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Geschichte Wolfgang Schnur

Der Anwalt, dem Stasi-Chef Mielke Orden verlieh

Der kürzlich verstorbene Wolfgang Schnur war Spitzel der Staatssicherheit– und Anwalt der DDR-Opposition. Auch Roland Jahn, heute Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, vertraute ihm damals blind. Warum?
Reporter Investigative Recherche
Da bestätigte er sich noch als Stasi-Aufklärer: Wolfgang Schnur am 4. Dezember 1989 bei der Besetzung der Geheimdienstzentrale in Leipzig Da bestätigte er sich noch als Stasi-Aufklärer: Wolfgang Schnur am 4. Dezember 1989 bei der Besetzung der Geheimdienstzentrale in Leipzig
Da bestätigte er sich noch als Stasi-Aufklärer: Wolfgang Schnur am 4. Dezember 1989 bei der Besetzung der Geheimdienstzentrale in Leipzig
Quelle: picture-alliance / dpa

An seine erste Begegnung mit Wolfgang Schnur erinnert sich Roland Jahn noch genau. Das war Ende 1982. Der Regimegegner aus Jena hatte die SED-Machthaber mit spektakulären Aktionen gereizt. Er demonstrierte in seiner Heimatstadt gegen die Pressezensur in der DDR, klebte provokative Flugblätter an Litfaßsäulen und protestierte gegen martialische Militärparaden. Als Jahn dann an seinem Fahrrad einen Wimpel anbrachte, der als Sympathiebekundung für die antikommunistische polnische Gewerkschaft Solidarnosc aufgefasst werden musste, landete er im Untersuchungsgefängnis der Stasi-Bezirksverwaltung Gera.

„Wolfgang Schnur übernahm meinen Fall. Da war ich aber schon viele Wochen, in denen ich nicht einmal meine dreijährige Tochter sehen durfte, inhaftiert“, erläutert Jahn. Schnur galt in der DDR als einer der besten Rechtsanwälte für politisch heikle Verfahren. Anders als sein Kollege Gregor Gysi von der SED war er ein Mann der Kirche.

Roland Jahn (Jg. 1953), Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
Roland Jahn (Jg. 1953), Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
Quelle: dpa

„Bruder Wolfgang“ verteidigte Republikflüchtige, Wehrdienstverweigerer und Bürgerrechtler. Eine charismatische Figur, der es spielend gelang, das Vertrauen von Jahn zu erwerben: „Als Schnur zu mir ins Gefängnis kam, brachte er eine ,Süddeutsche Zeitung‘ mit einem Artikel über meine Verhaftung mit. ,Roland, du bist nicht vergessen!‘, ermutigte er mich.“ Dann habe Schnur den Zeigefinger auf den Mund gelegt, um Jahn zu warnen: Achtung, Stasi hört mit!

Der Geheimdienst hörte tatsächlich mit, doch dazu bedurfte es keiner Wanze im Besucherzimmer. Die Stasi war persönlich da, in Gestalt von Schnur. Dieser erledigte seinen Job als Agent so wie den als Jurist: nahezu perfekt, mit lässiger Eleganz. Und effektiv: Ein Vierteljahrhundert lang beschaffte der Spitzenspitzel mit den Decknamen „Torsten“ und „Dr. Ralf Schirmer“ wertvolle Informationen über bedeutende Gegner des Arbeiter-und-Bauern-Staates. Vergangene Woche ist Schnur in einem Wiener Hospital an Krebs gestorben. Im Alter von 71 Jahren.

Für Schnurs Dienste verlieh ihm Stasi-Chef Erich Mielke den „Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland“, zwei „Medaillen für treue Dienste“ und zuletzt, am 7. Oktober 1989 zum 40. Republikgeburtstag, sogar eine Verdienstmedaille in Gold. Die hohe Ehrung zu einer Zeit, als die Menschen schon überall in der DDR gegen die SED-Herrschaft aufbegehrten, begründete die Stasi mit Schnurs „an die Grenzen der physischen Leistungsfähigkeit gehenden Einsatzbereitschaft“. Der IMB, das war im Jargon der Stasi ein „Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung“, habe „wesentlich zur vorbeugenden Verhinderung feindlicher bzw. öffentlichkeitswirksamer provokativer Handlungen bearbeiteter Personen beigetragen“. Natürlich sollte die Edelkraft der Mielke-Truppe auch den eigenwilligen Häftling Jahn unter Kontrolle bringen.

Jahn (Jg. 1953) leitet inzwischen als Bundesbeauftragter das Stasi-Unterlagen-Archiv. Dieses Amt bringt es mit sich, dass er versucht, Schnurs Geheimdienstkarriere nüchtern unter professionellen Aspekten zu betrachten. Jahn weiß beispielsweise, dass die Stasi insgesamt 41 Aktenordner zu Schnur angelegt hatte, zwei gelten als verschollen. Und trotzdem: Mit dieser Person und deren Verrat sowie seinem blinden Vertrauen gegenüber Schnur ist Jahn noch lange nicht fertig.

Schnur beim Gründungsparteitag der Partei "Demokratischer Aufbruch" am 17. Dezember 1989 in Leipzig. Schnur wurde ihr Vorsitzender
Schnur beim Gründungsparteitag der Partei "Demokratischer Aufbruch" am 17. Dezember 1989 in Leipzig. Schnur wurde ihr Vorsitzender
Quelle: dpa

Deshalb ist der Behördenchef gleich bereit, sich mit dem Reporter zu treffen. Im Berliner Café „Zum dritten Mann“, benannt nach einem britischen Thriller, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der damaligen Agentenhochburg Wien spielt, breitet Jahn über Stunden beim Ingwertee seine persönliche Geschichte mit Schnur aus. Eine Geschichte, in der vieles offen ist. Und nach Schnurs Tod wohl offen bleibt.

Etwa die merkwürdige Sache mit dem Demokratischen Aufbruch (DA): Schnur war Gründungsmitglied und später Vorsitzender dieser Oppositionspartei. Bereits das erste Treffen der vornehmlich aus Theologen bestehenden Gruppe, die im August 1989 in Dresden konspirativ über Konzepte diskutierte, wurde von Schnur an die Stasi verraten. In ihrem Auftrag nahm er anschließend mäßigend Einfluss. Statt eine Partei zu gründen, plädierte er dafür, sich in einem Verein zu organisieren. Schnur verfolgte offensichtlich das Ziel, den DA als Partei zu verhindern.

Das hielt Schnur indes nicht davon ab, bald darauf an der Spitze ebenjener Partei deutsche Geschichte schreiben zu wollen. Dabei ließ er sich von einer jungen Physikerin helfen, deren politisches Talent ihm auffiel – von Angela Merkel, die er als Mitarbeiterin einstellte. Schnurs erklärtes Ziel: aus der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 als Ministerpräsident der DDR hervorzugehen.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU, M.) unterstützte Schnur und seinen Demokratischen Aufbruch (DA) im Wahlkampf 1990
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU, M.) unterstützte Schnur und seinen Demokratischen Aufbruch (DA) im Wahlkampf 1990
Quelle: dpa
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Rückendeckung gab ihm Kanzler Helmut Kohl, den Schnur ebenso zu beeindrucken wusste wie zuvor Roland Jahn. Selbst als es an Schnurs Agententätigkeit kaum noch Zweifel geben konnte, sprang Kohls CDU Schnur zur Seite. Hinter entsprechenden Presseberichten witterte sie eine Verschwörung. „Nun wird auf die schäbige alte Stasi-Methode des Ehrabschneidens zurückgegriffen“, wetterte Generalsekretär Volker Rühe kurz vor der Wahl.

Auch Jahn wollte erst nicht wahrhaben, dass Schnur dem Organ „Horch & Guck“ verpflichtet gewesen war. Der Bürgerrechtler wurde im Januar 1983 unter anderem wegen „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ zu 22 Monaten Haft verurteilt. Wegen internationaler Proteste kam er frei und engagierte sich sofort wieder in der Opposition. So schob man ihn gegen seinen erklärten Willen in die Bundesrepublik ab.

Nach dem Mauerfall im November 1989 konnte Jahn, nun für die ARD als Journalist, endlich in die DDR zurückkehren und traf seinen alten Anwalt. Er ermunterte ihn: „Wolfgang, du bist einer der Besten. Du kannst reden. Du bist glaubwürdig. Du musst in die erste Reihe der Politik.“

„Du weißt doch, was ich für dich alles getan habe“

Wenig später registrierte Jahn die wachsenden Zweifel an der Integrität des DA-Chefs. In dieser Situation habe Schnur ihm gesagt: „Roland, du zumindest glaubst mir doch. Wenigstens du! Du weißt doch, was ich für dich alles getan habe. Die wollen mich fertigmachen.“ Es war eine emotionsgeladene Begegnung, die Jahn nicht vergessen kann: „Schnur legte seine Hände über meine, hielt sie fest umschlossen. Diese Hände spüre ich noch heute.“ Kurz darauf, als es keine Zweifel mehr an der Spitzelarbeit gab, sagte Schnur zu Jahn: „Ich habe verraten, um zu helfen.“

Verraten, um zu helfen? Brigitta Kögler hält das für verlogen. Kögler, die wie Jahn in Jena studierte und wie Schnur Anwältin war, zählt auch zu den DA-Gründern. Im Oktober 1989 wurde sie zu Schnurs Stellvertreterin gewählt. Als sie erstmals von den Stasi-Gerüchten hörte, legte sie ihm im Vorstand den Entwurf einer eidesstattlichen Erklärung vor. Schnur sollte versichern, dass er kein Stasi-Zuträger war. Ohne jeden Skrupel unterschrieb er und leistete so einen Meineid. „Arrogant und diabolisch“ hat Kögler Schnur in Erinnerung.

Als gesichert gilt heute, dass Schnurs Stasi-Verstrickung von Stasi-Offizieren an die Öffentlichkeit gezerrt wurde. Ab Januar 1990 erhielten führende DDR-Oppositionelle wie Bärbel Bohley anonyme Briefe mit Hinweisen zur Spitzeltätigkeit. Sie waren derart detailliert, dass sie nur von den ehemaligen Führungsoffizieren stammen konnten. Die „Verräter des Verräters“ (Titel eines 2015 erschienenen Buches über Schnur) ließen sich vom „Spiegel“ in einer Enthüllungsstory zitieren, aber anonym: „Namen von der Redaktion auf Wunsch der Betroffenen geändert“, teilte das Magazin den Lesern mit.

Wolfgang Schnur (1944-2016) musste sich 1996 vor dem Kriminalgericht Berlin-Moabit wegen seiner Stasi-Verbindungen verantworten
Wolfgang Schnur (1944-2016) musste sich 1996 vor dem Kriminalgericht Berlin-Moabit wegen seiner Stasi-Verbindungen verantworten
Quelle: dpa

Warum aber lieferten Stasi-Offiziere einen einst hoch dekorierten Spitzel derart hinterhältig ans Messer? Weil Schnur an Kohls Seite die Wiedervereinigung befürwortete?

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Hollitzer, Leiter des Leipziger Stasi-Museums, hat eine andere Erklärung. „Anfang 1990 gab es Gerüchte, dass Schnur auch für einen bundesdeutschen Dienst gearbeitet haben könnte. In so etwas kannte die Stasi kein Pardon.“ Der Ex-Bürgerrechtler Hollitzer, anders als der Atheist Jahn aus einem christlichen Elternhaus stammend, hatte Schnur kennengelernt, als er 16 Jahre alt war. Während der Sommerferien, im evangelischen Freizeitheim „Haus am See“ bei Berlin. Ihn störte Schnurs Überheblichkeit, und spontan sagte er seinen Eltern: „Von so einem Anwalt würde ich mich nie vertreten lassen.“

Dieses Misstrauen hatte Jahn nicht. Im „Dritten Mann“ erzählt er, dass er seinen früheren Anwalt zuletzt vor vier Monaten getroffen habe. Schnur, schon vom Krebs gezeichnet, sei zu ihm in die Behörde gekommen. „Er hatte sich eine ganz eigene Wahrheit zurechtgelegt. Bestimmt war viel Lebenslüge dabei. Aber es war ein gutes Gespräch.“

Damals hatten Schnur und Jahn vereinbart, zusammen auf einer öffentlichen Veranstaltung zu diskutieren. Am vergangenen Donnerstag wurde Schnur in Berlin beerdigt.

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