Das Erste, was an Lafontaines Buch auffällt, ist die zornige Sprache, die fast brutalen Formulierungen, die darauf gerichtet sind, die Wut der Leserinnen und Leser weiter anzufachen. Er schreibt: „Vielleicht kämen Frau Baerbock und die übrigen US-Befehlsempfänger in Berlin…“, Frau Strack-Zimmermann hat entweder „einen ähnlichen Intelligenzquotienten wie Frau Baerbock, oder sie weiß genau, was sie für einen Unsinn redet“ und zu Herrn Scholz heißt es schlicht: „Er befürwortet Kriege…“. Die ARD betreibt „Kriegspropaganda“, die westlichen Medien sind „gleichgeschaltet“, die Sprengung von Nord Stream war eine „Kriegserklärung an Deutschland“, was ein mutiger Bundeskanzler auch gesagt hätte. Scholz also sei feige.

Nun könnte man die Zornschrift damit abtun, dass hier ein erfahrener Demagoge nochmal zum Schlag gegen Berlin, die USA und den Westen ausholt. Aber das wäre falsch, weil man dann Desinformationsunternehmern wie Ganser, Krone-Schmalz, Guérot, Wagenknecht und eben auch Lafontaine das Feld zur Bearbeitung der öffentlichen Meinung überlassen würde. Da säen sie ihre Unwahrheiten und Verdrehungen, um später politische Unterstützung ernten zu können. Und, wie sich zeigt, sind sie da recht erfolgreich unterwegs. Um alle falschen Darstellungen widerlegen zu können, die Lafontaine aneinanderreiht, müsste die Rezension allerdings länger ausfallen als die 78 Textseiten des Buches. Denn der Autor wiederholt alle gängigen „alternativen Fakten“ und schafft sich – ganz so wie der große Meister alternativer Fakten im verhassten Amerika – seine eigene Realität. Von den angeblichen Zusagen, die NATO nicht zu erweitern, bis zum schon verhandelten Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine, den Johnson verhinderte, werden alle möglichen Kremlmärchen aufgelistet. Das Buch ist ein Kompendium russischer Desinformation.

So ist es möglicherweise ein nutzenbringender Ansatz, aus dem Text herauszulesen, was Lafontaine für die Selbstbehauptung Europas vorschlägt. Dafür will er mit der Schrift ja plädieren. Die Antwort auf diese Frage ist dünn, sehr dünn. Ihm mag nicht in den Kopf gehen, „dass Deutschland und Frankreich keine tragfähige Verteidigung aufbauen können, die sich im internationalen Gegeneinander der miteinander rivalisierenden Mächte behaupten könnte.“ Schließlich hätten beide zusammen eine größere Wirtschaftskraft und Bevölkerung als beispielsweise Russland. Das ist dann auch schon alles, was der Autor zur Selbstbehauptung Europas anführt, eine Art Legoland-Gaullismus (denn Disneyland darf es nicht sein). Fragen europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik werden nicht seriös diskutiert. Sie werden gar nicht diskutiert. Doch, halt! An einer Stelle führt Lafontaine aus, dass wegen der kurzen Vorwarnzeiten auf gar keinen Fall Raketen nahe an einer Nuklearmacht stationiert sein dürften. Er sorgt sich um Russlands Sicherheit und mögliche Fehlreaktionen russischer Streitkräfte, falls wenig Zeit zum Überprüfen von gegnerischen Angriffsmaßnahmen sei. Und so geht es hier um Russlands Sicherheit, nicht um die der übrigen Europäer, denn die Stationierung von Nuklearwaffen in Kaliningrad und die kurzen Wege nach London und Paris, die im russischen Fernsehen sogar schon bildlich aufbereitet wurden, übersieht er geflissentlich. Er diskutiert dies auch hinsichtlich seines Gedankens einer deutsch-französischen Armee nicht weiter. Die anderen EU-Staaten kommen gar nicht vor, außer Polen, das er auf einer „Achse Washington-London-Warschau-Kiew“ verortet und von der sich die Bundesregierung, so der Verfasser, vorführen lässt.

Fragen der europäischen Sicherheitsordnung zu diskutieren ist für den Zweck des Buches aber auch gar nicht nötig, denn Lafontaine möchte mit seiner Schrift etwas ganz anderes anstoßen, was als anti-amerikanische Sammlungsbewegung bezeichnet werden könnte. Pseudo-Brandt’sche Sozialdemokraten (Entspannungspolitik retten), die alte Friedensbewegung (Soziale Verteidigung denken), Linke (Kapitalismus ist Krieg), Nationalisten (Vasallenstaat Deutschland) und Rechte (deutsche Technik und russische Bodenschätze) nimmt er in den Blick und bedient ihre einschlägigen Klischees. Dabei dreht sich alles um die USA. Diese müssen, das ist Lafontaines Ausgangspunkt, ständig Kriege führen, weil der Krieg aus dem Wirtschaftssystem wie von selbst erwächst. Deshalb haben die USA einen Kriegsminister, halten die NATO als Instrument ihrer aggressiven Politik, unterdrücken ihre Vasallen und provozieren die beiden Mächte, die ihnen ihre Weltmachtstellung streitig machen könnten. So wird Russlands Krieg zum – völkerrechtswidrigen, sowenig Realitätsbezug gönnt sich der Autor – Verteidigungskrieg.

Das repressive Regime in Russland, seine illiberale Unterdrückungspolitik im Innern kommen gar nicht vor, hingegen Russlands Oligarchen. Aber das auf überraschende Weise, denn den Ukrainern hält der Autor vor, dass es doch einerlei sei, ob sie unter ukrainischen oder russischen Oligarchen leben würden, wenn sie doch, Hauptsache, leben. Inhaltlich ist das Buch superdünn; demagogisch ist es präzise platziert; in eine sich spaltende Öffentlichkeit ist es treffsicher formuliert. Lafontaine, der ja nicht seine erste demagogische Schlacht schlägt, packt Verdrehungen, Auslassungen, Desinformationen und offensichtliche russische Narrative zusammen. Unter diesen Gesichtspunkten ist es ein professionelles Werk, weil er sich nicht groß mit Beweisen für seine Behauptungen aufhält. Deshalb zum Schluss noch ein Zitat. „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass deutsche Truppen wieder an der russischen Grenze stehen.“ Dass das empirisch falsch ist, ist nebensächlich, denn es ist zornunternehmerisch richtig. Deshalb passt es in die alternative Realität von Donald Lafontaine.