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Zeigen und zeigen lassen

An der ETH Zürich wird Architektur nicht bloss gelehrt, sondern auch archiviert und ausgestellt. Ein Spannungsfeld zwischen historischem Erbe und zeitgenössischer Kunst.

Fotos: Florian Spring

An der ETH Zürich wird Architektur nicht bloss gelehrt, sondern auch archiviert und ausgestellt. Ein Spannungsfeld zwischen historischem Erbe und zeitgenössischer Kunst.

‹I Broke the House!› heisst eine Ausstellung auf dem ETH-Campus Hönggerberg. Beim Eingang sind kopierte, mit dickem Stift beschriebene Seiten eines ‹Artist Book› auf die Wand tapeziert. In der Vitrine daneben eine andere Welt. Hinter Glas liegen fein säuberlich gestaltete Zeichnungen, Vorlesungsnotizen ehemaliger ETH-Studenten und -Studentinnen aus 150 Jahren. Besser könnte man die Zeitenwende am Architekturdepartement der ETH nicht darstellen. Der Begriff von Architektur und Lehre erweitert sich dort mehr und mehr: vom Nationalen zum Internationalen, von der Wissensvermittlung zur Konzeptproduktion, von der autonomen Architektur hin zu gesellschaftspolitischen Themen. Natürlich werden an der ETH noch ganz klassisch Häuser gezeichnet. Doch das, so scheint es, gerät mehr und mehr zur Ausnahme – wie die kleine Vitrine mit Skizzenbüchern.

‹Periscope› heisst das Möbel an der Wand. Mit dem orangefarbenen Plastik und dem Glas ist die Vitrine selbst ein Ausstellungsstück. Gestaltet von Esther und Rudolf Guyer, war sie Teil einer Gewerbeschule der 1970er-Jahre, nun dient sie dem ‹gta Archiv›, der Sammlung des ETH-Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur, als Mikro-Ausstellungsraum. Wie ein umgekehrtes Periskop gewährt sie Einblick in eine wahre Schatzkammer der Schweizer Architekturgeschichte. Eine Schatzkammer ohne Ausstellungsmöglichkeit – ausser der Vitrine. Die Ausstellungsräume daneben gehören zwar auch dem Institut, allerdings einem anderen Bereich, den ‹gta Ausstellungen›: ein schöner grosser Eckraum, prominent im sogenannten HIL-Gebäude auf dem Hönggerberg gelegen, und das Foyer davor. Die Ausstellungen in den beiden Räumen handeln von Architektur, häufiger aber von Kunst.

Diesen Widerspruch – historischer Schatz im Keller, zeitgenössische Kunst im Schaufenster – nehmen wir zum Anlass eines Besuchs am Architekturinstitut. Wir treffen: Fredi Fischli und Niels Olsen, die vor zehn Jahren die Leitung der ‹gta Ausstellungen› übernommen haben, und Irina Davidovici, die seit zwei Jahren das ‹gta Archiv› leitet. Sie sind die Köpfe zweier Bereiche des ETH-Departements Architektur, das schon immer dafür bekannt war, aus verschiedenen Königreichen zu bestehen. Königreiche, die untereinander wenig kommunizieren und noch weniger zusammenarbeiten. Königreiche, die auch schon Richtungsstreite führten – man denke an denjenigen zwischen Werner Oechslin und Kurt W. Forster in den 1990er-Jahren. Laurent Stalder, damals Oechslins Oberassistent, und Philip Ursprung, Forsters Obersassistent, führen heute je eine gta-Professur. Führen sie auch den Streit weiter?


Vorlesungsnotizen aus 150 Jahren in der ‹Periscope›-Vitrine.

Irina Davidovici leitet seit 2022 das gta Archiv. Hier mit einem Modell von Burkhalter Sumi.

Eine der Türen zu den 50 verschiedenen Lagerräumen des gta Archivs.


Das Archiv am Ende des Periskops
Ein fensterloser Raum voller Stahlschränke. Mit leuchtenden Augen öffnet Irina Davidovici eine der blauen Mappen darin, holt einen Linolschnitt des Bauhaus-Funktionalisten Hannes Meyer heraus, eine abstrakte Schönheit aus den tiefen Schubladen der Baugeschichte. Die noch recht frische Leiterin des gta-Archivs musste ein wenig suchen. Der langjährige Mitarbeiter Daniel Weiss, ihr heutiger Stellvertreter, findet alles mit einem Griff. Neun Leute mit etwa sechs Vollzeitstellen kümmern sich um die rund 350 Nachlässe bedeutender Architekten, Planer, Landschaftsarchitektinnen. Planmappen, Modelle und Bücher verteilen sich auf 50 Räume, die meisten davon in den Kellern des Campus Hönggerberg. Ein digitaler Zugang zum Archiv ist in Arbeit, doch noch muss man wissen, wo suchen, wenn Forscherinnen mit ihren Wünschen kommen. Überhaupt: Die neue Leiterin sieht eine ihrer Hauptaufgaben darin, die Sammlung besser zugänglich zu machen und in die Lehre einzubinden. Sichtbarer machen, als es ein Periskop vermag. Auftauchen lassen. «Wir haben eine Sammlung auf Weltniveau, die als Institutssammlung wahrgenommen wird.» Manche Architekturprofessoren wissen noch nicht, dass sie dem gta ihren Vor- oder Nachlass übergeben können. Und viele Studierende haben noch nie vom Archiv gehört. Auf dem Weg zur Adresse ‹HIL C 64/65› gingen viele verloren, sagt die studierte Architektin mit britischem Humor.
 

Irina Davidovici vor dem Nachlass des Architekten Justus Dahinden.

Ihre Doktorarbeit schrieb sie in Cambridge – über die Deutschschweizer Architektur der 1980er- und 1990er-Jahre –, ihre Habilitation dann in Zürich, über die Anfänge des gemeinnützigen Wohnungsbaus in Europa. Eine Architektin, sie selbst forscht, publiziert und lehrt, ist eher ungewöhnlich als Besetzung einer Archivleitung. «Ich bin keine Archivarin, aber ich kann etwas anderes geben», sagt sie. Zum Beispiel Sichtbarkeit. Zusammen mit einem Beirat aus internationalen Experten hat sie neue Leitlinien aufgestellt. Nachlässe von Frauen haben Vorrang, und auch soziale und räumliche Praktiken sollen Beachtung finden. Eine Buchreihe mit dem gta-Verlag und Veranstaltungen sollen mehr Brücken zur Praxis schlagen. Dazu passt, dass der BSA Irina Davidovici im vergangenen Jahr als assoziiertes Mitglied aufgenommen hat. Die bislang grösste Aufmerksamkeit bekam das Archiv über die ‹Public Triage›, eine vor allem von Daniel Weiss verantwortete öffentliche Inventarisierung: zwölf Paletten mit 150 Wettbewerben der Stadt Zürich von 1925 bis in die 1990er-Jahre wurden öffentlich gesichtet, gesäubert und aufgenommen. Es gab zahlreiche Führungen, und den Abschluss bildete eine Podiumsveranstaltung zum Architekturwettbewerb als Kulturerbe. All das fand im grossen Ausstellungsraum statt – was allerdings nur zwischen zwei Semestern möglich war, dann, wenn keine reguläre Ausstellung stattfindet.

Müssten ‹gta Archiv› und ‹gta Ausstellungen› stärker kooperieren? Irina Davidovici verneint: «Wir haben eine gute Zusammenarbeit.» Sie nennt das ‹Periscope›, die ‹Public Triage› und die Leihgaben des Archivs, die immer wieder ausgestellt werden. Mit dem Werk von Theo Hotz gab es im vergangenen Herbst sogar wieder einmal eine klassische Architekturausstellung, entstanden aus der Zusammenarbeit von Archiv, Ausstellung und Silke Langenbergs Denkmalpflegeprofessur. Bevor der Nachlass des Zürcher Architekten im Keller eingelagert wurde, zeigte man einen Teil davon der Öffentlichkeit. Allerdings: Die Perlen aus dem ‹gta Archiv›, die Pläne Gottfried Sempers oder Werner Mosers, dürfen in den Räumen ohnehin nicht hängen, weil sie die konservatorischen Bedingungen nicht erfüllen.

Kunst- oder Architekturausstellungen?
Als Niels Olsen und Fredi Fischli vor zehn Jahren die Ausstellungen des Instituts übernahmen, kamen sie frisch vom Studium der Kunstgeschichte. An ihrem Ausstellungsort ‹Studiolo› hatten sie ab 2012 Architektur und Kunst miteinander verbunden. Die ‹gta Ausstellungen›, die ihr Vorgänger Philipp Carrard fast drei Jahrzehnte lang geprägt hatte, krempelten sie in diesem Sinne um: Kaum noch klassische Architekturausstellungen, selten Pläne an der Wand oder Modelle auf dem Sockel. Stattdessen thematische Schauen, die sich aus dem Interesse und dem Netzwerk der jungen Kuratoren speisen. Den Kontakt zur lokalen Architekturszene hat das nicht gefördert. Dafür hat sich das Gespann international für eine spezifische Gattung von Ausstellung einen Namen gemacht, nennen wir sie Kunst-Architektur-Ausstellungen. Sie hiessen etwa  ‹Unschöne Museen› oder ‹Retail Apocalypse› und entstanden in verschiedenen Kooperationen. Ausnahmsweise wird es dabei auch mal lokaler, so stand etwa der gerettete SAFFA-Pavillon von Berta Rahm im Schauraum und diente ein Jahr lang als Ort einer wachsenden Ausstellung.
 

Fredi Fischli und Niels Olsen leiten seit 2014 die Abteilung ‹gta Ausstellungen›.

Das Büro der Kuratoren gleicht einer unaufgeräumten Wunderkammer: Überall stapeln sich Bücher, Papiere und Objekte. Es ist das Büro eines Teams, das viel auf Reisen ist. Fischli und Olsen übernehmen keine bestehende Schau, kuratieren alles selbst. Ihre Ausstellungen wandern dann an andere Hochschulen und Museen in Montreal, Mailand, Berlin oder Shanghai. Die Haupthalle des ETH-Hauptgebäudes, den prominentesten Ausstellungsort, bespielen sie inzwischen seltener. Mit den ETH-Professuren arbeiten sie stetig zusammen, zuletzt lehrten sie selber für ein Semester an der Harvard Graduate School of Design. Hinter all diesen Kooperationen stecken Lust, Tatendrang und Neugierde, das spürt man. Ihr Output ist erstaunlich: vier gut gestaltete Ausstellungen pro Jahr inklusive Katalog, der ab und zu zum ‹Schönsten Schweizer Buch› gekürt wird. Ihr Budget konnten sie vergrössern, wobei Stiftungen gegenüber Sponsorenfirmen an Bedeutung gewonnen haben. Das Team besteht mehrheitlich aus Studierenden, die recherchieren, kommunizieren, Ausstellungen auf- und abbauen. Ausserdem gibt es 80 Stellenprozente für Sekretariat, Produktion und Realisation.

Die Entwicklung an der Architekturabteilung hat den Kuratoren in die Hände gespielt: Die Professuren sind heute jünger, weiblicher und internationaler als noch vor zehn Jahren. Die Architekturlehre hat sich von einer als autonom verstandenen Disziplin weg- und zum gesellschaftspolitischen Diskurs hinbewegt. Es passiereviel, bestätigen die beiden. «Und wir sind offen, auch für schwierige Themen.» Was sie damit meinen, zeigt ein Blick auf ihre zwei aktuellen Ausstellungen. Darin geht es um kritische Auseinandersetzung mit rassistischer Politik und Kolonialismus – Diskurse, die Teile der Studierenden und des akademischen Mittelbaus heute einfordern. Konkret sind das eine Kunstausstellung – die anfangs geschilderte Schau über die US-Künstlerin Beverly Buchanan – und ein multimediales Ausbreiten von Forschungsergebnissen der gta-Gastprofessorin Samia Henni im Foyer. Das ist brisant und politisch aktuell. Dem Einwand, Architektinnen ausserhalb der Hochschule könnten damit kaum etwas anfangen, widersprechen die Kuratoren: «Mit unserem erweiterten Verständnis von Architektur öffnen wir das Feld der Disziplin und holen auch klassische Architekten ab.» Sie haben auf dem Hönggerberg Räume geschaffen, in denen die dominierenden Themen der Zeit verhandelt werden, das ist ihre Leistung. Academia und Praxis haben dort jedoch noch nicht zusammengefunden.
 

Zu ihren Ausstellungen produzieren Fredi Fischli und Niels Olsen auch die Kataloge.

Plakate zu aktuellen und vergangenen Ausstellungen.

Ausstellungsstücke auf dem Bürotisch.


Schäfchen in wichtiger Funktion
Was ist nun dran an der These bezüglich der gta-Königreiche? Die Verantwortung für die insgesamt vier Institutsbereiche ist den vier Professoren zugeordnet: Philip Ursprung hat die Ausstellungen unter sich, Tom Avermaete das Archiv, Laurent Stalder den ‹gta Verlag› und Maarten Delbeke ‹gta Digital›. Die Besetzung der Leitungsfunktionen scheint machtpolitisch begründet zu sein: Fischli und Olsen haben bei Philipp Ursprung studiert, Irina Davidovici war Tom Avermaetes Oberassistentin, und der Leiter des Verlags, Moritz Gleich, war Oberassistent von Laurent Stalder. Für jedes Schäfchen eine wichtige Position. Fragt man nach, versichern die Professoren: Es gebe keine Lager mehr. Man gehe kollegial bis freundschaftlich miteinander um, arbeite zusammen. Das 2012 von Stalder und Ursprung eingerichtete Doktoratsprogramm ist dafür zentral. Bei der Auswahl und Betreuung ihrer Forscherinnen finden alle Professuren zusammen. Daneben lebt sich jeder in der Lehre und in seinem gta-Bereich aus. Man lässt die anderen wohlwollend gewähren und spannt immer wieder zusammen, mit dem einen mehr, mit der anderen weniger. Leben und leben lassen. Das erlaubt unterschiedliche Haltungen und macht das Institut und das Departement diverser. Ein Pluspunkt.

Und doch: Eine grössere Schnittmenge wäre wünschenswert. Dann könnten mehr Projekte entstehen wie die Beton-Ausstellung der ehemaligen gta-Doktorandin Sarah Nichols. Im Jahr 2021 zeigte sie wunderbares Material aus dem Archiv-Keller und warf auch, eher scheu, einen kritischen Blick auf das heutige Geschehen. Allerdings fand die Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel statt.
 

Das Büro der ‹gta Ausstellungen› auf dem Campus Hönggerberg gleicht einer unaufgeräumten Wunderkammer.

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