Eigentlich will Anna (Martina Gedeck) ihrer Freundin ja nur einen Gefallen tun. Also nimmt sie deren Tochter Stella für zehn Monate im Mansardenzimmer der Familienvilla auf. Man hat schließlich Platz, verdient gut, der Gatte Richard (Matthias Brandt) ist erfolgreicher Anwalt.
Von einem erfüllten Familienleben kann trotz zweier Kinder keine Rede sein, Richard glänzt durch Abwesenheit, kann aber ziemlich gut mit der jüngeren, frisch schulpflichtig gewordenen Tochter, während die Mutter die Nähe zum Sohn im Teenageralter sucht. Stella, die Gaststudentin, die auch ein Au-pair-Mädchen sein könnte, stört das innerfamiliäre Gleichgewicht, ja sie wird sogar sterben.
Genauer gesagt wird sie schon zu Beginn des Films auf der Totenbahre liegen, bevor der ganze Film als seziererische Rückschau und Schuldbekenntnis beginnt. Stella zeigt in dieser Szene ein unfalldeformiertes Gesicht, das sich Julian Pölsler als Plastinat bei Gunther von Hagens geborgt haben könnte.
Definitiv kein Film zum Wohlfühlen, und dennoch ein Familienfilm. Wer „Wir töten Stella“ (nach der gleichnamigen Novelle von Marlen Haushofer) schaut, wird mit einem unheimlich beklemmenden Kammerspiel belohnt, einer Vorführung in Empathielosigkeit, Mitwisserschaft und eisigem Schweigen über nur angedeutete ungeheuerliche Dinge, die da passieren.
Der späte Ruhm der Marlen Haushofer
Haushofer ist die österreichische Schriftstellerin, die seit einigen Jahren posthum den Ruhm erntet, der ihr zu Lebzeiten (1920–1970) versagt blieb. Julian Roman Pölsler, dessen Verfilmung von Haushofers Roman „Die Wand“ vor einigen Jahren für Aufsehen sorgte, empfiehlt sich auch hier als Haushofer-Interpret. Offenbar entsteht gerade eine Haushofer-Trilogie, und man kann „Wir töten Stella“ als Prequel zur „Wand“ sehen, jener dystopischen Geschichte um eine Frau, die – eingesperrt hinter einer unsichtbaren Wand – einsam in einem Bergtal überlebt und sich die Einsamkeit von der Seele schreibt.
„Ich werde Stella vergessen müssen, wenn ich mein altes, ruhiges Leben wieder aufnehmen will“, sagt Anna jetzt in „Wir töten Stella“. Martina Gedeck spielt wieder die Hauptrolle und Icherzählerin in Personalunion. Erzählerisch ist der Film großteils ein illustrierter innerer Monolog. Das sich daraus ergebende Übermaß an Reflexionen aus dem Off (zulasten von Spielszenen) ist das Manko von „Wir töten Stella“.
Es ist das offenbar gewollte Zugeständnis an die literarische Vorlage, die ihrerseits nur vage umschreibt, was der Film seinerseits diskret in der Schwebe hält, was die Sache andererseits enervierend macht, denn Spannung oder Plot im filmischen Sinne entstehen so kaum.
Der Zuschauer weiß von Anfang an alles
Justiziabel oder pathologisch gesprochen hat man es 90 Minuten lang mit dem Tatbestand des Missbrauchs einer Schutzbefohlenen, dem Tatbestand der sexuellen Nötigung (oder gar Vergewaltigung?) und mutmaßlicher Suizidfolge zu tun. Der Zuschauer weiß alles von Anfang an. Er muss ohnmächtig zuschauen, wie die Ehefrau, ja die ganze Familie es weiß und duldet, dass das von der Erzählerin einmal als „Raubtier“ beschriebene Familienoberhaupt sich mit der schutzbefohlenen Studentin Stella einlässt, um bald wieder von ihr abzulassen.
Matthias Brandt spielt die Rolle des raubtierhaften Anwalts, der für seine eigenen (auch sexuellen) Interessen über Leichen geht, bravourös. Martina Gedeck ist die Verkörperung der auf Wortlosigkeit abonnierten, scheinbar gefühlsspröden Ohnmacht. Indem sie das alles aushält, ja Stella mit roten Rotkäppchenkleidern ausgestattet und zur attraktiven Jungfrau kostümiert hat, macht sie sich mitschuldig.
Mitwissenschaft und Schweigen
Haushofers 1958 erschienene Geschichte handelt vom Mangel an Empathie, einer (inzestuös unausgelebten) Mutter-Sohn-Liebe und einer geduldeten Vater-Gasttochter-Affäre. Letztlich geht es um Schuld durch Mitwisserschaft und Beschweigen. Zeithistorisch und wegen des Namens der Titelheldin konnte man das, wie Haushofers Biografin Daniela Strigl andeutet, alles auch als Parabel auf den Umgang der Deutschen und Österreicher mit dem Holocaust verstanden wissen.
Auf diese zeithistorische Lesart lässt sich der Film nicht ein. Er bleibt im Setting des familienpsychologischen Kammerspiels und erlaubt sich ein paar expressionistische Szenen und sogar Reminiszenzen an „Die Wand“. Die Berghütte in dem Tal und der Uferweg an dem See, der die Szenerie von „Die Wand“ bestimmt hatte, tauchen einmal als Ausflugsziel der Familie auf.
Auch das Motiv der unsichtbaren Glaswand ist wieder da; es gehört expressis verbis zum Bildinventar von Haushofers Novelle „Wir töten Stella“; lesbar als surreales Symbol für die klaustrophobische Enge einer Familie, in der sich am Ende beinahe jedes Mitglied auf seine Weise schuldig gemacht haben wird – sogar der Sohn, der dem Gebaren des Vaters und den Avancen der Mutter im Film durch viel Musik auf den Ohren und mediale Videomitschnitte begegnet.
Ein Prequel zur „Wand“
Wo Haushofers Novelle in den 50er-Jahren spielt, verlagert Pölsler das Geschehen ins Hier und Jetzt, es gibt Handyvideos und Flachbildschirme, und die Mutter ist im Film nicht mehr nur Hausfrau, sondern geduldete Schriftstellerin (wie Haushofer selbst). Zumindest empfängt sie während des ganzen Films wiederholt dicke DIN-A4-Kuverts. Sind das die unverlangt an Verlage eingesandten und nun ungelesen zurückerhaltenen Manuskripte?
Pölsler übersetzt die Seziermanier der literarischen Vorlage in die atmosphärische Unbehaustheit einer großbürgerlich-kalten Stadtvilla. Er bannt die emotionale Leere und innere Distanz in architektonische Fluchten und überwachungskameraähnliche Perspektiven. Während die literarische Vorlage sich als Dokument einer einsamen Icherzählerin versteht, die sich eine Last von der Seele schreiben will, übersetzt der Film das Mitwisser- und Kassandra-Motiv der Icherzählerin in eine Konstellation familiärer Zeugenschaft, die sich medial konsequent multipliziert.
Der Vogel als Symbol
Der Sohn verfügt offenbar über ein System aus versteckten Digicams und Handyvideobeweisen, die den Vater bei seinen sexuellen Verfehlungen mit der Studentin Stella ebenso zeigen sowie Mitschnitte, auf denen eine raunende Christa Wolf aus ihrer „Kassandra“ liest. Nicht fehlen darf auch der Vogel, der Stellas Situation auf der Symbol- und Bildebene in der literarischen Vorlage fast schon fabelhaft auf den Punkt bringt.
Der Jungvogel, der, noch bevor er richtig flügge werden konnte, aus dem Nest gefallen war und als Balg ohne Mutterfürsorge im Gesträuch verendet und bald verschwunden sein wird, als hätte es ihn nie gegeben. Um die Schuld, von diesem Vogel gewusst zu haben, ohne ihm helfen zu können, handelt „Wir töten Stella“.