Die Welt anrempeln: Kultautor Wolf Wondratschek wird 80 | BR24
Der Dichter Wolf Wondratschek schaut für ein Porträtfoto in die Kamera
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Anrempeln kann er immer noch ganz ordentlich: Der in München und Wien lebende Wolf Wondratschek begeht am 14.8. seinen 80. Geburtstag

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Die Welt anrempeln: Kultautor Wolf Wondratschek wird 80

"Früher begann der Tag mit einer Schusswunde": Was sein legendärer erster Buchtitel von 1969 versprach, das hielt Wondratschek in den 1970ern auch, als radikal antibürgerlich auftretender Bestseller-Dichter. Nun wird der wilde Wolf 80 – und zahmer.

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Es ist jetzt vierzig Jahre her, dass der Lyriker Wolf Wondratschek von einem jungen Journalisten namens Diedrich Diederichsen im "Spiegel" attackiert wurde, mit den Worten: "Provo und eigentlich doch stockbürgerlich. Wolf Wondratschek ist Uschi Glas."

Müde Männlichkeit

Dieser Verriss 1983 war natürlich seinerseits reine Provokation. "Ach, ist das alles verdammt männlich" lautete seine Überschrift. Der Rezensent machte in des Dichters Zeilen "missratene Gesten einer müden Männlichkeit" aus.

Wenn Wolf Wondratschek als nun 80-Jähriger das Eröffnungsgedicht seines neuen Bandes "Die Kunst, müde zu sein" nennt, wirkt das wie eine souveräne späte Replik auf jene Kritik. Das Gesamtwerk Wondratscheks wäre überhaupt mal einen eigenen Versuch über die Müdigkeit wert, denn bei ihm sind schon in jungen Jahren Männer müde, "hundemüde" und sei es, dass sie manchmal "müde von schlechten Gedanken" sind.

"Ich bin müde / und falle fünfhundert Meter tief ins Bett. / Die Technik wird es schon schaffen, / aus etwas Schlamm / etwas noch Schlimmeres zu machen / als einen neuen Menschen."

Das ist der verführerische Wondratschek-Sound aus seinem bis heute erfolgreichsten Gedichtband, "Chuck’s Zimmer" von 1974. Der Ton sentimentalischer Dichtung, der bis heute die Poesie dieses sonoren Sängers der Einsamkeit, der leichten und schweren Lieben prägt. "Das ist es: Schönheit ist Einfachheit." So steht es im neuen schmalen Band "Einige Gedichte", der so klein und handlich sei, damit er in jede Jackentasche passe, erklärt er am Telefon. Ja, er sei, wiewohl in Wien lebend seit langem, gerade mal wieder in München.

Eine Art, die Welt anzurempeln

Und: Nein, ins Funkhaus wolle er nicht kommen. Aber man könne doch seine Erzählung "Der Feuerwehrmann" senden, die sein Freund Peter Simonischek extra für ihn noch vor seinem Tod eingelesen habe. Im Übrigen gelte für Medienmenschen und Hausbesuche das Diktum aus seinem neuen Gedichtband: "Ganz klar ist es kein Haus für Journalisten." Gut, geht man also ins Schallarchiv und lauscht ihm dort.

"Man muss nicht einmal ein einziges Gedicht geschrieben haben, um ein Dichter zu sein", sagt Wondratschek da. "Es ist eine Haltung, die man hat. Es ist irgendeine Art, die Welt anzurempeln, die ich mir angewöhnt habe. Wahrscheinlich bin ich mit dieser Begabung geboren."

Anrempeln und ankoffern kann er immer noch ganz ordentlich. Nicht ohne Grund heißt eines seiner Bücher "Die große Beleidigung". Und dieses Buch hat ein Motto: "Da gibt es ein Zitat von Vladimir Nabokov", so Wondratschek, "und er sagt: 'Ich für meinen Teil konnte niemals einsehen, wozu es gut sein sollte, sich Bücher auszudenken und Dinge niederzuschreiben, die sich nicht in der einen oder anderen Form tatsächlich ereignet haben.'"

Tausende und abertausende Zigaretten

Dieser Satz Nabokovs charakterisiert Wondratscheks Schreiben bis heute. Die Realien sind ihm wichtig. Wondratschek hat die Parole aus William Carlos Williamsʼ großem Gesang "Paterson" so inhaliert wie tausende und abertausende Zigaretten: "No ideas but in things." – "Keine Ideen außer in Dingen." Das macht seine Gedichte so gegenständlich und bescherte ihm zeitweise legendär hohe Auflagenzahlen.

"Truman Capote hat ja mal arrogant, aber wunderbar gesagt: 'Ich kann auch nichts dafür, ich werfe Wörter in die Luft und sie fallen in der richtigen Weise aufs Papier'", sagt Wondratschek. "Das ist mir auch einige Male schon passiert, und ich habe sie immer als ein Geschenk empfunden."

Auch im neuen Gedichtband, der nun pünktlich zum runden Geburtstag vorliegt, gibt es die ein oder andere Zeile, die hängenbleibt. Über andere Musiker kann der Cellospieler Wondratschek nach wie vor sehr gut schreiben: Den Pianisten Jewgeni Kissin verewigt er in "Kissin auf Youtube" mit den Versen:

"Kissin spielt Beethoven / über die Tasten gebeugt wie ein Leser über ein Buch, / mit einer Konzentration, die alles Eilige nicht kennt. / So einen Leser, das weiß ich jetzt, gibt es also, / auch wenn er, die ganze dunkle Ruhe einer letzten / Wahrheit in Händen, vor einem Klavier sitzt. // Nichts, was geschrieben, ist heilig, / aber macht es nicht kaputt."

Wolf Wondratschek: "Einige Gedichte". Ullstein Verlag. Berlin 2023. 76 Seiten, 18 Euro.

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