Wolfgang Schäuble zum Abschied: Er muss sich noch einmal neu erfinden

Wolfgang Schäuble zum Abschied: Er muss sich noch einmal neu erfinden

Der CDU-Politiker verliert sein Amt an der Spitze des Parlaments. Doch noch möchte der 79-Jährige nicht in den Ruhestand gehen.

Wolfgang Schäuble
Wolfgang SchäubleBerliner Zeitung/Paulus Ponizak

Berlin-Es ist an diesem Tag in Halle kaum aufgefallen. Es ist ja auch die Kanzlerin, die in diesem Moment im Mittelpunkt steht. Gerade hat Angela Merkel ihre Rede auf der zentralen Feier zum Tag der Deutschen Einheit gehalten. Eine bemerkenswerte, sehr persönliche Rede, in der sie klarer als sonst benennt, dass Ost-Lebensläufe immer noch geringschätzt werden.

Der Beifall ist groß, er geht in ein rhythmisches Klatschen über. Die Kanzlerin macht eine abwehrende Geste, doch das Publikum erhebt sich von seinen Sitzen und macht weiter. Bodo Ramelow, Thüringens Ministerpräsident von der Linken, applaudiert ebenso wie SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, die CDU-Spitze und Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeiner.

Nur Wolfgang Schäuble rührt keine Hand. Er sitzt direkt neben Bundeskanzlerin und Bundepräsident – als Bundestagspräsident repräsentiert er schließlich eines der Verfassungsorgane. Er tut es an diesem Tag mit steinerner Miene. Die Einheitsfeier in Halle ist die letzte, der Schäuble als Bundestagspräsident beiwohnt. In weniger als zwei Wochen wird er sein wichtiges Amt verlieren und seine letzten Jahre als aktiver Politiker als Bundestagsabgeordneter der Opposition verbringen.

Gut möglich, dass ihm das in diesem Moment durch dem Kopf geht, in dem die Kanzlerin gewissermaßen verabschiedet wird. Auch sie wird im nächsten Jahr nicht mehr an der Einheitsfeier teilnehmen, zumindest nicht als Regierungschefin. Doch sie geht leichten Herzens in den Ruhestand, mag ihn vielleicht sogar ein bisschen herbeisehnen. Mit 67 Jahren darf man ja auch mal an sich denken.

Schäuble ist zwölf Jahre älter und mag nicht aufhören. Er hat die nächste Legislaturperiode ganz anders geplant. Für sich und seine Partei. Er hat nur kurz mit dem Aufhören kokettiert, sich dann aber entschlossen, noch eine Legislaturperiode weiterzumachen. Es habe Stimmen von der Basis gegeben, die ihn gebeten hätten, noch weiterzumachen, sagte er dazu. Im Bundestagspräsidium hatte man ohnehin damit gerechnet. Er als Chef im Bundestag, ein Parteifreund als Chef im Kanzleramt, so wollte Schäuble seine Karriere beenden. Und noch vor kurzem sah alles danach auch.

Die CDU gewinne sowieso, soll er den Parteifreunden im April gesagt haben, fünf lange Monate, bevor er zu dieser Einheitsfeier in Sachsen-Anhalt reisen muss. In jenen Frühlingstagen geht es um die Kanzlerkandidatur und um die Frage, wer nun antritt – Armin Laschet, der neue Parteichef der CDU, oder Markus Söder, der machtbewusste CSU-Vorsitzende.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung spielt an einem Sonntagabend im nächtlichen Bundestag. An der klandestinen Sitzung nehmen nur Söder, Laschet und die Generalsekretäre der beiden Parteien teil. Und Wolfgang Schäuble. Er hat die anderen hierher gelotst. Söder reist in aller Eile mit einem Privatjet an. Hier, so heißt es später, wird ihm klargemacht, dass die CDU keinen CSU-Kanzlerkandidaten akzeptiert. Hier soll  Schäuble den Satz gesagt haben: „Wir gewinnen sowieso.“ Und dass es deshalb für die CDU wichtig sei, dass der Kanzler aus ihrer Partei stammt.

Fünf Monate später ist die Wahl verloren. Nun stellt die SPD die stärkste Fraktion im Bundestag – und hat das Vorschlagsrecht für das Amt des Bundestagspräsidenten. Oder der Bundestagspräsidentin. Gut möglich, dass es eine Frau wird. Sicher ist, dass es auf keinen Fall Wolfgang Schäuble sein wird. Aus seinem Umkreis hört man nun, dass seine Rolle bei der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur keineswegs so zentral gewesen sei, wie es verbreitet werde.

Auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Münster hat der gescheiterte Wahlkämpfer Armin Laschet das nun auch noch einmal öffentlich erklärt. Es sei eine Legende, so Laschet, dass Schäuble entschieden habe, wer Kandidat werde. Er habe zu einem Gespräch eingeladen. „Aber er war es nicht, der diese Kanzlerkandidatur geschrieben hat“, sagt Laschet, der einmal mehr die volle Verantwortung für die Wahlniederlage der Union übernimmt.

Die Partei hat mit der Aufarbeitung der historischen Schlappe vom 26. September begonnen. Wenn man so will, ist die erste Phase der Leugnung nun vorbei, es geht jetzt um Verantwortung. Und um die Konsequenzen, die gezogen werden müssen. Einige jüngere Politiker haben schon früh gefordert, dass auch Schäuble Verantwortung übernimmt.

Emmi Zeulner etwa. Die CSU-Politikerin hat ihr Direktmandat mit dem besten Erststimmenergebnis in Bayern verteidigt und schon am Tag nach der Wahl davon gesprochen, dass die Kanzlerkandidatur „im Hinterzimmer ausgekartelt“ worden sei und Schäuble die Union dabei stark beeinflusst habe. „Das sind Entscheidungsfindungsprozesse wie vor hundert Jahren“, sagte sie dem Bayerischen Rundfunk. Das sei halt Kritik aus der CSU, kontern viele CDU-Politiker, die man fragt. Namentlich zitieren darf man in diesem Tagen kaum einen. Laschets Kandidatur sei im Bundesvorstand abgestimmt worden, wird gesagt, das sei ja nun kein Hinterzimmer, sondern ein gewähltes Gremium. Schäuble ist Mitglied im Bundesvorstand. Er brauchte dafür keine Wahl, sondern ist es kraft seines Amt als Bundestagspräsident. Verliert er es, verliert er so ziemlich alles.

Schäuble selbst will nicht über seine Enttäuschung sprechen. Er gibt derzeit kaum Interviews. An diesem Montag erscheint eines im Parlament, der Zeitung, die der Bundestag herausgibt. Der Chef bekommt natürlich keine allzu unangenehmen Fragen gestellt. Das Thema Amtsverlust ist ausgeklammert. Schäuble sagt in dem Gespräch, dass er dem Tag der Konstituierenden Sitzung des Bundestages „mit einer gewissen Gelassenheit“ entgegensehe. Es ist die 14. derartige Konstituierung, die er miterlebt – womöglich aber doch seine bitterste.

Die Kollegen im Bundestagspräsidium reagieren entsprechend mitfühlend. „Es wird von ihm eine Menge abverlangen, wenn er als Alterspräsident die Wahl seines Nachfolgers oder seiner Nachfolgerin moderiert“, sagt Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki. Kubicki ist wie Schäuble seit einer Legislaturperiode im Bundestagspräsidium. Man habe sich gegenseitig schätzen gelernt, sagt er, die Zusammenarbeit sei sehr gut gewesen. „Er hat einen intelligenten und hintergründigen Humor“, sagt der FDP-Politiker und erzählt, wie er Schäuble mal im Scherz vorgeschlagen habe, dass man nach ihm, Kubicki, Chef der Raum- und Baukommission, ja eines der geplanten Gebäude benennen könne. Schäuble habe daraufhin gesagt, man werde vielleicht ein Toilettenhäuschen dafür finden. Kubicki lacht laut durchs Telefon, als er die Episode erzählt.

Kubicki: „Er ist schnell Parlamentarier geworden“

Schäuble habe den Bundestag vor allem energisch gegenüber der Regierung vertreten, urteilt Kubicki. „Er kam ja aus der Regierung, aber er ist schnell Parlamentarier geworden.“

Das sagt auch Claudia Roth. Die Grünen-Politikerin war schon eine Legislaturperiode lang Vizepräsidentin des Bundestages, als Schäuble 2017 das Amt übernahm. Das sei nach langen Jahren in verschiedenen Regierungsämtern natürlich ein Spurwechsel gewesen, meint sie. Schäuble habe ihn aber schnell und glaubhaft vollzogen. „Er hat zunehmend Lust und Leidenschaft fürs Präsidentenamt gefunden und die Bedeutung des Parlamentes gelebt.“

Kubicki berichtet von einer Reise nach Moskau, die er mit dem damaligen Vizepräsidenten Thomas Oppermann unternommen habe, weil sie ein gutes Beispiel dafür ist, wie Schäuble das Selbstbewusstsein des Parlamentes gegen die Bundesregierung verteidigt habe. Wegen dieser Reise zum Besuch von Amtskollegen in der russischen Duma habe die Regierung ein wenig verklausuliert Bedenken geäußert, sagt Kubicki. Schäuble aber habe nur gesagt, man lasse sich von der Regierung nicht vorschreiben, was das Parlament zu tun habe.

Wie lange bleibt Schäuble im Bundestag?

Kubicki glaubt nicht, dass Schäuble nun die gesamte Legislaturperiode im Bundestag verbringen wird. Claudia Roth widerspricht. „Ich gehe davon aus“, sagt sie. „Er hat seinen Wahlkreis direkt gewonnen und das schon seit vielen Jahren. Seinen Wählerinnen und Wählern fühlt er sich verpflichtet, und er hat eine enorme politische Erfahrung. Es ist schon eine Frechheit, dass die Junge Union in Bayern fordert, er solle sein Mandat zurückgeben, so wie Annegret Kramp-Karrenbauer und Peter Altmaier das getan haben.“

Sicher sind sich Kubicki und auch Roth, dass er das Amt des Alterspräsidenten bei der Konstituierenden Sitzung am 26. Oktober noch einmal für eine eindringliche Rede nutzen wird. Dass er zumindest diese Gelegenheit erhält, liegt an einem Kniff, mit dem man 2017 Alexander Gauland als Alterspräsident verhindert hat, der ein Jahr älter ist als Schäuble. Nun gilt, dass nicht mehr der Geburtsälteste, sondern der dienstälteste Abgeordnete Alterspräsident wird. Und an Abgeordnetenjahren reicht weit und breit niemand an Schäuble heran.

Schon 1972 hat er zum ersten Mal seinen Wahlkreis Offenburg direkt gewonnen. Im kommenden Jahr ist  Schäuble also ein halbes Jahrhundert lang Berufspolitiker. Das hat vor ihm noch keiner geschafft.

Damals war er 30 Jahre alt und dennoch nicht der Jüngste im Bundestag. „Es ist ja nicht so, dass es nicht früher auch schon jüngere Abgeordnete gegeben hat“, erzählt er im Parlament-Interview. Sollen die Jungen von heute ruhig mal sehen, dass sie nicht auf alles ein Alleinstellungsmerkmal haben. Kurz vor der Wahl hat Schäuble in einem Interview gesagt, dass Junge „auch ein Stück weit Widerstand“ bräuchten. Man kann sich also gut vorstellen, dass er sich unter anderem das zur Aufgabe in der Fraktion machen wird. Erfahrung gegen Aufbruch – das könnte in der Unionsfraktion zu einigen interessanten Konfrontationen führen. Ganz gewiss wird Schäuble sich nicht bescheiden, sich nicht hinten anstellen, wie es vermutlich von den Newcomern im Bundestag erwartet wird. Jahrzehnte in der politischen Führung machen niemanden zurückhaltender. „Er ist ein politisches Alphatier“, sagt denn auch Claudia Roth.

Wolfgang Schäuble hat der Bundesrepublik wohl das größte Opfer gebracht, das ein Politiker bringen kann. Nach einem Wahlkampfauftritt im Herbst 1990 wurde er durch fünf Schüsse schwer verletzt. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Viele Monate dauert seine Genesung. Die Konstituierende Bundestagssitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages verpasst er damals. Doch er kämpft sich zurück und nimmt später wieder anstrengende Regierungsämter an. Die vielen Reisen als Finanzminister etwa zehren an seiner Konstitution. Er hält trotzdem durch. Bis er selbst erklärt, dass damit Schluss ist.

Den Abschied vom Amt des Bundestagspräsidenten zwingen ihm nun die politischen Umstände auf. Aus seiner Sicht ist das vermutlich eine eher läppische Niederlage.