Schalck-Golodkowski: Wie der Devisenbeschaffer der DDR in den Westen floh

Schalck-Golodkowski: Wie der Devisenbeschaffer der DDR in den Westen floh

In einer Dezembernacht 1989 floh Alexander Schalck-Golodkowski nach West-Berlin. Erstmals hat der BND jetzt Akten über die spektakuläre Flucht freigegeben.

Alexander Schalck-Golodkowski während eines Gerichtstermins
Alexander Schalck-Golodkowski während eines Gerichtsterminsimago/Jürgen Eis

Berlin - Der 3. Dezember 1989 ist noch keine Stunde alt, da passiert ein dunkelblauer BMW mit Ost-Berliner Kennzeichen den Grenzübergang in der Invalidenstraße Richtung Westen. Am Steuer sitzt Alexander Schalck-Golodkowski, Stasi-Oberst und einer der mächtigsten und einflussreichsten Wirtschaftsfunktionäre der DDR. Auf dem Beifahrersitz hat seine Frau Sigrid Platz genommen. In dem für die Devisenbewirtschaftung zuständigen Außenhandelsbereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), der von ihrem Mann geleitet wird, ist sie für die Versorgung der Politbüromitglieder in der Siedlung Wandlitz zuständig. Zwei höchstrangige Geheimnisträger der DDR setzen sich in den Westen ab.

32 Jahre später hat der Bundesnachrichtendienst nun erstmals Unterlagen zur Flucht des Ehepaars Schalck freigegeben. Sie erlauben einen Einblick in das Agieren des Pullacher Geheimdienstes und des Bundeskanzleramtes in den Dezembertagen nach der Flucht. Sie vervollständigen ein Puzzle weiter – auch wenn Lücken bleiben.

Geschäfte mit Waffen, Briefmarken, Schmuck

Schalck, Jahrgang 1932, hatte es im DDR-Ministerium für Außenhandel bis zum Staatssekretär und zweifachen Träger des Karl-Marx-Ordens gebracht. Mit der Hilfe der Stasi und der persönlichen Rückendeckung von MfS-Chef Erich Mielke baute Schalck von 1966 an einen klandestinen Westhandelskonzern mit Milliardenumsatz auf – den Bereich „Kommerzielle Koordinierung“, bekannt als KoKo.

Bis zum Herbst 1989 dirigierte die KoKo rund 200 Firmen, die meisten davon im westlichen Ausland. Die KoKo-Unternehmen erwirtschafteten Devisen für den klammen SED-Staat, durchschnittlich mehr als eine Milliarde D-Mark jährlich. Erreicht wurde der Gewinn durch legalen Handel einerseits, andererseits durch Schmuggel- und Schiebergeschäfte mit Waffen, Antiquitäten, Briefmarken, Schmuck und Edelmetallen. Durch sein Geschick und seine Skrupellosigkeit beim Einfädeln von Geschäften wurde Schalck zum wichtigsten Devisenbeschaffer des SED-Staats.

Nebenbei gewann er das Vertrauen bundesdeutscher Spitzenpolitiker, die ihn in den 1980er-Jahren als zuverlässigen Unterhändler Honeckers schätzen lernten. Mit dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Franz Josef Strauß fädelte er 1983 und 1984 zwei politisch im Westen hoch umstrittene Milliardenkredite für die DDR ein.

Im Pullacher Hauptquartier des BND – das zeigen die jetzt freigegebenen Unterlagen – war man ab Ende 1981 ziemlich genau über die Rolle von Schalck und KoKo im Bilde. Zu verdanken hatte der Dienst das einem in jeder Hinsicht gewichtigen Überläufer aus der DDR, dem Geschäftsmann Günther Asbeck. Der wegen seiner Leibesfülle „der Dicke“ genannte Asbeck hatte in Ost-Berlin jahrzehntelang die Firma Asimex betrieben, die im Auftrag der KoKo im Westen mit Lebens- und Genussmitteln handelte. Nach seiner Flucht packte Asbeck, der über enge Kontakte im DDR-Apparat bis hinauf ins Politbüro verfügte, sein gesamtes Wissen über Behörden und Protagonisten des SED-Regimes beim BND aus. Von ihm erhielt Pullach eine Fülle von Details über Schalck, dessen Stasi-Anbindung und die KoKo. Sogar einen Grundriss der KoKo-Zentrale in der Wallstraße in Berlin-Mitte zeichnete Asbeck dem BND auf – mitsamt Skizze der Chefetage, in der selbst die Kameras und die Stellung der Möbel in Schalcks Büro eingezeichnet waren.

Der BND leitete die Erkenntnisse über Schalck, die KoKo sowie weitere wichtige Informationen aus den Gesprächen mit Asbeck an die Bundesregierung weiter. Aus den BND-Akten geht hervor, dass ab 19. November 1981 – zwei Wochen nach Beginn der Befragung des Überläufers – der damalige Chef des Bundeskanzleramtes, Staatssekretär Manfred Lahnstein (SPD), sowie wenig später auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) regelmäßig zusammenfassende Berichte „aus der besonderen Quelle“ erhielten. Ab Anfang 1982 übermittelte Pullach ausgewählte Erkenntnisse aus den Asbeck-Befragungen zudem an das Bundeswirtschaftsministerium sowie die Bundestagsfraktionschefs von SPD, CDU/CSU und FDP. Die politische Führung in Bonn war genau im Bilde, wer sich hinter den mit westdeutschen Konzernen eifrig Handel treibenden KoKo-Firmen verbarg und mit wem CSU-Chef Strauß ab 1983 in vertraulichen Runden zusammensaß, um den mit der Kohl-Regierung abgestimmten Milliardenkredit für die DDR auszuhandeln.

„Genosse, wir können nichts mehr für dich tun“

Dann kam jene Dezembernacht am ersten Adventswochenende 1989. Für Schalck war der Boden in der DDR zu heiß geworden, nachdem der Spiegel unter dem Titel „Fanatiker der Verschwiegenheit“ ein sorgfältig recherchiertes Dossier über ihn und die KoKo veröffentlicht hatte. Er wurde aus dem Zentralkomitee geworfen, die Stasi entpflichtete ihn, Mielke-Nachfolger Schwanitz rief den Oberst persönlich an: „Genosse Schalck, wir können nichts mehr für dich tun.“ Als der einst so mächtige Staatssekretär am späten Abend des 2. Dezember von seinem Freund, dem Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, auch noch erfuhr, dass bereits ein Haftbefehl für ihn ausgestellt sei, blieb ihm nur die Flucht nach Westberlin.

Dort kam das Ehepaar Schalck zunächst in der Privatwohnung einer Geschäftsfreundin unter. Mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und dem von ihm als Mittelsmann benannten Pfarrer Karl-Heinz Neukamm, Präsident des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche, kam der Flüchtling überein, sich in die Moabiter Justizvollzugsanstalt in Schutzhaft zu begeben, bis die Bundesregierung über den weiteren Umgang mit ihm entschieden hatte.

Als Alternative wäre Schalck nur geblieben, sich in die Hände der Alliierten zu begeben. Die hätten den KoKo-Chef gern unter ihre Fittiche genommen, wie der BND-Verbindungsbeamte in West-Berlin zu berichten wusste. In einem Telex an die Pullacher Zentrale vom 7. Dezember, vier Tage nach Schalcks Flucht, schrieb ein Beamter: „Die britische Militärregierung bemüht sich sehr um Sch. und hat ihre Rechtsberaterin … mit der Gesprächsführung beauftragt. Ebenso rief der französische VO (Verbindungsoffizier – d.A.) bei mir an ...“.

Die Behörden steckten in der Bredouille. Ohne eigenes Ermittlungsverfahren gegen Schalck hätten sie den Flüchtling nach dem Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen ausliefern müssen, nachdem die DDR ein Ersuchen gestellt hatte. Deshalb bat das West-Berliner Landesamt für Verfassungsschutz die Pullacher Zentrale darum, das ihnen bereits ein Jahr zuvor auf Anfrage bereitgestellte Material über Schalck und die KoKo schnellstmöglich freizugeben. 

Der BND wandte sich mit der Bitte um eine schnelle Entscheidung an das Kanzleramt. „Angesichts der politischen Brisanz wurde dem LfV (Landesamt für Verfassungsschutz – d.A.) die Freigabe zunächst verweigert und auf eine Grundsatzentscheidung der Bundesregierung verwiesen“, schrieb BND-Präsident Hans-Georg Wieck am 8. Dezember an Kanzleramtschef Rudolf Seiters. Doch Bonn zögerte. Offenbar fürchtete man dort, die heikle Phase der Annäherung an Ost-Berlin zu gefährden.

Der BND machte Druck, verwies auf die Gefährdung Schalcks. „In ‚Führungskreisen‘ des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besteht geradezu ‚panische Angst‘ davor, dass sich Schalck westlichen Stellen gegenüber eröffnen und Interna seiner langjährigen Tätigkeit … preisgeben könne“, gab BND-Präsident Wieck in einem Fernschreiben vom 15. Dezember an das Bundeskanzleramt die Meldung einer „sehr zuverlässigen Quelle“ des Dienstes wieder. Weiter heißt es: „In den o. a. Führungskreisen ist bekannt, dass Schalck in schwerwiegende Korruptionsaffären verwickelt war, die auch ehemalige Spitzenfunktionäre der SED und des MfS miteinbezogen. … Die angesprochenen ‚Führungskreise‘ setzen alles daran, derartige Eröffnungen Schalcks zu verhindern. Sie geben vor, jederzeit über sein Verhalten in der Untersuchungshaft (Gefängnis Moabit) informiert zu sein. Ferner gehen sie davon aus, den Zeitpunkt seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft rechtzeitig zu erfahren und ggf. auch im Gefängnis einen ‚Anschlag auf Leib und Leben Schalcks‘ durchführen zu können.“

Detaillierte Angaben über Schalcks Privatleben

Das überzeugte Bonn offenbar. Noch am selben Tag erteilte Kanzleramtschef Seiters die Zustimmung zur Freigabe der BND-Erkenntnisse über die KoKo „in quellenbereinigter Form“ an die Berliner Staatsanwaltschaft. Der Geheimdienst übermittelte der Justiz einen auf den Aussagen dreier ostdeutscher BND-Quellen basierenden zwölfseitigen Bericht. Er beinhaltete in einem zweiseitigen Anhang auch detaillierte Angaben über die Persönlichkeit und das Privatleben Schalcks.

Von besonderem Interesse für die Strafverfolgungsbehörde dürften die in dem BND-Bericht enthaltenen Informationen über die Beteiligung der KoKo am Embargo- und Waffenhandel und die enge Verquickung des Bereichs mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst gewesen sein. Boten sich damit doch Ansatzpunkte für ein eigenes Ermittlungsverfahren, mit dem man die Auslieferung des Überläufers an die DDR verhindern konnte.

Nun wollten aber auch die westlichen Alliierten die BND-Erkenntnisse erhalten. Eine Anfrage des Kanzleramtes beim BND beschied dessen Präsident Wieck jedoch ablehnend. „Von einer Weitergabe von BND-Erkenntnissen an alliierte Dienststellen rate ich ab“, schrieb er in am 21. Dezember ans Kanzleramt. „Ihr Interesse an Aktivitäten im Bereich des illegalen Technologietransfers ist sehr groß.“ Ein deutlicher Wink des gelernten Diplomaten Wieck, den man auch in Bonn verstand: Sollten die Verbündeten und insbesondere die USA erst einmal tiefer graben beim Embargoschmuggel der KoKo, würden sie schnell auf westdeutsche Konzerne stoßen, die verwickelt waren. Daran aber hatte auch die Bundesregierung kein Interesse.

Am 20. Dezember 1989 vernahm das Bundeskriminalamt den Überläufer. Bei der Gelegenheit sagte Schalcks Rechtsanwalt Danckert, dass sein Mandant sich durch die DDR-Dienste gefährdet sehe, deswegen wolle er in die Bundesrepublik kommen. „Der Verteidiger fragt, ob der BND die Sicherung der Reise und des weiteren Aufenthaltes SCH.G’s übernehmen könnte.“ Foertsch bittet um eine Entscheidung und gibt zu bedenken: „Es ist nicht abzusehen, ob SCH. dem BND wesentliche Informationen im Sinne eines Auftrages bringt und ob dann dessen Nutzung politisch gewollt wäre. … Welche politischen Folgen aus dem Aufenthalt SCH. in der Bundesrepublik entstehen, ist gleichfalls von hier aus nicht zu übersehen.“

Welche Entscheidung Bonn und Pullach trafen, ist bekannt: Der BND brachte den Überläufer und seine Frau auf eine abgelegene Almhütte in den Alpen. In wochenlangen Befragungen ließ sich Pullach anschließend von Schalck die Defizite in der eigenen DDR-Aufklärung ausgleichen.

Die freigegebenen BND-Akten lassen wichtige Fragen unbeantwortet: Was hat der Schalck ausgesagt? Welche Türen öffnete er den Pullacher Geheimdienstlern in Ost-Berlin? Unklar ist auch, ob Schalck bei seinem Wechsel in den Westen belastendes Material gegen westdeutsche Politiker mit sich führte. Und was hatte es mit den braunen DIN-A4-Umschlägen auf sich, die eine Freundin der Familie wenige Tage nach der Flucht 1989 aus einem Bankfach des KoKo-Chefs in der verschwiegenen Otto-Scheuermann-Bank in Westberlin holte? Befanden sich darin vielleicht Teile von Schalcks Briefmarken- und Münzsammlung? In einem internen BND-Bericht wurde der Sammlung „erheblicher Wert“ bescheinigt.

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