

Auch sie überlebten die Fluthölle: Die Hunde Muka und Luna.
Göran Schattauer / FOL Auch sie überlebten die Fluthölle: Die Hunde Muka und Luna.

"Wir haben erstmal nur geweint": Helikopter rettet Grieß

Oliver Grieß hält es nicht länger auf seiner Insel aus. „Ich konnte nicht mehr. Ich wollte rüber.“ Er sucht einen Stock und beschließt, gegen die immer noch starke Strömung ans Ufer zu waten. Nachbarn haben schon einen Schlauch aus dem Fenster gehängt, an dem er sich heraushangeln könnte wie an einer Rettungsleine. Bevor er sich auf den risikovollen Weg begeben kann, macht sich ein anderer Anwohner bemerkbar und gestikuliert wild. Mit einer drehenden Handbewegung in der Luft kündigt er an: Ein Hubschrauber naht.

Ein Helfer kommt vom Himmel und schnallt Oliver Grieß fest. Im Bademantel an einem Stahlseil baumelnd, wird er aus dem Flussbett geflogen und auf einer schlammigen Wiese abgesetzt. Kurz darauf fällt er seiner Freundin in die Arme und sie ihm. „Wir haben erstmal nur geweint“, sagt sie und tupft sich vier Monate später wieder die Tränen von den Wangen. Ihr Freund presst die Lippen zusammen.

Sie haben wie durch ein Wunder überlebt - aber alles verloren

Ja, sie haben überlebt. Ein Wunder. Etwas Wunderbares. Und doch muss man mit einer solchen Situation erst einmal klarkommen.

Von einer Sekunde zur nächsten hat die Familie ihr Zuhause verloren – und mit ihm sämtliche Dokumente, Fotos, Erinnerungsstücke, all die Dinge, die sie liebten und an denen sie hingen, den paradiesischen Garten, das liebliche Rauschen der Ahr, die Nächte unter freiem Himmel, die Dose mit der Asche des verstorbenen Vaters.

Die Flut richtete in der Ahrtal-Gemeinde Insul massive Schäden an und riss mehrere Häuser fort.
Göran Schattauer / FOL Die Flut richtete in der Ahrtal-Gemeinde Insul massive Schäden an und riss mehrere Häuser fort.

Natürlich fanden sie schnell einen Schlafplatz, erst im Auffanglager für Flutopfer, dann bei einer Freundin, in einer Ferienwohnung und schließlich in einem Haus rund acht Kilometer von Insul entfernt, in dem sie bis heute zur Miete wohnen. Wildfremde Menschen schenkten ihnen Kleider und Möbel, es gab Geld aus Spendentöpfen, und irgendwann, wenn alle Gutachten fertig sind, wird hoffentlich auch die Versicherung für das zerstörte Haus zahlen.

Doch nichts von alldem vermag das Leid aufzuwiegen, das den beiden widerfahren ist. Körperlich wie seelisch.

Wunde voller Schlamm: "Ihr Fuß ist ganz schwarz und riecht"

Als Oliver Grieß aus dem Haus geschleudert wird, verletzt er sich am linken Fuß. Am Anfang sieht alles nach einer kleinen Schnittwunde aus, die sich ein bisschen entzündet hat. Doch irgendwann schwillt das Bein des 54-Jährigen zu einem Ballon an. Ein Notarzt löst den Verband und sagt: „Ihr Fuß ist ganz schwarz und riecht.“ Er drückt auf den großen Zeh. „Da kam Schlamm rausgespritzt“, erzählt Oliver Grieß.

Drei schmerzhafte Operationen muss er über sich ergehen lassen, teils bei vollem Bewusstsein. Jedes Mal warnen ihn die Mediziner: „Seien sie uns nicht böse, wenn sie morgen früh aufwachen und ihr Fuß ist amputiert.“ Zwar kann der Fuß vom giftigen Modder befreit und gerettet werden. Aber die Sehnen sind durchtrennt, der große Zeh bleibt für immer taub, der vernarbte Spann schimmert bis heute dunkelviolett.

Kalter Atem der Bürokratie: Kein Nachsehen mit Flutopfer

Oliver Grieß spürt die Anteilnahme und Zuneigung vieler Menschen, die er zuvor nie gesehen hatte, ihre Herzlichkeit und die bedingungslose Hilfsbereitschaft. Manchmal schlägt ihm aber auch der kalte Atem der Bürokratie entgegen. Denn wird er nicht wie ein in Not geratener Mensch behandelt, sondern als bloßer Kostenverursacher eingestuft.

In einer Klinik beharrt man zunächst darauf, dass er seine Versichertenkarte vorzeigt, auch wenn er noch so oft beteuert, dass er ein Flutopfer sei und „nicht mal mehr eine Unterhose“ habe. Als er einen neuen Personalausweis braucht, muss er die vollen Gebühren bezahlen. Auf seien Hinweis, dass er bei der Naturkatastrophe alles verloren habe, sagt die Frau am Schalter: „Ist nicht schlimm, macht 47 Euro.“

  • Weitere News, wie Sie helfen können, lesen Sie in unserem Helfer-Ticker.

Bettnachbar im Krankenhaus: Tief bewegt von Schicksal

Ganz anders die einfachen Menschen, die von seinem Schicksal tief berührt sind. Etwa sein Bettnachbar im Krankenhaus, ein 86 Jahre alter Mann, der sich das Bein gebrochen hat. Als Oliver Grieß nach drei Tagen entlassen wird, heult der Mann wie ein Schlosshund, so traurig ist er. Er bittet das Flutopfer um Adresse, Telefonnummer und Bankverbindung. Oliver Grieß: „Ein paar Tage später guckte ich aufs Konto, da hatte mir der Mann 300 Euro überwiesen.“ Bis heute halten die beiden Kontakt.

Eines der vom Hochwasser völlig zerstörten Häuser steht am Ufer der Ahr in Insul.
dpa Eines der vom Hochwasser völlig zerstörten Häuser steht am Ufer der Ahr in Insul.

Am liebsten würden Oliver Grieß und seine Freundin wieder nach Insul zurückgehen und dort ein neues Haus bauen. Doch das ist nicht so einfach. Die wenigen Bauplätze, die es in der Gemeinde gibt, sind schon vergeben. Ein weiteres Baugebiet, auf dem elf neue Häuser entstehen könnten, darf nicht genutzt werden. Naturfreunde haben auf der Fläche eine schützenswerte Pflanze entdeckt, den Großen Wiesenknopf. Selbst Flutopfer kommen dagegen nicht an. Sie hoffen, dass man doch noch eine Lösung findet: „Wir wollen endlich wieder ein eigenes Zuhause.“

Das Trauma bleibt: Schlaftabletten und Angst vor Regen

Die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 hat tiefe Wunden hinterlassen bei Oliver Grieß und seiner Freundin. Kaum eine Nacht, in der sie durchschlafen können. Oft helfen nur Tabletten. Grieß wird unruhig, wenn es regnet. Das Geräusch prasselnder Tropfen versetzt ihn in Angst. Der Bademantel, den er während seines Kampfes auf Leben und Tod anhatte, wurde schon sechs Mal gewaschen, er riecht aber immer noch nach Schlamm und Öl. Grieß will ihn unbedingt behalten.

Trotz der massiven Gewalt- und Verlusterfahrungen – Hilfe durch Psychologen lehnen die beiden ab. „Wer das, was wir durchgemacht haben, nicht selbst erlebt hat, kann sich gar nicht in unsere Situation reinversetzen“, sagt Oliver Grieß. Wäre er nur einen Meter weiter nach links oder rechts in die Ahr gespült worden, es hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Etwa zeitgleich mit ihm holte sich die Flut sein Auto und peitschte es fort wie eine Papierkugel, knapp vorbei am Hügel, auf dem Grieß überlebte. Der blaue Nissan zerschellte an einer Brücke und fiel in tausend Teile.

Das von der Flut mitgerissene und völlig zerstörte Auto von Oliver Grieß.
privat Das von der Flut mitgerissene und völlig zerstörte Auto von Oliver Grieß.

14. Juli: "Da feiern wir jedes Jahr zusammen Geburtstag"

Seine Freundin will dem Bösen etwas Gutes abgewinnen. Sie versucht, die schlimmen Erfahrungen in etwas Positives umzumünzen. „Man sagt ja immer, es gibt keine übersinnlichen Sachen. Aber jetzt wissen wir, irgendjemand hat seine Hand über uns gehalten und gesagt: ‚Nein, Eure Zeit auf der Erde ist noch nicht abgelaufen.‘“

Nach der Rettung beschließen sie gemeinsam mit ihren Nachbarn, was sie künftig am 14. Juli machen werden. „Da feiern wir jedes Jahr zusammen Geburtstag.“

Ihr braucht Hilfe? Oder habt ein Hilfsangebot?

FOCUS Online ist vor Ort im Ahrtal – um da zu sein, zu berichten und zu helfen. Wenn Ihr Hilfe braucht oder ein Hilfsangebot habt, nehmt Kontakt zu unserem Flutbüro auf. Wir sind für Euch ansprechbar und wollen dabei helfen, die Probleme in der Region gemeinsam zu lösen.

So erreicht Ihr unsere Flutreporter
flutbuero@burda-forward.de
oder per Telefon unter: 02641 30 49 444

Im Video:

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