Wolfgang Streeck zu Ukraine-Krieg: Nibelungentreue und ihre Gefahren
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Wolfgang Streeck zu Ukraine-Krieg: Nibelungentreue und ihre Gefahren

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Ukrainische Soldaten und ein von Deutschland gelieferter Leopard-2-Panzer in der Oblast Donezk im Osten der Ukraine.
Ukrainische Soldaten und ein von Deutschland gelieferter Leopard-2-Panzer in der Oblast Donezk im Osten der Ukraine. © IMAGO/Funke Foto Services

Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ und die Notwendigkeit einer neuen deutschen Sicherheitspolitik. Von Wolfgang Streeck.

In ihrer Rede auf dem Europaparteitag ihrer Partei forderte Sahra Wagenknecht die Bundesregierung auf, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und das Öl- und Gasembargo gegen Russland zu beenden. Soweit die deutschen Medien darüber berichteten, reichten ihre „Einordnungen“ von naivem Pazifismus zu hochverräterischem Putinismus. Dabei könnten und müssten Wagenknechts Vorschläge Anlass zu einer längst fälligen Debatte über das nationale Interesse Deutschlands unter den Bedingungen des Zusammenbruchs der US-beherrschten Neuen Weltordnung nach 1990 sein, die von den etablierten Parteien und ihrer Öffentlichkeit hartnäckig verweigert wird.

Diese Weigerung hat Tradition. Mit Ausnahme der Ära Brandt galt es in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte als unbestreitbar, dass es außerhalb der von den USA formulierten Gesamtinteressen eines geeinten „Westens“ ein speziell deutsches Interesse nicht geben könne und dürfe, und schon gar nicht im Bereich der nationalen Sicherheit. Wer das anders sah, wie etwa Egon Bahr, aber auch Genscher, geriet in den Verdacht eines neuen deutschen Nationalismus, geäußert von den Vereinigten Staaten als Mittel zur Wahrung der Bündnisdisziplin.

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Dies gilt bis heute, drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges, in denen kein Tag verging, an dem die USA nicht irgendwo in der Welt Krieg geführt hätten, und ungeachtet der Katastrophe der amerikanischen Weltordnungs- bzw. Weltbeherrschungspolitik im Irak, in Afghanistan, in Syrien und Libyen und zurzeit in Palästina – Beispiele einer munter-fahrlässigen Interventionspolitik, die nichts hinterlässt als Chaos. Wagenknechts Aufforderung, im deutschen Interesse aus der amerikanisch bestimmten Ukraine-Strategie auszubrechen und das Verhältnis zu den USA, und damit auch zu Russland, grundlegend neu zu bestimmen, gerade auch angesichts der in einem Jahr absehbar beginnenden zweiten Amtszeit von Donald Trump, erscheint unter diesen Umständen alles andere als abenteuerlich, weit weniger jedenfalls als die immer noch blind den Vereinigten Staaten folgende Außenpolitik der Bundesregierung.

In der Ukraine droht wie in Afghanistan eine Niederlage

Was speziell die Ukraine angeht, so ist zu erwarten, dass der Krieg dort, wie der in Afghanistan, für den USA-geführten Westen, vor allem aber für die örtliche Bevölkerung, in einer Niederlage enden wird. Seit mehr als einem Jahr sind die Fronten festgefahren. Auf ukrainischer Seite haben mindestens 70 000 Soldat:innen ihr Leben verloren, gestorben laut von der Leyen „für unsere Werte“; weitere 50 000, vorsichtig geschätzt, erlitten so schwere Verletzungen, dass sie nicht an die Front zurückgeschickt werden können. Dennoch hält die ukrainische Regierung, bestärkt von den USA und Deutschland, an ihren maximalistischen Kriegszielen fest: einem „Sieg“ der Ukraine in Gestalt einer Rückeroberung der Krim und aller von Russland besetzten Landesteile, einschließlich der russischsprachigen.

Niemand kann sagen, wie ein solcher Sieg zustande kommen soll. Immer neue Wunderwaffen werden verlangt und geliefert, aber heraus kommt wenig mehr als Testergebnisse und Werbefilme für ihre Hersteller. Entsprechend sinkt die Kriegsbegeisterung der Bevölkerung. Während die Präsidentschaftswahlen abgesagt und die Massenmedien gleichgeschalteter sind denn je, demonstrieren auf den Straßen Frauen und Mütter der Frontsoldaten, die seit Kriegsbeginn ohne Urlaub im Feld stehen müssen, wohl weil niemand sie ablösen will. Derzeit verlangt das Oberkommando die Einberufung von 500 000 Männern.

Dabei halten sich allein in Deutschland, illegal nach den Gesetzen ihres Landes, 200 000 wehrfähige Männer als Flüchtlinge auf, die keine Lust haben, für die Krim zu sterben. In der Ukraine selber blüht die Korruption in den Kreiswehrersatzämtern und Arztpraxen, wo Wehrpflichtige sich in Scharen vom Wehrdienst freikaufen, für Beträge zwischen 3000 bis 15 000 US-Dollar. Mit Wagenknecht daran zu zweifeln, dass die Lieferung immer weiterer Waffen irgendjemandem etwas Gutes tut, abgesehen von Rheinmetall und Frau Strack-Zimmermann, scheint alles andere als unvernünftig.

Wie anderswo sind die USA in der Ukraine dabei, unter Zurücklassung eines Trümmerfelds, das andere aufräumen müssen, das Weite zu suchen. Wer sich auf sie verlässt, muss wissen, dass sie, zumal nach dem Ende der Bipolarität des Kalten Krieges, keine Veranlassung haben, vor militärischen Engagements viel nachzudenken: Ihre Lage auf einer Kontinent-großen Insel mit nur zwei Nachbarstaaten, beide in ihrer Tasche, macht sie unbesiegbar. Dies erklärt die Leichtfertigkeit, mit der sie ihre Sicherheits- bzw. Unsicherheitspolitik betreiben: Ihnen kann nichts passieren.

Biden will den Konflikt mit Russland nutzen

In dieser Hinsicht besteht zwischen Biden und Trump kein großer Unterschied. Biden will, wenn er sich aus der Ukraine gen China verabschiedet, die Nato mitnehmen können; Trump glaubt, in Asien ohne sie auszukommen. Biden will, um Westeuropa bei der amerikanischen Stange zu halten, den Konflikt mit Russland nutzen und wird deshalb keinem Friedensschluss zustimmen; Trump ist die Ukraine egal. Trumps Rückzug aus Europa wird deshalb eher desorganisiert verlaufen, Bidens eher nicht: anders als in Afghanistan ist mit einem Versuch zu rechnen, so etwas wie eine USA-dienliche Ordnung zu hinterlassen.

Dabei, so scheint es, ist eine besondere Rolle für Deutschland vorgesehen. Bis zur „Zeitenwende“ noch in seinem Nachkriegspazifismus befangen, beansprucht Deutschland heute, auf Drängen der Vereinigten Staaten, aber auch der Grünen und der deutschen Rüstungsindustrie, repräsentiert von der FDP, eine europäische Führungsrolle, erstmals ohne Frankreich an Bord zu nehmen. In dieser soll Deutschland, als Stellvertreter der nach Asien weiterziehenden USA, die nötigen Mittel für den „Sieg“ der Ukraine bereitstellen, bei Übernahme der ukrainisch-amerikanischen Kriegsziele. Diese Aufgabe aber ist unlösbar.

Zur Person

Wolfgang Streeck, geboren 1946, war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der British Academy sowie Honorary Fellow der Society for the Advancement of Socio-Economics.

Sein Buch „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ war 2013 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Streeck ist Mitunterzeichner des von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer initiierten „Manifests für den Frieden“.

Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 wandte Deutschland ca. 28 Mrd. Euro für die Ukraine auf, davon allein 17 Milliarden für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge – insgesamt weit mehr als Großbritannien (14 Mrd.) und Frankreich (3,2 Mrd.). Für 2024 ist derzeit eine Verdoppelung der direkten deutschen Militärhilfe auf 8 Mrd. Euro geplant. Wenn die EU dann zum Ausgleich des Ausfalls der amerikanischen Militärhilfe – 70 Mrd. Dollar seit 2022 – davon als ersten Schritt 50 Milliarden übernähme, stiege der deutsche EU-Beitrag um weitere 12 Mrd., zusätzlich zu den drei Milliarden pro Jahr, die das gegenwärtig beratene vierjährige EU-Hilfspaket Deutschland mindestens kosten würde. Hinzu kämen die in ihrer Höhe nicht absehbaren Aufwendungen für den versprochenen „vollständigen Wiederaufbau“ (von der Leyen) der Ukraine. Damit wäre Deutschland massiv überfordert, zumal die Schuldenbremse in ihrer gegenwärtigen Interpretation durch das Verfassungsgericht der Bundesregierung verbietet, zur Vermeidung von wehrkraftzersetzenden Kürzungen bei zivilen Ausgaben die benötigten Mittel durch zusätzliche Kreditaufnahme zu beschaffen.

Die Übernahme der „Führungsrolle“ im Krieg des Westens gegen Russland käme so einem Himmelfahrtskommando gleich, selbst wenn man die mit ihr verbundenen Gefahren für die deutsche nationale Sicherheit beiseitelässt. Sehr schnell würde Deutschland, je länger der verlangte Sieg über Russland ausbliebe, zum Sündenbock nicht nur der Amerikaner, sondern auch der übrigen Europäer. Eine Beendigung der Waffenlieferungen an die Ukraine, wie von Wagenknecht gefordert, würde rechtzeitig die strikte Ablehnung dieser Zumutung signalisieren; sie wäre ein unverzichtbarer Teil einer verantwortlichen deutschen Sicherheitspolitik in und für Europa.

Und die Wiederaufnahme der Öl- und Gaslieferungen? Möglich, dass Russland nach dem Scheitern des westlichen Versuchs, es als Staat und Industriegesellschaft auszulöschen, nicht mehr unbedingt an einer Lösung des Ukraine-Konflikts interessiert ist. Niemand kann wissen, ob es bereit sein wird, zu den Minsker Abkommen oder dem Verhandlungsstand von Istanbul im März 2022 zurückzukehren, als Boris Johnson der ukrainischen Regierung im letzten Moment einredete, dass sie aufs Ganze gehen könne, weil die westlichen Sanktionen Russland in ein paar Monaten erledigen würden. Vielleicht fühlt Russland sich nach zwei Jahren erfolgreicher Kriegsführung und dem Ausbau seiner Rüstungsindustrie stark genug, um auf ein langes Ausbluten der Ukraine zu setzen – auf Meuterei der Soldaten, Zusammenbruch der radikalnationalistischen Regierung, Auswanderung der jungen Generation, Abzug der Oligarchen nach London und New York – und sie zu einem Dahinvegetieren als gescheiterter Staat zu verurteilen.

Motiv hierfür könnte ein verständliches Misstrauen als Reaktion auf die unverhüllten Vernichtungsfantasien des Westens zu Kriegsbeginn sein – von Bidens „regime change“ zu Baerbocks Überstellung Putins an ein Haager Tribunal bis hin zu von der Leyens Hoffnung, die westlichen Sanktionen würden „die industrielle Basis Russlands Schritt für Schritt abtragen“. Ebenso wenig vertrauensbildend dürfte Merkels Mitteilung gewirkt haben, man habe in Minsk nur verhandelt, um Zeit für eine weitere Aufrüstung der Ukraine zu gewinnen (was sagt eigentlich Steinmeier dazu, der ja nicht nur anwesend, sondern Autor des Minsker Friedensfahrplans war, weshalb ihn die Bandera-Fraktion der ukrainischen Rechten, vertreten in Deutschland durch den ukrainischen Botschafter, mit besonderem Hass überzog?).

Wagenknechts Forderung nach Rückkehr zu russischen Energielieferungen entspricht dem deutschen Interesse an einer sicheren Energieversorgung, auch zur Erhaltung der deutschen industriellen Basis. Hier lohnt es sich, die kürzlich von Biden angeordnete Beendigung des Aufbaus amerikanischer Anlagen zum Export von Flüssiggas (LNG) in Erinnerung zu behalten – angeblich auf Drängen von Umweltschützer:innen, vor allem aber wohl als Reaktion auf die wegen der hohen Auslandsnachfrage gestiegenen Inlandspreise. Betroffen ist vor allem Deutschland, wo LNG auf amerikanischen Druck sowie auf Betreiben der Grünen russisches Gas und deutsche Atomkraft gleichermaßen ersetzen soll. Dagegen bietet Wagenknecht Russland als Rahmen und Anreiz für eine Beendigung des Ukraine-Krieges eine eurasische Staaten- und Wirtschaftsgemeinschaft an – nach Art von Gorbatschows Gemeinsamem Europäischen Haus, Clintons Partnership for Peace und Putins Europa von Lissabon bis Wladiwostok – als Alternative zu einer feindlichen Teilung des Kontinents an der russischen Westgrenze als Frontlinie eines nach Vorhersagen sogenannter „Verteidigungspolitiker“ in fünf Jahren (!) zu erwartenden russischen Eroberungsangriffs.

Mit der Teilung Eurasiens stünde ein hochgefährlicher Rüstungswettlauf ins europäische Haus, unter Beteiligung der Atommächte Frankreich und Großbritannien, vielleicht bald auch Deutschland, zur Freude der Waffenindustrie, wenn auch nicht der Steuerzahlenden. Im Unterschied dazu setzt Wagenknecht auf langfristige wirtschaftliche Beziehungen – für welche die, nach Auskunft der USA, von Unbekannten gesprengten Ostsee-Pipelines wiederhergestellt werden müssten. Hinzukommen müssten Vereinbarungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung, wie sie die USA seit Anfang des Jahrhunderts systematisch aufgekündigt haben. Der Weg zu Friedens- statt Kriegssicherung führt für Deutschland über seine Befreiung aus dem geostrategischen Klammergriff der Vereinigten Staaten – geleitet, statt von Nibelungentreue gegenüber dem weltpolitischen Herrschaftsanspruch der USA, von nationalen deutschen Überlebensinteressen. Genau darauf läuft die Rede von Wagenknecht hinaus.

Nibelungentreue? Am Ende des Nibelungenlieds hat Kriemhild ihre drei Brüder, die Könige von Burgund, und deren Vasallen Hagen, den Mörder ihres Mannes Siegfried, in ihrer Gewalt. Als sie die Herausgabe Hagens verlangt, weigern sich die Brüder unter Berufung auf ihre Treuepflicht, ahnend, dass das ihren Tod und den Untergang ihres Volkes bedeuten wird. Als 1909 der deutsche Reichskanzler Fürst von Bülow im Reichstag Österreich nach dessen Annexion Bosniens unbedingte Bündnistreue gelobte, berief er sich auf das Nibelungenlied – „Nibelungentreue“ eben. Was ein paar Jahre später daraus wurde, ist bekannt.

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