Weltweit finden heftige Verteilungsdebatten um Ressourcen und Chancen statt. Jedes Land sucht seinen Platz. Es gibt keine Stammplätze mehr, es gibt Auf- und Absteiger. Diktaturen und nationalistischer Populismus behindern in großen Teilen unserer Welt Menschenrechte, freie Presse und erfolgreiches Wirtschaften. Viele Konflikte kommen aus geschichtlichen Tiefen, deren Trümmer nie ordnungsgemäß beiseite geräumt wurden. Die Freiheit hat noch nicht gewonnen. Im Gegenteil.

Es werden ganz alte und neue Landkarten aufgeschlagen. China grenzt seine Seegebiete neu ab und hat Hongkong im Würgegriff, das Muster Stamm und Religion führt nicht nur in Afrika zu einem Binnenzirkus in vielen Ländern. Russland greift aus imperialer Nostalgie ohne Rücksicht auf Völkerrecht und Nachbarn in seine frühere sowjetische Landmasse und zündelt überall. Der Nahe Osten ist katastrophenschwanger, Atomwaffenpotentiale stehen sich in Asien gegenüber. Die Türkei hat keine unabhängige Justiz, Polen macht sich auch auf diesen Weg, und die früher fröhlichste Baracke im Sozialismus, Ungarn, unterdrückt freie Medien. Vor unserer Haustür, auf dem Balkan, gibt es bis heute keine wirkliche Verständigung. Nicaraguas Machthaber füttern das Militär, um an der Macht zu bleiben.

Die Vereinigten Staaten versuchen gerade aus der Wirbelschleppe eines Mannes mit „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Odo Marquard) im Präsidentenamt zu entkommen. Newcomer betreten die internationale Bühne, deren Fähigkeiten weit hinter ihrem Selbstbewusstsein zurückbleiben. Leider haben noch nicht alle gelernt, dass es für Handelsstreitigkeiten, gegenseitige Aufrechnungen und aggressiven Umgang keine vernünftige Kosten-Nutzen-Relation mehr gibt. Es ist nicht mehr so, dass der eine gewinnt, was der andere verliert. Die Weltgeschichte unterbietet gerade ihr mögliches Niveau.

In Deutschland gibt es angesichts dieser Situation eine bedenkliche Ignoranz gegenüber dem Erodieren freiheitlicher Ordnungen, die Alexis de Tocqueville mit den Worten: „Wenn Interessen die Überzeugungen verdrängen und eine Gesellschaft kein Gefahrenbewusstsein außer beim Verlust von Wohlstand mehr hat“, so treffend beschrieben hat. Damit trifft er für die schon immer technisch höchstleistungsfähige, politisch aber leider unbegabte deutsche Gesellschaft den Nagel auf den Kopf.

Hierzulande kommen schon seit längerem Steckenpferdreiter mit skurrilen Vorstellungen und unterkomplexen Weltbildern aus ihren Ställen. Es treiben sich viele herum, die mehr fühlen als wissen, mehr ablehnen als verstehen, mehr angreifen als vermitteln und Geltungsansprüche behaupten, die nicht auf Substanz beruhen. Es gibt ein Missbehagen an der Politik, ein Missvergnügen an Parteien, eine Mobilmachung gegen nahezu alles, was Einsicht abverlangt. Was früher ein frustrierter Mensch seinem Wellensittich in der Küche vorhielt, steht heutzutage in der feigen Anonymitätskultur im Internet. Manches ist von aufsehenerregender Dürftigkeit.

Es gibt ganze Bewegungen, die den Frust an der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse verstärken und Affekte mobilisieren. Ressentiments, Dauergereiztheiten gegen die Wirklichkeit und Hass auf nahezu alles, was funktioniert, erreichen allmählich hohe Temperaturen. Verloren gegangen sind Alltagsvernunft, Fairness, Skepsis, Höflichkeit und Humor. Vorherrschend sind Töne der Rechthaberei und des Belehrenden und ein hoher Sündenbockbedarf. Die Vorstellung, was es mit unserer Freiheit auf sich hat, auf welchen Voraussetzungen sie beruht und was sie an Anstrengungen verlangt, geht mehr und mehr verloren.

Illiberale Kräfte nehmen Fahrt auf, Intoleranz greift um sich, ideologische Konformität und moralische Gewissheiten triumphieren über komplexe Fragen. Ein nahezu pathologisches Vokabular macht sich breit, das Böse und das Dumme erhalten große Aufmerksamkeit. Ein neues Jakobinertum drängt nach vorne, das von Gewissen so redet, als sei es das Gewissen selbst. Es sind nicht immer nur repressive Regierungen, die die Freiheit unterdrücken, es sind auch illiberale Bewegungen, die sie bedrohen.

Das Glück, in Freiheit und in einem Rechtsstaat zu leben, begreifen viele nicht. Es bringt manche sogar dazu, seine Institutionen zu beschädigen und sein Wertefundament lächerlich zu machen. Nicht alle Demonstrationen sind Freiheitsmärsche. Viele Menschen, denen es gut geht, wenden sich oft genau gegen genau das, wodurch es ihnen gut geht.

Deutschland fehlt eine Körpersprache des Selbstvertrauens, Europa eine kritische Masse europäischer Loyalität

Deutschland ist ein von Selbstzweifeln geplagtes Land. Ihm fehlen eine gesellschaftliche Körpersprache des Selbstvertrauens und eine mentale der Wirklichkeitsorientierung. In ihrer gegenwärtigen Verfassung scheinen Politik und Gesellschaft in Deutschland dem Vordringen autoritärer, illiberaler, nationalpopulistischer, aber auch gesinnungsdiktatorischer Bewegungen in unserer Welt und bei uns noch nicht so recht gewachsen zu sein. Albert Einstein prägte den Satz, dass die Welt nicht nur von denen bedroht wird, die böse sind, sondern auch von denen, die das Böse zulassen. Damit trifft er die sicherheitspolitische Tabuzone deutscher Politik. Es wird Deutschland eine große Überwindung kosten, sich zu einer solchen Erkenntnis durchzuringen. Wegsehen ist jedenfalls auf Dauer kein ethischer Horizont, und politischer Moralismus ersetzt nicht Urteilskraft.

Europa ist ein Zivilisationsprojekt und nicht nur ein Binnenmarkt und ein Geldautomat, aus dem man sich bei Bedarf bedienen kann. Es ist gerade deshalb aber auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft. Europa in eine reine Freihandelszone zurückfallen zu lassen, würde es zu einem reinen Zweckverband ohne Eigenschaften machen. Es muss Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verkörpern, sonst ist es der Mühe nicht wert (Dahrendorf). Es wird von der Idee getragen, dass Regeln einzuhalten sind. Mangelnde Vertragstreue fand bisher aber zu wenig Widerspruch.

Für sich selbst fordern politische und gesellschaftliche Eliten in manchen Mitgliedsländern allerdings Solidarität in schwierigen Lagen. Sie weigern sich aber wider besseres Wissen, der deprimierenden Erkenntnis ins Auge zu sehen, dass nichts schlimmer ist, als wenn man sich eingestehen muss, für die Lage, in die man geraten ist, selbst verantwortlich zu sein. Man büßt mancherorts eben nicht für die Sünden anderer, sondern für die eigenen. Es sind umfassende Strukturreformen, die notwendig sind, und eine Verabschiedung vom „Pumpkapitalismus“ (Dahrendorf). Sie brauchen eher ein Geschäftsmodell, das sie für Investitionen wieder attraktiv macht. Nur so werden gegenwärtige Problemländer wieder wettbewerbsfähig. Das Schuldendilemma ist dort eher ein Mentalitätsproblem. Der Klientelismus ist eine Wachstumsbremse, mental wie ökonomisch. Es muss kein Land im landläufigen Sprachgebrauch reich sein, um dabei zu sein. Schuld kann vergeben werden, Schulden müssen allerdings bezahlt werden. Wer beides durcheinanderbringt, kann Gläubiger werden, schrieb neulich ein Witzbold.

Die Signatur unserer Zeit scheint eine Kette unendlichen Ausweichens vor Realitäten und die Verdrängung der Folgen eigenes Tuns zu sein. Dieses Ausweichen ist nicht nur auf die Mittelmeerstaaten der Europäischen Union beschränkt. Auch in einigen kerneuropäischen Gesellschaften ist der Anteil von Menschen im Wolkenkuckucksheim gestiegen, die glauben, ihr altes Wohlstandsideal ohne wirkliche tiefgreifende strukturelle Reformen erhalten zu können. Sie wissen aber bis heute nicht, wie sie das realisieren sollen, es sei denn auf Kosten der jeweils anderen.

Öko muss logisch gedacht werden

Klimawandel ist nichts Neues. Der Treibhauseffekt hat menschliches Leben auf der Erde überhaupt erst möglich gemacht. Neu ist, dass der Mensch mit Beginn der Industrialisierung den Klimawandel mit verursacht. Daran gibt es keinen Zweifel. Dissens gibt es aber über die Konsequenzen und die Grundfrage des Umgangs mit Ungewissheit und dem Alarmismus der Umwelt-Debatte. Der Kabarettist Vince Ebert hat ihn mit einer wunderbaren satirischen Bemerkung beschrieben: „Wenn der Weltuntergang bevorstünde, würde die Süddeutsche Zeitung titeln – „und Bayern trifft´s am Härtesten“. Vince Ebert schießt mit seiner satirischen Artillerie nicht nur in eine Richtung, ein Phänomen, das ihn von manchen Gefechtsaufstellungen seiner Kollegen unterscheidet.

Leider wird die Debatte über den Klimawandel allzu oft von manchen Teilnehmern eher unter großer moralischer Aufladung geführt. Agitationsinteresse geht oft vor Sorgfalt. Apokalyptiker treten auf, die ohnehin immer das Schlimmste brauchen, sonst geht es ihnen nicht gut. So entwickelt sich neben intensiver Forschung und engagierter wissenschaftlicher Arbeit und der Suche nach Erkenntnis bisweilen im Lärm von Prognosen auch eine Anmaßung von Wissen, das den berufsethischen Tugenden der Wissenschaft schadet.

Es gibt Bewegungen, die Einschränkungen der Freiheit der Bürger als moralische Verpflichtung im Interesse der Bekämpfung des Klimawandels begründen (Rödder). Aber nicht eine große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch einen umfassend ermächtigten Lenkungsstaat mit besserwisserischen und gouvernantenhaften Zügen ist die Antwort auf neue Herausforderungen. Evolutionärer Strukturwandel durch wirtschaftlichen wie geistig-kulturellen Wettbewerb mobilisiert die nötige Innovationskraft einer Gesellschaft.

In Deutschland ist es immer „5 vor 12“. Die Zukunft sollte aber nicht zu einer Kategorie der Angst gemacht werden. Je mehr Angst, desto weniger Differenziertheit. Es droht keine Apokalypse. Panik ist kein Rezept. Wir müssen uns nicht ausschließlich mit Bedrohungsszenarien und deren unvermeidlicher Unvermeidbarkeit abfinden. Wir müssen uns nicht von Chaospropheten beraten lassen, denen es im Übrigen wie den Zeugen Jehovas geht, die den Weltuntergang schon mehrmals verschieben mussten, weil er partout nicht eintreten wollte. Die Geschichte der Menschheit ist überhaupt eine Geschichte von Weltuntergängen, die nicht stattgefunden haben.

Unser Kopf sollte der Navigator bleiben. Wer Erlösung sucht, muss beten. Wer Lösungen sucht, muss arbeiten, forschen und lernen. Öko muss logisch gedacht werden, auch wenn dabei religiöse Gefühle verletzt werden sollten. Der Klimawandel muss uns nicht Lebensraum nehmen, der demografische Wandel muss uns nicht behäbig machen. Unsere Innovationsfähigkeit muss nicht sinken. Wir müssen nicht Standards durch Rohstoffknappheit verlieren. Megatrends wie Klimawandel, Rohstoffknappheit und Demografie können auch Energie-Effizienz, ressourcensparende Produktionsprozesse, neue Mobilitätskonzepte und technologische Substitutionen hervorrufen und tun es auch schon (Roland Berger). Wachstum ist nicht immer mehr, sondern immer besser.

Wirklich nachhaltige, „enkeltaugliche Politik“ (Neos) muss für die kommenden Generationen einen „Kapitalstock“ bereitstellen, der es ihnen ermöglicht, ihr eigenes Leben in Freiheit zu gestalten. Zu einem solchen Kaptialstock wirklicher Nachhaltigkeit gehören neben einer lebenswerten Umwelt auch technologische Innovationsbereitschaft, solide Finanz- und Wirtschaftspolitik, Regeln für den Wettbewerb, ein faires Steuersystem und Generationengerechtigkeit. Im Werkzeugkasten umweltpolitischer Meinungsbesitzer findet sich dazu nichts.

Alles zu verstehen bedeutet nicht, alles zu billigen

Seit Renaissance und Aufklärung hat sich in Europa eine neue Welt durchgesetzt. Es gibt aber alte Gegengewichte des Neuen. Manche Menschen vertreten ihren Glauben und ihre Überzeugung in einer Art von Gewissheit, die jede Kultur der Toleranz zerstört. Solchen Vertretern einer konfrontativen Weltsicht darf man die Bühne nicht durch eine ignorante Toleranz überlassen. Alles zu verstehen kann nicht bedeuten, alles zu billigen. Der Rechtsstaat kann keinen Kulturrabatt geben, wenn Menschenrechte auf dem Spiel stehen.

Wir müssen nicht religiöse Auslegungen akzeptieren, die das Kollektiv über das Individuum stellen oder den Mann über die Frau, die die Minderheitenrechte missachten und Andersdenkende bedrohen und Menschen in die Knie zwingen, statt ihnen auf die Beine zu helfen. Wir müssen den Anspruch an Religionen erheben, zur praktischen Toleranz fähig zu sein. Wir dürfen sie fragen, welche zivilisatorische Idee sie uns vorzuschlagen haben, welches Rechtssystem, welches Bildungssystem, welche öffentliche Ordnung und welches Menschenbild sie beherbergen, welche Bücher in ihren Bibliotheken stehen.

Eine Religion, so schrieb der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus, sollte Gott verehren, aber nicht selbst Gott spielen. Das gilt für alle Fundamentalisten und Letztbegründungsapologeten, wo immer sie sich aufhalten. Ob sie nun Evangelikale sind oder Angehörige muslimischer Gemeinschaften oder Pius-Brüder oder in ethnisch-nationalistischen Orthodoxien vertreten.

Freiheitliche Gesellschaften müssen sich gegenüber Gegnern freiheitlicher Ordnung zur Verteidigung ihrer eigenen Werte entschließen. Sie müssen Selbstbehauptungswillen zeigen, der sich der Grundlagen der eigenen Ordnung bewusst ist. Die Vielfalt der Kulturen fängt damit an, die eigene zu erkennen, in ihren Fehlern und Schwächen, aber auch in ihrer Kraft. Wer sich selbst nicht mag, der kann auch niemanden integrieren.

Wer wenig weiß, muss zu viel glauben

Ralf Dahrendorf beschrieb wie kein anderer die Heimsuchung Europas durch den Nationalsozialismus mit Bindung und Führung, ein damals wie mancherorts auch heute verführerisches Angebot der Erleichterung für Menschen, die sich gerne an einem Leitseil führen lassen. Er beschrieb Stalinismus mit Bindung und Erlösung. Beide Ideologien wollten einen neuen Menschen schaffen und appellierten dabei an seine niedersten Instinkte.

Totalitäre Züge in beiden Ideologien wurden lange nicht erkannt, im Übrigen auch von Menschen, die sich gerne selbst als Intellektuelle sahen und gerne als solche gesehen werden wollten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Auch heute greifen Menschen immer wieder zu verführerischen Angeboten aus der politischen Apotheke. Sie lesen nicht die Beipackzettel und achten nicht auf Nebenwirkungen und Verfallsdaten. Sie wollen zwar immer die Wahrheit hören, wählen aber oft die Märchenerzähler.

Für politische Bildung gibt es kein Schulfach, keinen Studiengang zum Diplom-Bürger und auch keine Handwerksordnung. Zu wissen, worüber man redet, wäre aber schon ganz gut. Wenn die liberale Demokratie überleben will, gilt es, größte Anstrengungen zu unternehmen, dass die Fähigkeit, politischen Argumentationen zu folgen und die Stichhaltigkeit und Triftigkeit der Argumente einigermaßen bewerten zu können, gestärkt wird. Dafür muss man nicht über Wissen auf allen Gebieten verfügen, man muss allerdings Wirkungszusammenhänge politischer Entscheidungen einigermaßen beurteilen können. Daran hapert es in Deutschland gewaltig. Hierzulande herrscht sehr oft Gesinnung über Urteilsvermögen.

Es gilt, Gesellschaft, Politik und Ökonomie durch Orientierungswissen und Deutungsfähigkeit beurteilen zu können, eine gewisse Unsicherheitstoleranz aufzubringen, mit der komplizierte, mehrdeutige Situationen bewältigt werden können. Es ist falsch, auf solche Situationen resigniert oder aggressiv zu reagieren und populistischen Lösungsansätzen anheim zu fallen. Menschen müssen die Begrenztheit politischer Möglichkeiten erkennen, die Komplexität der Welt. Das geht aber nur, wenn man genauer hinsieht. Nur so entsteht urteilsfähiges Selbstdenken. Es gibt zu viele kognitive Geizhälse, die sich genau das aber lieber ersparen.

Der Politik wurde in der Corona-Krise eine Macht zugestanden, die vorher undenkbar erschien. Sie konnte in bisher ungewohnten Handlungsspielräumen und für immer komplexer sich entwickelnde Probleme harte Entscheidungen treffen, die verfassungsrechtlich an die Grenzen gingen (FAZ). Um die Pandemie zu bekämpfen, ging es zunächst um administrative Anstrengungen in Kapazitäten von Krankenhäusern, Forschungsinstituten, „vielerlei“ Formen von Notbetreuung und Organisation von Fernunterricht. Es wurden in bisher kaum für möglich gehaltenen Größenordnungen finanzielle Mittel bereitgestellt, um eine Brücke im Bereich der Ökonomie zu bauen. Und das Ganze ist noch lange nicht am Ende, denn es gibt weitere Forderungen aus der Gesellschaft selbst, die in vielen Fällen Züge einer Staatskundschaft trägt und die, was die Fähigkeit der Selbstkontrolle betrifft, schwächer und uneinsichtiger geworden ist.

Eine Krise ist immer auch eine Chance, aber nur dann, wenn sie auch Wandel ermöglicht. Die Herausforderung, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben, kostet nicht nur Geld. Unsere Gesellschaft muss vor allem zu Anstrengungen fähig und willens sein, die auch jenseits von materiellen Anreizen liegen. Die Zukunft wird zeigen, wie es um die eigentliche zivilgesellschaftliche Kraft der deutschen Gesellschaft und ihre mentale Verfassung und ihre Fairness bestellt ist, wenn nach der Verteilung von Geld der Staat auch wieder den Rückzug antreten muss und man sich wieder die Hand geben kann.

Freiheit bringt Probleme mit sich, aber sie können nur in Freiheit gelöst werden

Die „charms of liberty“ die nach Dahrendorf die Geburtsstunden freier Ordnungen umwehen, wehen nicht jeden Tag. „Viele Menschen können sich nur schwer für den politischen Liberalismus erwärmen. Wer FDP wählt, muss alles selber machen und das mögen viele nicht. Vor allem, wenn es ein gewisses Modernitätspensum verlangt, eine Selbstbeanspruchungsbereitschaft, Anstrengungen zur Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit und Engagement zur Sicherung einer freiheitlichen Gesellschaft.

Weltweit ist freiheitliche Politik nötiger denn je. Sie ist die Botschaft der Menschenrechte, des Humanismus und die Politik für eine verantwortungsbewusste Gesellschaft. Sie weiß, dass Demokratie zerbrechlich ist und dass Toleranz nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden darf. Dass Wohlstand mit Anstrengung verbunden ist und Marktwirtschaft faire Spielregeln haben muss. Dass die Würde des Menschen nicht verletzt werden darf und dass Hunger die Menschen entwürdigt. Dass neues Denken Courage erfordert und Stagnation jegliche Kreativität zerstören kann. Dass sich Politik nicht im Gebrauch politischer Fertigkeiten erschöpfen darf, sondern dass sie Passion, programmatische Substanz, eine Breite an Fähigkeiten und Bildung sowie ein Bewusstsein für Normen und zivilisatorische Aufgabe beinhalten muss. Es geht dabei nicht nur um Wissen und Können. Es geht um Charakter und Haltung. Es geht um die Frage, wie wir miteinander umgehen. Es geht um die Renaissance der Verantwortung in Freiheit. Auf unsere politische Agenda gehört eine Selbstvergewisserung darüber, was Freiheit ausmacht und was sie uns bedeutet.

Freiheitliche Gesellschaften sind immer ein großes soziales Experiment. Auf ihren Gleichgewichtssinn kommt es an, auf eine immer wieder neue Verbindung von Offenheit, von Herkunftsbewusstsein, von Altem und Neuem. In Deutschland geht es deshalb angesichts vieler illiberaler Bewegungen um die Behauptung der Mitte, um die Weiterführung der Erfolgsgeschichte des Landes, für das die Freie Demokraten die Verantwortung haben. Um die Abwehr der politischen Ränder, um Augenmaß, um Vernunft, um die Sicherung seiner Freiheit. Das klingt jetzt groß, und das ist es auch. Walter Scheel sagt auf dem legendären Freiburger Parteitag, auf dem er gewählt wurde: „Wenn die Aufgabe groß ist, dann ist sie eben groß, und dann darf man nicht verzagt antworten“. Für Freie Demokraten gilt das auch heute.

Für Freie Demokraten muss es darum gehen, ein Bewusstsein für die neuen Herausforderungen zu schaffen, eine Haltung zu deren Bewältigung zu entwickeln, eine den Aufgaben entsprechende öffentliche Meinung herzustellen und so das gesellschaftliche Klima zu prägen. Sie müssen in Anlehnung an einen Satz von Alfred Herrhausen dazu klar sagen, was sie denken. Sie müssen das, was sie sagen, dann auch tun. Und sie müssen das, was sie tun, dann auch sein. Da ist noch Luft nach oben, und es ist keine Zeit zu verlieren.