Nach einem Krieg ist man normalerweise klüger als vorher. Am 27. März 1940 notierte der Bulgare Georgi Dimitroff, Stalins Vertrauter an der Spitze der Kommunistischen Internationale, über den zwei Wochen zuvor beendeten sowjetisch-finnischen Winterkrieg in sein Tagebuch: „Unsere Verluste betragen 233.000 Mann, davon 52.000 Tote; Finnen – 70.000 Tote und 200.000 Verletzte“. Als eine der nötigen Konsequenzen hielt Dimitroff außerdem fest: „Die Mannerheim-Linie vor Ort studieren“.
An dem Eintrag stimmte wenig: Die sowjetischen Verluste waren bedeutend höher – die Schätzungen schwanken heute zwischen 127.000 und 265.000 gefallenen Rotarmisten, die der finnischen Armee lagen weitaus niedriger bei etwa 27.000 toten und 45.000 verwundeten Soldaten. Die Mannerheim-Linie dagegen gab es, auch wenn sie offiziell nie so hieß.
Als nach dem sowjetischen Überfall auf das kleine Nachbarland, kaschiert mit einer angeblichen kommunistischen Revolution gegen die Regierung in Helsinki, der Vormarsch der Roten Armee Anfang Dezember 1939 rasch ins Stocken geriet, tauchte diese „Linie“ plötzlich in Presseberichten rund um die Welt auf. Ihren Namen erhielt sie in Anlehnung an den finnischen Oberkommandieren Carl Gustaf Emil Mannerheim. Aber was verbarg sich dahinter?
Jedenfalls keine voll ausgebaute und geschlossene Verteidigungsstellung wie etwa die Maginot-Linie in Ostfrankreich. Vielmehr handelte es sich um eine teilweise mit Bunker verstärkte, teilweise aus wenig mehr als Schützengräben und Drahtverhauen bestehende Befestigung etwa 75 Kilometer nördlich von St. Petersburg. Sie verlief quer über die Karelische Landenge zwischen dem Ladogasee und dem Finnischen Meerbusen, einer lang gestreckten Bucht der Ostsee.
In ihrer östlichen knappen Hälfte bestand die sogenannte Mannerheim-Linie vor allem aus dem meist seeartig verbreiterten Fluss Vuoksi. Dessen Nordufer war mit Aussichtsposten und einigen Artilleriebunkern versehen. Für eine motorisierte Armee stellte der Vuoksi bis auf eine natürliche, von zwei Brücken überspannte Engstelle bei Lesovo eine nahezu unpassierbare Hürde dar.
Im westlichen Teil dagegen, wo es keine derartigen natürlichen Hindernisse gegen einen militärischen Vormarsch gab, waren Feldbefestigungen errichtet worden. Darunter mehr als 500 MG-Stellungen, mehr als hundert Kilometer Panzersperren und weit über 400 Unterstände teilweise aus Beton.
Dennoch handelte es sich bei der Mannerheim-Linie eben nicht um ein vollwertiges Festungsbauwerk wie etwa die Maginot-Linie, die als Konsequenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges eine undurchdringliche Front darstellen sollte (und im Mai 1940 kläglich versagte). Vielmehr war das Konzept der Verteidigungswerke stets, den befürchteten Vormarsch der Roten Armee so lange zu verzögern, bis das kleine Finnland internationale Hilfe bekäme. Das erwies sich allerdings 1939/40 als Fehlkalkulation.
Stalin strebte Ende der 1930er-Jahre nach einer Arrondierung der damaligen sowjetischen Grenzen, um die UdSSR mittelfristig wieder auf den Gebietsstand des alten Zarenreiches zu bringen. Es ging also um die Rückkehr zu ehemaliger Größe auf Kosten anderer, inzwischen unabhängiger Nationen – ein rein imperialistischer Ansatz. Im Fokus waren dabei vor allem Polen, das Baltikum und eben Finnland.
Der erste Schritt auf diesem Weg war der Hitler-Stalin-Pakt (korrekt eigentlich Ribbentrop-Molotow-Pakt) vom 23. August 1939, der faktisch zur Aufteilung Polens zwischen der nationalsozialistischen und der bolschewistischen Diktatur führte.
Ende September und Anfang Oktober 1939 zwang dann die UdSSR die drei baltischen Republiken, vermeintliche Beistandsverträge zu unterzeichnen. Sie erlaubten es der Roten Armee, Stützpunkte auf dem Gebiet von Estland, Lettland und Litauen zu errichten – faktisch das Ende der Unabhängigkeit.
Angesichts des durch Hitlers Angriff auf Polen ausgelösten Zweiten Weltkrieges sahen sich Großbritannien und Frankreich nicht in der Lage, auf Stalin politischen Druck aufzubauen, seine aggressive Außenpolitik zu revidieren. Das nach heißen Kriegen gierende nationalsozialistische Deutschland war einfach noch gefährlicher.
Dennoch lehnte Finnland das sowjetische Verlangen nach einem ähnlichen Knebelvertrag wie zwischen der UdSSR und den drei baltischen Staaten ab. Das war sich die erst zwei Jahrzehnte unabhängige Nation selbst schuldig.
Natürlich änderte das an Stalins aggressiver Haltung gar nichts. Die unbedeutenden finnischen Kommunisten wurden beauftragt, einen Kriegsgrund herbeizuführen. Die Regierung in Helsinki versuchte noch, durch ein Zugeständnis – die Abtretung einer Kleinstadt südlich der Verteidigungslinie – der UdSSR entgegenzukommen.
Doch weil der finnische Armeegeheimdienst der Meinung war, die Rote Armee sei gegenwärtig nicht kampffähig, blieb die Regierung im Übrigen hart. Das Problem: Stalin und seine Helfershelfer war der Zustand ihrer eigenen Armee völlig gleichgültig, ebenso die Opfer, die der Angriff einer eigentlich nicht einsatzfähigen Armee absehbar kosten würde.
So begann Ende November 1939 die Offensive. Die Informationen des finnischen Geheimdienstes erwiesen sich als weitgehend zutreffend: Die Rote Armee war unvorbereitet, zumindest auf einen Angriff im tiefsten Winter. Die vordersten sowjetischen Divisionen benötigten bei eisigen Temperaturen eine Woche, um die 50 bis 60 Kilometer zwischen der Staatsgrenze und der finnischen Befestigungslinie zu überwinden.
Obwohl deren Bunker und Panzersperren eher löchrig waren, blieb die Rote Armee davor hängen. Die auf eine Verteidigung im Winter vorbereiteten Finnen hielten ihre Stellungen, vor denen immer mehr Rotarmisten starben.
Politisch sah es kurz danach aus, als ob das Kalkül der Regierung in Helsinki doch aufgehen könnte. Iwan Maiski, Stalins Botschafter in London, notierte in sein Tagebuch: „Die langsamen Fortschritte in Finnland sind Wasser auf die Mühlen derer, die in London eine hysterische antisowjetische Kampagne anzetteln.“ Maiski, der ein skrupelloser Lügner im Dienste seines Herrn Stalin war, aber zugleich ein intelligenter Mann, jammerte, die UdSSR werde „auf die Anklagebank“ gesetzt: „Lügen, üble Nachrede, Verzerrungen – alles wird man zu diesem Zweck einsetzen.“ Dabei waren so gut wie alle Vorwürfe, die in London gegenüber der Sowjetunion erhoben wurden, schlichtweg zutreffend.
Die Sowjetunion wurde auf Initiative aus London und Paris mit Wirkung zum 14. Dezember 1939 aus dem Völkerbund ausgeschlossen – eine längst überfällige Maßnahme. Angesichts der Bedeutungslosigkeit dieser Organisation schmerzte das Stalin nicht weiter.
Damit allerdings hatte die britische Regierung um Neville Chamberlain ihre Kraft für Maßnahmen gegenüber Moskau aufgebraucht. Die Londoner Presse berichtete noch vom tatsächlich heldenhaften Kampf der Finnen gegen die Rote Armee an der Mannerheim-Linie. Doch wirkliche Unterstützung kam nicht, denn alle Ressourcen mussten auf die Abwehr des sicher bevorstehenden Angriffs von Stalins Verbündeten Adolf Hitler konzentriert werden.
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