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Literatur Wolfgang Leonhard †

Der Historiker, der mit der Sowjetunion abrechnete

„Wir waren national, so national, wie man es heute in Deutschland kaum noch sein kann“: der Politologe, Historiker und Publizist Wolfgang Leonhard im März 2001 „Wir waren national, so national, wie man es heute in Deutschland kaum noch sein kann“: der Politologe, Historiker und Publizist Wolfgang Leonhard im März 2001
„Wir waren national, so national, wie man es heute in Deutschland kaum noch sein kann“: der Politologe, Historiker und Publizist Wolfgang Leonhard im März 2001
Quelle: Bruni Meya/akg-images/picture alliance/akg-images
Sein Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ machte ihn weltberühmt. Es war eine spektakuläre Abrechnung mit dem Kommunismus und der Sowjetunion. Jetzt ist Wolfgang Leonhard mit 93 Jahren gestorben.

Er war einer der letzten großen Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Der Historiker Wolfgang Leonhard, Jahrgang 1921, hatte die NS- und die Stalin-Diktatur erlebt und war der letzte Überlebende der Gruppe Ulbricht, die 1945 aus dem Moskauer Exil zurückkehrte, um die Gründung der DDR vorzubereiten. Vor allem aber war Wolfgang Leonhard der Autor des Weltbestsellers „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Eines extrem aufregenden Buches, das seit 1955 immer wieder neu aufgelegt wurde und bis heute nicht die Spur von Patina angesetzt hat.

Hinter dem Eisernen Vorhang war Leonhards Abrechnung mit dem Kommunismus natürlich verboten. Trotzdem kursierte es als „Bückware“ in der DDR. Leonhards Verlag druckte spezielle Tarnausgaben und versah sie mit Schutzumschlägen von Büchern, die kurz zuvor tatsächlich in der DDR herausgekommen waren. Etwa „Walter Ulbricht: Der zweite 5-Jahres-Plan und der Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik“. Dieser Titel, der vorher wie Blei im Regal gelegen hatte, fand nun über Nacht erstaunlichen Absatz …

Leonhards Mutter war mit Rosa Luxemburg befreundet

Wolfgang Leonhard, am 16. April 1921 in Wien geboren, war der Sohn der Publizistin Susanne Leonhard, einer engen Freundin von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Susanne Leonhards erster Ehemann, der Dramatiker Rudolf Leonhard, erkannte offiziell die Vaterschaft an, obwohl das Paar zur Zeit der Geburt des Sohnes getrennt lebte und Susanne Leonhard nach sowjetischem Recht mit Mieczysław Broński, dem sowjetischen Botschafter in Wien, einem engen Vertrauten Lenins, verheiratet war.

Seine Schuljahre verbrachte Leonhard in Berlin. 1931 schloss er sich der Kinderorganisation der KPD, den Jungen Pionieren, an. Im Herbst 1933 brachte ihn seine Mutter nach Schweden in Sicherheit: Wolfgang Leonhard wurde in ein Kinderheim in Viggbyholm bei Stockholm geschickt. Susanne Leonhard blieb in Deutschland und arbeitete im Untergrund. Der Sohn erinnerte sich später so: „1935 besuchte sie mich, und während der Zeit flog ihre Gruppe auf. Sie konnte nicht mehr zurück, in Schweden konnten wir leider nur noch sechs Wochen bleiben, und da fragte sie mich: ‚Du bist doch ein großer Junge. Wir können nach Manchester gehen oder nach Moskau?‘ Ich habe geantwortet: ‚Blöde Frage, natürlich Moskau.‘

Abgeordnet zur Kominternschule

Dort kamen die Leonhards vom Regen in die Traufe. Susanne Leonhard, die bereits 1925 aus der KPD ausgetreten war und einer marxistischen Splittergruppe angehörte, wurde im Herbst 1936 im Zuge der großen stalinistischen Säuberungsaktion verhaftet und für zehn Jahre im Zwangsarbeitslager Workuta inhaftiert. Wolfgang Leonhard wurde ins Kinderheim Nummer sechs für österreichische und deutsche Emigrantenkinder gesteckt.

Das Englischstudium, das er 1940 bis 1941 aufnahm, wurde im September 1941, nach dem Angriff der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, rüde unterbrochen. Leonhard wurde nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Im Jahr 1942 ordnete man ihn zur Kominternschule in Kuschnarenkowo (Baschkirien) ab, an die wichtigste ideologisch-politische Ausbildungsstätte für ausländische Kommunisten in der damaligen UdSSR. Dort lernte er, wie man Dokumente fälscht und heimlich Grenzen überschreitet. „Wir waren national, so national, wie man es heute in Deutschland kaum noch sein kann“, sagte er Jahrzehnte später. Das Kriegsende erlebte Leonhard als Mitarbeiter der Redaktion und Rundfunksprecher des Nationalkomitees Freies Deutschland in Moskau.

Er kam mit der Gruppe Ulbricht nach Deutschland zurück

Unmittelbar danach, noch im April 1945, kehrte Wolfgang Leonhard mit einer Gruppe von Funktionären nach Berlin zurück. Gemeinsam formierten sie die Gruppe Ulbricht. Dem späteren Staatsratsvorsitzenden der DDR attestierte Wolfgang Leonhard im Nachhinein vor allem „Bauernschläue“. Ulbricht sei ein äußerst fleißiger Organisator und Taktiker gewesen und habe die „Prawda“ – „Aha, der Kreml will das und das!“ – immer im Blick gehabt. Für Musik, Literatur oder Malerei habe er sich allerdings nicht im Geringsten interessiert.

Aus Protest gegen den Stalinismus, dessen Zwangssystem er statt der erhofften antifaschistischen Demokratie auf deutschem Boden nicht den Weg bereiten wollte, floh Leonhard im März 1949 über Prag nach Jugoslawien. Ende 1950 siedelte er nach Westdeutschland über. 1955 veröffentlichte er das Buch, das ihn weltberühmt machte: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Es liefert die autobiografische Innenansicht des Sowjetsystems, wie man sie bis dahin nicht gekannt hatte. Das Buch trug maßgeblich zur Desillusionierung einer ganzen, an den Marxismus glaubenden Generation bei.

Leonhard lehrte 21 Jahre lang in Yale

Danach folgten Studien- und Forschungstätigkeiten im englischen Oxford (1956–1958) und an der Columbia-Universität New York (1963–1964). 1966 bis 1987 lehrte Leonhard an der Historischen Fakultät der Yale-Universität. Die Schwerpunktthemen des „Kreml-Astrologen“, wie man Leonhard auch nannte, blieben der Kommunismus und die Sowjetunion.

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2007 legte Leonhard das Buch „Meine Geschichte der DDR“ vor. Ein wie immer elegantes, ins Anekdotische zielendes Erinnerungsbuch. Es bewahrt unter anderem die Heldentat der Dresdner Müllfahrer, die sich in den Tagen der Montagsdemonstrationen weigerten, den Abfall eines verhassten SED-Parteisekretärs zu entsorgen, sondern stattdessen die ganzen schönen Westverpackungen auf dem Gartenzaun aufspießten. Als Vorgang ist die Sache nur eine Fußnote der Geschichte, als Illustration der Friedlichen Revolution von 1989 ist sie unbezahlbar.

Der Historiker Wolfgang Leonhard ist 93 Jahre alt geworden. Er starb am Sonntagmorgen nach schwerer Krankheit in einem Krankenhaus in Daun in der Eifel. Seine Frau, die Politikerin und Publizisten Elke Leonhard, teilte mit, es sei „ein langer Kampf“ gewesen.

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