Sterben und Tod – Was man darüber lernen kann

In den Zeiten schwerer Depression habe ich Suizidgedanken. Gedanken an das Sterben, an den Tod. Das heißt vielmehr: ans Nicht-mehr-leben, noch genauer: Nicht-mehr-so-weiter-leben-wie-bisher. Zudem musste ich in den letzten Jahren das Sterben und den Tod einiger mir nahestehender Menschen miterleben. Kann man sich auf das Lebensende vorbereiten? Im Laufe der Philosophiegeschichte gab es immer wieder Vertreter einer Thanatologie, einer Lehre von Sterben und Tod. Mit der Todeslehre soll der Mensch auf das unausweichliche Ende seiner irdischen Existenz vorbereitet werden, ja, er soll regelrecht „sterben lernen“ (Platon). Die Thanatologie gehorcht dabei dem sittlichen Anspruch, dass zu einem gelungenen Leben auch ein „gelungenes Sterben“ gehört.

Thanatologie in der Antike

Die philosophische Thanatologie hat – wie fast alle Bereiche des systematischen Nachdenkens – ihren Ursprung in der Antike. Dabei erfährt die Behandlung des Themas von den Vorsokratikern zu Platon eine entscheidende Wendung: Während für die Vorsokratiker (etwa Alkmaion von Kroton, Empedokles oder auch Heraklit) die ontologische Betrachtung zentral war (also die Frage: Was ist der Tod?), geht es bei Platon um Kommunikation über den Übergang vom Leben zum Tod (also um die Frage: Was ist das Sterben?).

Bei den Vorsokratikern beherrschen die objektiven Fakten die Rede von Sterben und Tod: der Platz des Todes im Gefüge des Seienden (Topologie) und die Spekulation über seine Ursachen (Ätologie) – im Einzelfall (Gerichtsmedizin) wie im Allgemeinen (philosophische Anthropologie).

  • Alkmaion von Kroton glaubte: „Die Menschen vergehen darum, weil sie nicht die Kraft haben, den Anfang an das Ende anzuknüpfen“,

  • Empedokles erklärt den Tod als „Trennung des Feuers von der Erde

  • und Heraklit meint: „Für die Seelen ist es Tod, zu Wasser zu werden, für das Wasser Tod, zu Erde zu werden. Aus Erde wird Wasser, aus Wasser Seele“.

 

Platon über Sterben & Tod

Platon entwickelt in der Apologie des Sokrates eine eigene Prozesstheorie des Todes, die sich weniger um ontologisch-naturalistische Deutungen bemüht als vielmehr um Metaphern und Vergleiche zum Thema „Sterben“. Sterben sei entweder wie ein Nichtsein oder wie ein Wechsel bzw. eine Übersiedlung der Seele: „Lasst uns auch auf folgende Weise bedenken, wie groß die Hoffnung ist, dass es sich um etwas Gutes handelt.

Denn von zwei Dingen kann das Sterben nur eines sein;

  • entweder nämlich ist es wie ein Nichtsein, so dass der Verstorbene auch keinerlei Empfindung mehr von irgendwas hat,

  • oder es findet, wie ja behauptet wird, eine Art Wechsel und Übersiedlung der Seele statt: von dem Orte hier an einen anderen Ort.“

 

Hier zeigen sich gleich 3 Veränderungen gegenüber den Vorsokratikern:

  1. Nicht Tod, sondern Sterben, nicht Fakt, sondern „Hoffnung“,

  2. nicht Beschreibung eines Sachverhalts, sondern gleichnishafte Referenz („wie“, „eine Art“) bestimmen die Darstellung.

  3. Damit wird der Topos Sterben und Tod der ausschließlich ontologischen Betrachtung entzogen.

 

Das Ende wird bei Platon zum Übergang, entweder ins „Nichts“ oder an einen „anderen Ort“. Der Tod verliert damit seinen Schrecken, er ist kein Übel, das es zu fürchten gilt, sondern ein Ausdruck von Hoffnung, mehr noch: etwas Erstrebenswertes.

Zumindest muss niemand Sterben und Tod fürchten

Dabei wertet Platon den Ort der griechischen Unterwelt, den Hades, vom Furchtort („a-idés“, der Unsichtbare) zum Lernort („eidénai“, wissen) um. Vom Ort des Schreckens und der Strafe wird er zum Ort des Weiter-Lernens und damit der Selbstoptimierung über den Tod hinaus.

Da unser Wissen um den Tod eine Auseinandersetzung mit dem Sterben ermöglicht, kann Platon von einem solchen teleologischen Bezug sprechen und die favorisierte philosophische Lebensform, durch die der Mensch das Wahre, Gute und Schöne erkennt, an die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Sterben und Tod knüpfen.

Dies gipfelt in der Meinung, alle Philosophie diene letztlich dazu, sich auf den Tod vorzubereiten („meléte thanátou“). Der Philosoph soll nach Platon „sterben lernen“, das heißt, er kann sich zum einen der Vorstellung nähern, dass das irdische Leben vergeht, zum anderen kann er lernen, darüber nicht traurig zu sein, weil ihm klar wird, dass es seinem Wunsch nach einem glücklichen, gelungenen Leben widerspräche, wenn dieses kein natürliches Ende hätte.

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Metapher des „Loslassens“ im Sterbeprozess, etwas, das der Mensch tatsächlich einüben kann – gewissermaßen im Schlaf. Der Tod als „Schlafes Bruder“ (so in der Bach-Kantate „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“) ähnelt am Ende des Lebens dem Loslassen, welches der Mensch am Ende jeden Tages vornimmt, wenn er sich schlafen legt.

Platons Gedanken eignen sich vielleicht mehr für Angehörige als für Betroffene, in jedem Fall eignen sie sich gut für Gespräche jenseits eines akuten Sterbefalls. Denn das Tabuthema Tod wird bei Platon zum zentralen Topos menschlicher Selbstvergewisserung. Statt das Unausweichliche zu verdrängen, wird es durch bildhafte Vergleiche bewusst ins Leben geholt.

Platon legt mit der Fokussierung auf den Sterbeprozess die Grundlage dafür, dass der Tod nicht nur als objektives Faktum wahrgenommen, sondern durch den Bezug auf das Sterben verhandelbar wird, da die Metaphorik des Übergangs der Seele, der entweder im Nichts oder in einer anderen Daseinsform mündet, als Teil intersubjektiver Kommunikation das rein persönliche Empfinden übersteigt.

Geteilte Sprachbilder in Sachen Sterben und Tod sind wiederum wichtig für Rituale der Begleitung und des Abschieds. Die Beschäftigung mit der antiken Auseinandersetzung mit dem Lebensende kann also durchaus auch heute als Grundlage des Gesprächs über Sterben und Tod dienen, besonders dann, wenn religiöse Ausdrucks- und Deutungsformen nicht zur Verfügung stehen.

 

Epikur über das Sterben & den Tod

Welche weiteren thanatologischen Ansätze sind aus der Antike überliefert? Epikur und Lukrez sind wie Platon der Meinung, dass der Mensch den Tod nicht zu fürchten braucht, jedoch mit einer ganz anderen Begründung. Epikur geht davon aus, „dass der Tod das am meisten Schrecken verursachende Übel“ sei. Deswegen muss man sich darum kümmern und versuchen, dem Tod den Schrecken zu nehmen. Epikurs Ziel ist es, die Todesfurcht nicht etwa durch Hoffnung zu überdecken, sondern sie als gegenstandslos zu entlarven.

Wenn der Tod „unser Bewusstsein fortnehme“, dann sei „er nichts für uns und gehe uns nichts an“. Und weiter: „Solange wir Bewusstsein haben, fehlt der Tod. Ist der Tod da, so fehlt uns jegliches Bewusstsein“. Deshalb habe der Tod für uns keine Bedeutung. Was logisch klingt, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als unzulässiger Schluss von Bewusstseinsverlust auf Bedeutungsverlust.

Denn die Vorstellung, im Tod das Bewusstsein für immer zu verlieren, hat durchaus Bedeutung und kann Angst machen. Verlieren wir auch im Tod das Bewusstsein des Lebens, so verlieren wir ein Leben lang nie das Bewusstsein des Todes.

Die Folge: Der Tod beschäftigt den Menschen

Das zu leugnen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Epikur meint dennoch, dass eine Nichtsbeschäftigung mit Sterben und Tod die beste Lösung sei. Nur ein Leben ohne Todesbezug ist ein gelingendes Leben.

Da es sich aber bei der Annahme, der Tod „gehe uns nichts an“, schon um einen Fehlschluss handelte, ist diese Schlussfolgerung ebenfalls falsch, zumal dann, wenn wir beim Tod nicht nur an den eigenen denken. Zumindest der Tod Anderer geht uns sehr wohl etwas an. Dass andere Menschen durch meinen Tod negativ betroffen sein würden, war mir immer ein starkes Argument für ein Weiterleben in suizidalen Krisen.

 

Lukrez über Sterben & Tod

Gleichwohl fand Epikurs Ignoranzempfehlung in Lukrez einen Rezipienten, der sie weiterentwickelte und zuspitzte. Lukrez fand, „dass der Tod uns nicht das Geringste bedeutet“. Wer sich dennoch mit dem Lebensende beschäftige, mache sich selbst das Leben zur Hölle – schon vor dem Tod.

Doch bietet Lukrez in seinem Bild vom Leben als Mahl, an dessen Ende ein gesättigter Gast Abschied nimmt, selbst eine Perspektive an, den Tod ins irdische Leben hineinzunehmen und zu verarbeiten. Als „Abschied“ gibt Lukrez dem Tod – positiv besetzt durch die Lebenssattheit des Abschiednehmenden – eine angenehme Bedeutung, die Trauernde trösten kann.

Denn dem Sterben als „Abschied nehmen“ haftet durchaus etwas Befreiendes an.

Ein „Mehr“ an Leben wäre ein „Zuviel“. Man kann das „Mahl“ nicht in alle Ewigkeit fortsetzen.

Also: Verdrängung, ganz im Gegensatz zu Platons Einübung, und – im Angesicht des Todes – Annahme, so wie bei Platon.

Doch: Geht das – ohne jede Vorbereitung? Wer dem Tod den Schrecken nehmen will – ohne Bezug auf das Christentum oder religiöse Deutungen überhaupt – bedarf umso mehr einer Beschäftigung mit ihm, damit sich die Depotenzierung des Todes im Sterbeprozess tatsächlich als tröstlicher Halt erweist.

 

Thanatologie in der Renaissance

Michel de Montaigne über Sterben und Tod

Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die Thanatologie in der Renaissance, einer Epoche, die Bezug nimmt auf die Antike – auch beim Thema Sterben und Tod. Michel de Montaigne macht sich einerseits das platonische „Sterben lernen“ als Auftrag der Philosophie zu eigen („Que philosopher c’est apprendre à mourir“), negiert andererseits jedoch Platons Idee einer Chance zur postmortalen Vervollkommnung. Im Gegensatz zu Epikur und Lukrez erhält der Tod bei Montaigne jedoch echte Relevanz.

So gelangt Montaigne in seiner „Philosophie des Todes“ zu einer Formel, die epikuräische Endlichkeit mit platonischer Sinnhaftigkeit verbindet. Sterben lernen bedeutet für ihn, sich einerseits an den Gedanken des Todes zu gewöhnen und sich andererseits darüber klar zu werden, dass es nicht in unserem Sinne ist, unsterblich zu sein. Auf diese Weise kommt Montaigne zu einer gewissen Nonchalance gegenüber dem Tod, die nicht in Ignoranz aufgeht, sondern in Indifferenz.

 

Kurz: Bei Epikur und Lukrez erfahren wir, dass uns der Tod nichts angeht, bei Montaigne hören wir, dass wir nicht wissen können, ob er uns etwas angeht. Wir ahnen jedoch, dass der Tod für uns einen Sinn hat.

 

Montaigne, der den Essay als literarische Gattung erfand, konnte bei seiner thanatologischen Sinnsuche auf eine Nahtoderfahrung infolge eines Reitunfalls zurückgreifen, den er selbst zwar als „einen gar nicht ins Gewicht fallenden Vorfall“ bezeichnet hat, der aber maßgeblich war für seine Unterscheidung von Tod und Sterben.

Das Sterben erscheint in Montaignes Erinnerung als unbeschwerliches „in den Schlaf gleiten“, womit dem Prozess der Todesannäherung der Schrecken genommen ist. Dennoch bleibt der Tod ein Problem: Aus ihm gibt es – im Gegensatz zum Schlaf – kein Erwachen. Es sei denn, man nimmt – wie Platon – eine Fortexistenz der Seele an und einen Raum, in den sie „hineingleiten“ kann.

 

Fazit: Sterben und Tod

Hier verließen wir dann aber den Raum säkularer Vergewisserung, denn jede Vorstellung über den Tod hinaus setzt einen Glauben voraus, der nicht bei allen Menschen – Sterbenden wie Trauernden – vorausgesetzt werden kann.

Was alle Menschen gleichermaßen aus der Antike und ihrer Rezeption lernen können: Der Tod war kein Tabuthema und sollte es auch heute nicht sein.

Wir alle werden sterben. Zu lernen, wie das geht, ist dennoch keinesfalls überflüssig. Es kann unser Verhältnis zum Tod klären – schon zu Lebzeiten.

 
Dr. phil. Josef Bordat

Gastautor Dr. phil., Josef Bordat ist studierter Philosoph, Soziologe & Dipl.-Ing. Er arbeitet als Journalist & Autor und setzt sich dezidiert mit religiös-philosophischen Themen auseinander. Auf seinem Blog und in seinen Texten gibt er Einblicke in eigene Depressionserfahrungen und deutet sie aus christlicher Perspektive.

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