Zeit ihres Lebens suchte sie nach dem Bösen in seiner reinsten Form, wollte wissen und erfahren, wie es ausschaut und wie es das Wesen des Menschen verändert. Gitta Sereny war die große Seelenforscherin des 20. Jahrhunderts, weil sie dieses Jahrhundert in seiner ganzen Niedertracht mit den Hekatomben von Toten erlebt und erfahren hatte.
Dabei war Gitta Sereny, die am 13. März 1921 in Wien als Tochter eines ungarischen Adligen und einer Deutschen geboren wurde, keine Psychologin, ja, sie war nicht einmal Historikerin. Gitta Sereny war eine Journalistin. Und die Geschichten, die sich ihr aufdrängten, die schrieb das Leben.
Auf dem Weg von Wien zurück ins englische Internat hatte Sereny 1934 in Nürnberg eher zufällig einen Parteitag der NSDAP in Nürnberg erlebt und gespürt, welche Zauberkraft nationalsozialistischen Inszenierungen inne wohnte. Diese Erfahrung hat Sereny niemals losgelassen, ohne sie in eine Anhängerin des Nazi-Regimes zu verwandeln. Vielmehr wurzelte in dem Erlebnis ihr Drang, der Faszination des Bösen nachzuspüren. Gitta Sereny tat es auf eine damals revolutionäre Weise.
Sie begann mit einer Kindsmörderin
Sereny, die während des Krieges britische Staatsbürgerin geworden war, suchte das Gespräch mit den Tätern und befragte sie mit inquisitorischer Genauigkeit, ohne deren Taten und Verbrechen zu bewerten. Schon ihr erstes Buch "The Case of Mary Bell" von 1972 ("Schreie, die keiner hört. Die Lebensgeschichte der Mary Bell") machte sie mit dieser Methode in England bekannt.
Sereny hatte die elfjährige Mary Bell, die gemeinsam mit einer Freundin zwei Jungen erwürgt hatte und wegen zweifachen Mordes verurteilt wurde, über Jahre beobachtet und ihre Motive untersucht, ohne von dem "Monster" zu sprechen, wie es ihre journalistischen Kollegen getan hatten. Das Buch löste in Großbritannien heftige Debatten aus. Man warf Sereny vor, mit Sympathie auf Bell geschaut zu haben.
Der Anwurf sollte Sereny, die für den "Daily Telegraph" und die "Sunday Times" arbeitete, fortan begleiten. Er steigerte sich zu harschen Attacken, als sich die Journalistin den eigentlichen Objekten ihres Interesses zuwandte: den Nazitätern. Insgesamt sechzig Stunden befragte Gitta Sereny den ehemaligen KZ-Kommandanten von Treblikna und Sobibor, Franz Stangl, der nur achtzehn Stunden nach Ende der Gespräche einem Herzinfarkt erlag.
Wann begann das moralische Versagen?
Höhepunkt ihrer Forschung war ihre Studie über Hitlers Reichsrüstungsminister, Albert Speer, den sie über Jahre hinweg immer wieder traf, um herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt genau sich das moralische Versagen in diesem durch und durch bürgerlichen Charakter Bahn brach.
Bis heute kommt kein Historiker an Serenys Speer-Biografie vorbei, die sie 1995 in Deutschland veröffentlichte. Später gestand Sereny, dass sie am Ende der ersten drei mit Speer verbrachten Wochen ganz und gar an ihn geglaubt hätte. "Ich liebte dieses Schuldgefühl in ihm", erklärte sie Jahre nach ihrer Veröffentlichung.
Gern hätte man noch mehr über die Triebfedern erfahren, die sie veranlassten, das Bösen mit einem ganz sonderbaren Zutrauen zu analysieren. Sicher hätte ihre Autobiografie, an der Sereny die letzten Jahre schrieb, Auskunft gegeben. Leider ist Gitta Sereny vor Abschluss ihrer Niederschrift nun in Cambridge mit 91 Jahren gestorben.