Zusammenfassung
Alice Salomons Analyse der wissenschaftlichen Grundlagen Sozialer Arbeit wie auch ihrer theoretischen und gesellschaftlichen Bedingungen zeigte, dass Soziale Arbeit immer auch eine angewandte Professionund eine wissenschaftliche Disziplin ist, die ihre eigenen wissenschaftlichen Fragestellungen, Analysen und Theorien entwickelt. Um die Herausbildung einer wissenschaftlichen Haltung bei den SozialarbeiterInnen zu befördern sollte das „Suchen nach wissenschaftlicher Erkenntnis, die der Praxis dienen kann“ im Mittelpunkt professioneller Handlungsstrategien stehen. Dafür mussten die strukturell unterschiedlichen Logiken und Interessen von Wissenschaft und Praxis analysiert und sinnvoll gebündelt werden. In Alice Salomons Lesart ist Soziale Arbeit aufgrund ihrer gesellschaftlichen-politischen Einbettung nicht abgeschlossen, sondern muss im Kontext ihrer Konstitutionsbedingungen immer wieder neu aufgeschlossen und in ihren analytischen wie praktischen und politischen Konsequenzen reflektiert werden.
Abstract
Alice Salomons’ analysis of the scientific knowledge in social work including theoretical and social conditions show that social work is always an applied profession and an academic discipline. Social work develops its own scientific questions, analysis and theories. Alice Salomons demands the integration of strategies for knowledge, action and reflection to promote the development of a scientific position among social workers. The focus of her interest was to analyse different logics and interests in science and practice. Social work has always been open to reflected their analytical, practical and political consequences.
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Seit Beginn der Herausbildung von Sozialer Arbeit als Profession und Disziplin stellt sich die Frage nach ihren wissenschaftlichen Grundlagen, also nach ihrem Gegenstand und dessen Konstitutionsbedingungen, der geschichtlichen Selbstvergewisserung, den spezifischen Leistungen und ihrem Selbstverständnis – und demzufolge auch nach ihrer möglichen disziplinären Identität. Soziale Arbeit befasst sich mit einer außergewöhnlichen Vielfalt von sozialen Lebens- und individuellen Problemlagen, sie bietet eine große Anzahl von spezifischen Leistungen an, die teilweise – auf der Erscheinungsebene – ein Minimum an strukturellen Gemeinsamkeiten bezüglich ihres Gegenstandes aufweisen und immer wieder Fragen nach ihrer Verortung innerhalb des Wissenschaftssystems aufwerfen. (vgl. Thole2010) In den Schriften von Alice Salomon spiegelt sich diese große Breite und Vielfalt der zu bearbeitenden Gegenstände wider, sie geben einen Einblick in die Themen des frühen 20. Jahrhunderts und der damalig geführten Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichen Diskursen.Footnote 1
Alice Salomon (geboren 19.04.1872 in Berlin; gestorben 30.08.1948 in New York) gehört sicherlich zu den bemerkenswertesten Pionierinnen der Sozialen Arbeit, da es ihr nicht nur um die Implementierung von Ausbildungsgängen, Methoden und Theorien ging, sondern auch, und ihr diesbezügliches Engagement wird zuweilen übersehen, um die wissenschaftliche – und damit einhergehend empirische – Erforschung familialer Lebenslagen und Problemfelder.Footnote 2 Charakteristisch ist in ihren Arbeiten die Rezeption und Auseinandersetzung aus einer differenzfeministischenFootnote 3 Perspektive mit international geführten Diskursen im Bereich der Sozialen Arbeit. Ihr Ziel war es, die Theorie-, Methoden- und Professionsentwicklung mitzugestalten und durch die Rezeption wie auch Transformation von internationalen Forschungsergebnissen weiterzuentwickeln. Nachfolgend wird es darum gehen, die von Alice Salomon geführte Diskussion über die „wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit“ (Salomon2004/1933, S. 539) zu analysieren, um ihr Erkenntnisinteresse an einer theoretischen Fundierung von Wissen und Handeln im Kontext der Herausbildung von Sozialer Arbeit als Profession und Disziplin einordnen zu können.
1 Erkennen und Handeln
Zentrale Prämissen ihres Wissenschaftsverständnisses hat Alice Salomon in einem Beitrag zu den „wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit“ dargelegt (vgl. Salomon2004/1933). Hier analysierte sie die Studie des jüdischen Sozialarbeiters und Vorsitzenden der US-amerikanischen Konferenz der sozialen Schulen Maurice J. Karpf, „The Scientific Basis of Social Work. A Study in Family Case Work“ aus dem Jahre 1931. Die zu Beginn der Studie geführte wissenstheoretische Auseinandersetzung über das Verhältnis und die Selbstpositionierung der Sozialen Arbeit zu den Disziplinen der Sozialökonomie, Geschichte, Philosophie, Politik, Biologie und der sozialen Psychologie nutzte Alice Salomon, um eine eigene Einordnung vornehmen zu können. Eine zentrale Aufgabe der „Wissenschaft im Interesse der sozialen Arbeit“ sollte es demnach sein, die bereits vorhandenen Wissensbestände der sozialen, psychologischen und biologischen Disziplinen zu nutzen, um die Möglichkeiten, die Bedeutung und die Beherrschung von „Beeinflussungsmethoden“ zu eruieren, mit dem Ziel Verhaltensänderungen bei AdressatInnen herbeizuführen (Salomon2004/1933, S. 539, 544). Unterschieden wurden fünf Beeinflussungsmethoden „1) erklären, 2) erörtern und überreden, 3) anordnen und drohen, 4) raten, 5) suggerieren“.Footnote 4 Sie sollten der „Wiederherstellung der wirtschaftlichen Selbständigkeit, der Gesundheit, der Fähigkeit zu verantwortlicher Lebensführung“ dienen, um die „Persönlichkeitsentwicklung“ (Salomon2004/1926, S. 300) – verstanden als individuelle Anpassung an die gesellschaftlichen Bedingungen – der AdressatInnen zu befördern. In dieser hier von Alice Salomon eingeforderten „Normalisierungsarbeit“ als Grundlage professionellen Handelns war zwar die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen in ihren Auswirkungen auf die individuellen Problemlagen mitgedacht, die professionellen Möglichkeiten der Beförderung einer „Autonomie der Lebenspraxis“ jedoch nicht. (vgl. Salomon2004/1933, S. 300 f.; vgl. auch Sünker2003)
An diese anfänglichen theoretischen und methodischen Auseinandersetzungen auf der Grundlage der vorhandenen amerikanischen Fachliteratur schloss sich eine Darstellung der zentralen Forschungsergebnisse von Karpf an. Seine Ideen zur „Intellektualisierung des Hilfeprozesses“ beruhten auf der systematischen Auswertung der Aussagen und Beurteilungen von SozialarbeiterInnen zu mehr als 100 Fürsorgefällen, die in Fürsorgeakten dokumentiert und teilweise auch zu Lehrzwecken eingesetzt wurden. (Karpf1931, S. 133 f.; Salomon2004/1933, S. 543) Diese 18.000 Aussagen, Urteile und Meinungen nutzte Karpf im Rahmen einer statistischen Auswertung,Footnote 5 um aufzuzeigen, wie Professionelle die Persönlichkeit und das Verhalten der AdressatInnen Sozialer Arbeit beurteilen und beeinflussen. Karpf konnte mit seiner Analyse zeigen, dass die Urteile der Professionellen mehrheitlich nicht durch objektiveFootnote 6 Begründungen gestützt wurden, sondern eher auf der Grundlage von individuellen Eindrücken entstanden. Seine Forschungsergebnisse boten Grundlage für eine umfassende Kritik an dem bis dahin vorherrschenden Ausbildungssystem der US-amerikanischen sozialen Schulen. Er forderte deutliche Veränderungen in der Ausbildung der SozialarbeiterInnen ein. Durch die Implementierung von „exakte[n], naturwissenschaftliche[n] Methode[n] des Erkennens“ (Salomon2004/1933, S. 543) sollten die SozialarbeiterInnen befähigt werden „soziale Zustände und soziale Beziehungen“ zu messen, überprüfbar zu beurteilen und zu bearbeiten (Salomon2004/1933, S. 544). Dabei sollte eine „Skala“ von Standardisierungen (Grundbegriffe, einheitliche Kategorien, Begründungen und Normierungen der Verhaltens- und Handlungsweisen der Adressatinnen) sozialarbeiterisches Handeln rahmen (Karpf1931, S. 182 f.; Salomon2004/1933, S. 544).Footnote 7
Der hier entwickelten, zweifachen Logik als Grundlage für professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit – der standardisierten Deskription der Lebens- und Problemlagen wie auch deren normative Beurteilung und Beeinflussung der Adressatinnen – konnte Alice Salomon jedoch nur bedingt folgen. Sie hält zwar zum einen fest, dass nur „D[d]as Suchen nach wissenschaftlicher Erkenntnis, die der Praxis dienen kann, den Berufsarbeiter vom Laien“ (Salomon2004/1933, S. 545) unterscheidet und verstärkt mit Bezugnahme auf den Simmelschen Begriff des wissenschaftlichen Erkennens ihre Auffassung von wissenschaftlicher Sozialer Arbeit: „[d]Denn das wissenschaftliche Erkennen bietet sich nicht nur, in der Technik, der Verwirklichung äußerer Willensziele dar, sondern auch, von der anderen Seite her, setzt sich an die praktischen Zuständlichkeiten, innere wie äußere, das Bedürfnis theoretischer Einsicht an; manchmal tauchen neue Richtungen des Denkens auf, mit deren rein abstraktem Charakter dennoch nur die Interessen eines neuen Fühlens und Wollens sich in die Fragestellungen und Formen der Intellektualität hineinstrecken.“ (Simmel1992, S. 13) Zum anderen arbeitete sie aber auch durch ihre Rezeption von Karpfs Vorstellungen zu einer wissenschaftlichen Grundlegung Sozialer Arbeit heraus, dass in der Wissenschaft nicht nur die Entwicklung von Grundbegriffen und Methoden im Mittelpunkt der theoretischen Auseinandersetzungen stehen sollte, sondern auch professionelles Handeln, welches individuelle Handlungsressourcen und -alternativen wahrnimmt und befördert. Dementsprechend sollte nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis Gegenstand sozialarbeiterischer Handlungen sein, sondern auch deren Reflexion, um die sozialen Lebens- und individuellen Problemlagen deuten und relativieren zu können (vgl. Dewe und Otto1996). „Überhaupt, so anregend und fruchtbar die Erhebungen und Forderungen von Karpf sind: ihre letzten geistigen Grundlagen sind für uns unannehmbar. Der Mensch ist eben nicht nur ein rationales Wesen, nicht nur durch logische Erwägungen zu begreifen, nicht in meßbare Wahrnehmungen aufzulösen. Und jeder Mensch ist etwas Einmaliges, niemals einem Anderen gleich, niemals durch allgemeine Begriffe ganz zu erfassen. Um Menschen zu verstehen, um ihnen zu helfen, um sie zu beeinflussen, dazu bedarf es – trotz Karpf – einer bestimmten Begabung. Soziale Arbeit ist nicht nur Wissenschaft, kann nicht nur mit den Kräften des Bewußtseins vollzogen werden. Sie ist auch Kunst. Und jeder Künstler muß das Beste – die unbewußte künstlerische Schau – selbst in seinen Beruf hineintragen.“ (Salomon2004/1933, S. 545) Die von Alice Salomon eingeforderte enge Verflechtung der Handlungsstrategien – Erkennen, Handeln und Reflexion – sollte die Herausbildung einer wissenschaftlichen Haltung bei den SozialarbeiterInnen befördern. Im Mittelpunkt ihres Interesses stand die Analyse und sinnvolle Bündelung der strukturell unterschiedlichen Logiken und Interessen von Wissenschaft und Praxis.Footnote 8 Ihr Bestreben war es, eine eigenständige Auffassung von Wissenschaft in der Sozialen Arbeit zu entwickeln und in der Ausbildung zu vermitteln, die sie – in Anlehnung an die amerikanische und französische Diskussion – mit „Kunst“ bezeichnete (vgl. Salomon1929/1958, S. 243).Footnote 9 „Die soziale Arbeit ist nicht nur auf Erkennen, sondern auf Handeln gerichtet. Sie soll Änderungen herbeiführen, für einzelne Menschen, ganze Gruppen und Völker, für die Menschheit. Sie soll die äußeren Umstände gestalten helfen, in denen die Menschen leben und die innere Entwicklung des Menschen beeinflussen. Sie beruht daher nicht auf Wissenschaft, sondern auf Kunst [….] Die soziale Arbeit braucht weiterhin eben eine auf das praktische Handeln bezügliche Theorie, und zwar auf ein Handeln, das sich um das Wohl des Menschen in seiner Totalität bemüht.“ (Salomon1929/1958, S. 243) Die Grundfigur der wissenschaftlichen Erkenntnis, die hier im historischen Rekurs deutlich zu Tage tritt, wurde durch die Annahme bestimmt, dass die Adressanten Sozialer Arbeit so „beeinflusst“ werden können, dass sie ihre Handlungsweisen verändern (Salomon 2004/1933, S. 544). Dementsprechend war für Alice Salomon die entscheidende Folie für eine wissenschaftliche Grundlegung der Sozialen Arbeit die Analyse der professionell zu fördernden Unterstützungs-, Hilfs- und Bildungsmöglichkeiten wie auch der objektiv bestimmbaren gesellschaftlichen Bedingungen, da diese die prekären Lebens- und Problemlagen erst verursachen. Damit thematisierte ihre Auseinandersetzung um die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit zwar nicht die gesellschaftlichen Dimensionen von den Möglichkeiten einer „Autonomie der Lebenspraxis aller“ (vgl. Sünker2003). Aber diese doppelte Perspektive einer wissenschaftlich begründeten Sozialen Arbeit – Beförderung von professionell zu initiierenden Bildungsprozessen, um die sozialen Lebens- und individuellen Problemlagen der Adressatinnen zu analysieren, zu begleiten und gesellschaftliche Veränderungen einzuleiten – führte dazu, dass die Eigenlogik von Praxiswissen als Wissensform und als Orientierungsmuster mit der Analyse von Handlungsformen und -interessen verwoben werden konnte: „D[d]enn bei der sozialen Arbeit handelt es sich […] um eine dem praktischen Leben zugewendete, unter eigenem Gesetz stehende Aufgabe.“ (Salomon1929/1958, S. 245) Gegenstand von Sozialer Arbeit sollten folglich die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen für professionelles Handeln und damit einhergehend das Problem des Verhältnisses und der wechselseitigen Bedingtheit von Professionellen und AdressatInnen sein. Soziale Arbeit sollte Veränderungen, Entwicklungen und die Aktivierung individueller und gemeinschaftlicher Ressourcen ermöglichen, um ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse überwinden zu können. Diese unmittelbare Verknüpfung des Erkennens mit der Analyse von Handlungsstrukturen als Wissensgrundlage wurde mit dem Nachdenken und der Reflexion über gesellschaftliche Voraussetzungen von professioneller Sozialer Arbeit und den Möglichkeiten von Reformen verbunden. (vgl. Mollenhauer1959, S. 132)
2 Verortung im Wissenschaftssystem
Die von Alice Salomon in spannungsvoller Weise herausgearbeitete Eigenlogik von Handlungswissen als Wissensform und als Orientierungsmuster für professionelles Handeln führt zur Frage nach der Verortung einer Wissenschaft von Sozialer Arbeit innerhalb des Wissenschaftssystems. Ihr theoretisches Interesse daran, in welcher Weise sozialarbeiterische Praxis an der Analyse, Klärung und Bewältigung von Lebensgestaltungs- und Lebensbewältigungsaufgaben beteiligt sein kann, verband sie mit der Bestimmung der Struktur und den Aufgaben Sozialer Arbeit. Aus dieser engen Verflechtung von praxisbezogenen und professionswissenschaftlichen Analysen ergaben sich fachpolitische Auseinandersetzungen. Dabei wurden die Möglichkeiten einer allgemeinen universitären Disziplin „Soziale Arbeit“ ebenso diskutiert wie die von ihr forcierte Teilung der Ausbildung in praktische und wissenschaftliche Tätigkeiten. (vgl. Salomon1927, S. 172 ff.)
Erkenntnisleitend waren für Alice Salomon die Auseinandersetzungen mit den international geführten Diskursen und den innerdeutschen gesellschaftspolitischen Debatten in ihren Auswirkungen auf die Bereiche der Bildung und Ausbildung Sozialer Arbeit. Durch die Begründung der ersten nicht konfessionellen sozialen Frauenschule (1908) in Berlin und der ersten „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ (1925) hat sie ihre Auffassung von Wissenschaftlichkeit Sozialer Arbeit institutionell gerahmt und konnte dadurch die Organisationsentwicklung und Institutionalisierung Sozialer Arbeit über Jahrzehnte maßgeblich beeinflussen: „Aus den Aufgaben der Frauenakademie ergibt sich ihre besondere Zweckbestimmung, ihre besondere Wesensart. Sie hat besondere Unterrichtsziele und -methoden. Ihr eigentümliches Merkmal liegt darin, daß sie nicht, wie die Universitäten, alle Wissenschaften umfaßt, sondern nur einen Ausschnitt: die Wissenschaften, die sich auf den Menschen beziehen, auf sein leiblich-seelisches Schicksal, auf die wirtschaftlich-sozialen und seelisch-kulturellen Lebensgemeinschaften, in denen die Menschen stehen; auf pflegerische, bildnerische Arbeit. Und diese Wissenschaften sollen nicht isoliert nebeneinander behandelt werden, sondern jede einzelne soll, in eine neue Betrachtungsweise gestellt, auf die Totalität des Menschen bezogen werden. Sie richtet den im strengen Sinne wissenschaftlichen Gesichtspunkt auf die praktischen Aufgaben der sozialen Arbeit aus. Sie versucht, Forschungsanstalt zu werden, ohne die Ausschließlichkeit eines nur wissenschaftlichen Betriebes. Das Lehrziel der Studierenden ist nicht ein besonderes Fach, sondern das Verständnis für die Menschen für die Einzigartigkeit und Einmaligkeit und Unteilbarkeit jeder besonderen, auf Menschen bezogenen Aufgaben. Also nicht weniger als Wissenschaft, sondern noch etwas anderes neben der Wissenschaft muß getrieben und gelehrt werden. Die Methode darf nicht auf die reine Erkenntnis oder ihre Übermittlung, sie muß auch auf deren Anwendung abzielen. Nicht das gleiche Maß an Kenntnissen, nicht die gleiche Beherrschung der wissenschaftlichen Methoden wie die Universitäten soll sie geben – aber eine wissenschaftliche Gesinnung, eine geistige Beweglichkeit, die Fähigkeit zu selbständigem Urteilen im Hinblick auf weitreichende praktische Aufgaben. Sie soll Hunger nach Wissen und Erkenntnissen erregen, Verständnis für die Bedeutung, die Wissen und Erkenntnis für die Gestaltung des Lebens, für die Bewältigung praktischer Aufgaben haben und die Ehrfurcht vor der Schwierigkeit des Erkennens.“ (Salomon1929/1958, S. 245, 246) Dieser hier beschriebene und von Alice Salomon forcierte Sonderweg in der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung Sozialer Arbeit setzte Markierungen in der Organisations- und Institutionsentwicklung und führte zur Etablierung, dem Vergleich und der Weiterentwicklung von Ausbildungsstandards auch in internationalen Kontexten (vgl. Salomon1937), wie beispielsweise an der von ihr mit initiierten Etablierung einer nationalen Konferenz der Sozialen Schulen (1917) und des Internationalen Komitees der Sozialen Schulen (1929) deutlich wird. Sie initiierte den Austausch von Studierenden und Dozenten auf internationaler Ebene und konnte dadurch die Ausformung der Profession Soziale Arbeit maßgeblich prägen. Die von ihr mit eingeleitete sozialwissenschaftliche Erforschung der Lebenswirklichkeit von Familien (vgl. Salomon und Baum1930), Kindern und Jugendlichen führte zu Forderungen nach der professionellen Aneignung, Weiterentwicklung und Reflexion von Wissen über die Lebens- und Problemlagen der AdressatInnen Sozialer Arbeit. Sie konnte dadurch die strukturellen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen für Soziale Arbeit deutlich verändern, indem sie neben den institutionellen und organisatorischen Rahmungen auch eigene Lehrbücher entwickelte und eine eigene (Frauen-)Forschungsabteilung etablierte.
Aus der Kritik an einer institutionen- und interaktionsorientierten Verengung der Sozialen Arbeit durch die zunehmenden bürokratischen Überformungen in den Behörden, entstanden ihre Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Grundlegung professioneller Sozialer Arbeit. Die Frage nach den Bedingungen von Veränderungsprozessen führte sie zu der Analyse der politisch-ökonomischen Verhältnisse und deren Wirkungen auf die Lebens- und Problemlagen der AdressatInnen. Als Akteurin der internationalen Frauenbewegung entwickelte sie eine Vorstellung von Professionalität in der Sozialen Arbeit, die auf der Grundlage von Erkenntnis, Handeln und Reflexion politische Produktivität entfalten sollte, um internationale Vereinbarungen über Unterstützungs- und Hilfsberechtigungen einzuleiten. (vgl. Salomon1928/2004) Ihr Ziel war es, die Aufmerksamkeit der Regierungen und öffentlichen Körperschaften auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung von Sozialer Arbeit zu lenken, um ein neues Gefühl der sozialen Verpflichtung aller gesellschaftlichen Klassen zu erzeugen und um eine neue Gesellschaftsordnung durchzusetzen (Salomon1929/1958, S. 186).
3 Zur Aktualität von Alice Salomons Schriften – Fazit
Die Auseinandersetzung mit Alice Salomons Vorstellungen zu den „Wissenschaftlichen Grundlagen sozialer Arbeit“ lenkt noch einmal den Blick auf den prozessualen, diskursiven und widersprüchlichen Charakter von professionellen Handlungspraxen in der Sozialen Arbeit. Sicherlich war ihre Lesart von wissenschaftlicher Erkenntnis und Reflexion der professionellen Handlungspraxen, als Grundlagen professioneller Sozialer Arbeit, von dem spezifischen Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts und ihrer unmittelbaren Einbindung in die Diskussionszusammenhänge der internationalen Frauenbewegung geprägt. Jedoch konnte erst durch ihre Eingebundenheit in die transnationalen Netzwerke der Frauenbewegung ein Beziehungsgeflecht zwischen führenden Sozialreformerinnen, wie beispielsweise zu Jane Addams, entstehen, welches die öffentliche Artikulation von sozialen Reformen durch transnationale Stiftungen und „non gouvernementalen“ Organisationen möglich machte. Die enge Verwobenheit von Frauenforschung und Frauenpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts beförderte neue – für die Soziale Arbeit relevante – Wissens- und Erkenntnisweisen über theoretische Bedingungen und gesellschaftliche Strukturen: „Since the point of knowledge was to promote concrete and positive social change, not to describe some abstract ideal without immediate consequences, knowledge had to be as accurate as possible. Gaining a thorough and accurate understanding of issues and conditions necessitated attention to matters of power, distance, and difference.“ (Strobel2002, S. 57)
Die Kritik an den wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen machte die Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sichtbar und führte in deren Folge zur Thematisierung der gesellschaftlichen Zustände und Lebenslagen marginalisierter Individuen und sozialer Gruppen in sozialpolitischen Kontexten. Die von Alice Salomon mitinitiierten transnationalen Diskurse ermöglichten die Transformation von Wissen und konnten ein umfassenderes Verständnis von Sozialer Arbeit erzeugen, welches nicht nur das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft betrachtete und hier nach Lösungsmöglichkeit für soziale Probleme suchte, sondern auch die gesellschaftlichen und (welt-)politischen Bedingungen in die Analyse mit einbezog.
Die Analyse der theoretischen und gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen von Sozialer Arbeit zeigte ihr, dass Soziale Arbeit immer auch eine angewandte Profession und eine wissenschaftliche Disziplin ist, die ihre eigenen wissenschaftlichen Fragestellungen, Analysen und Theorien entwickeln sollte. Infolgedessen kann festgehalten werden, das Soziale Arbeit aufgrund ihrer gesellschaftlich-politischen Einbettung nicht abgeschlossen ist, sondern im Kontext ihrer Konstitutionsbedingungen immer wieder neu aufgeschlossen und in ihren analytischen wie praktischen und politischen Konsequenzen reflektiert werden muss. (vgl. Sünker2003)
Notes
Reformen in den Bereichen der Bildung, dem Rechtswesen und der Politik sollten die gesellschaftliche Gleichheit der Geschlechter durchsetzen. Alice Salomons Idee der Gleichheit beruhte auf der Vorstellung von einer natürlichen Überlegenheit der Frau im „Kulturleben“, die jedoch nicht zu einem Anspruch auf Herrschaft führen sollte: „Aber der Frauenfrage letzter Sinn liegt darin, daß die besonderen weiblichen Kräfte im gesamten Kulturleben immer stärker und einflußreicher zum Ausdruck gelangen sollen.“ (Salomon1929/1958, S. 248 vgl. zur Diskussion Braches-Chyrek2012).
Vgl. Salomon2004/1933, S. 544. Karpf beschreibt ausführlich seine Vorstellungen von sozialarbeiterischer Intervention. In „Methods of Control“ (Kap. 10) geht er davon aus, dass erfolgreiche SozialarbeiterInnen sich genaues Wissen über die sozialen Lebens- und individuellen Problemlagen der AdressatInnen Sozialer Arbeit aneignen und gleichzeitig über methodisches Wissen verfügen müssen, um individuelle Handlungsressourcen und -alternativen wahrnehmen und befördern zu können (1931, S. 258 f.).
Die Aussagen der Professionellen über das Temperament, den Willen, den Charakter und die Intelligenz der AdressatInnen Sozialer Arbeit waren von Emotionen und Vorurteilen geprägt, wie die Verwendung der Adjektive „hopeful, despondent, happy, unhappy, delighted, enthusiastic, hysterical“ usw. zeigte (Karpf1931, S. 139, 182 f.). Karpf forderte die Entwicklung von Persönlichkeits- und Intelligenztest ein, die von Alice Salomon jedoch vehement abgelehnt wurden (Salomon2004/1933, S. 543).
Vgl. Ilse Arlts Skala der menschlichen Bedürfnisse (2010).
Bourdieu unterscheidet drei Modi theoretischer Erkenntnis, die phänomenologische, die objektivistische und die praxeologische, letztere geht von den „dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen (aus), die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten; ist mit anderen Worten der doppelte Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität“ (Bourdieu1976, S. 147).
Alice Salomon bezieht sich hier auf den Begriff „Ars“ des französischen Soziologen René Worms und auf die Vorstellungen von Mary Richmond, die sie in ihrer Lesart der „social diagnosis“ im Kontext einer Theorie des Helfens in den Kapiteln „Die Kunst, zu leben“ und „Die Kunst, zu helfen“ beschreibt (Salomon1926/2004, S. 300 f.).
Literatur
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Der hier besprochene Text von Alice Salomon ist abgedruckt in: Salomon, A. (2004/1933). Die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit, in: Feustel, A. (Hrsg.),Frauenemanzipation und soziale Verantwortung. Ausgewählte Schriften. (3. Band: 1918–1948) (S. 539–545). Neuwied: Luchterhand.
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Braches-Chyrek, R. Alice Salomon: Die wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Arbeit. Soz Passagen 4, 109–117 (2012). https://doi.org/10.1007/s12592-012-0101-7
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