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Geschichte Wilhelm Zaisser

Wie der Stasi-Chef seine braunen Kontakte verbarg

Die Lieblingsschwester des ersten Stasi-Chefs lebte seit Mitte der 1930er-Jahre in wilder Ehe mit dem hochrangigen NS-Funktionär und SS-General Karl Patry. Spätestens ab 1948 wusste Wilhelm Zaisser das auch.
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Quelle: WELT

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Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Man kann den Kontakt zu Eltern oder Geschwistern abbrechen, sich sogar formal lossagen von ihnen – verwandt bleibt man trotzdem. In der SED war „Westverwandtschaft“ stets verpönt, mehr noch in der Stasi, der Geheimpolizei des kommunistischen Regimes. Sie verlangte Ehrlichkeit: Wer Angehörige im Westen hatte, musste darüber Auskunft geben. Denn solche Verbindungen galten als sicherheitsrelevant.

Ausgerechnet der erste Stasi-Chef Wilhelm Zaisser scherte sich wenig um dieses Prinzip. Das hat der Historiker Helmut Müller-Enbergs herausgefunden. Der Stasi-Experte ist unter anderem für die Entdeckung bekannt, dass der Mörder des West-Berliner Studenten Benno Ohnesorg ein Stasi-Spitzel war.

WON Kombo Wilhem Zaisser - Karl Patry Foto links veröffentlicht unter Lizenz CC-BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en
Der erste Stasi-Chef Wilhem Zaisser und sein faktischer Schwager, der NSDAP- und SS-Funktionär Karl Patry, hier in Wehrmachtsuniform als Generalmajor
Quelle: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 175-04246/CC-BY-SA 3.0; Archiv Müller-Enbergs

Müller-Enbergs hat sich die Westverwandtschaft von Zaisser angesehen und ist auf Erstaunliches gestoßen. Die Ergebnisse seiner Archivforschungen sind in dem Sammelband „Konflikt und Kooperation. Die Ostsee als Handlungs- und Kulturraum“ erschienen.

Zaisser, geboren 1893 im Ruhrgebiet, war eigentlich Volksschullehrer, aber schon seit September 1919 überzeugter Kommunist. Seine zwei Brüder waren im Ersten Weltkrieg gefallen, so bleiben noch zwei jüngere Schwestern, Johanna und Maria.

Der ehemalige königlich-preußische Reserveoffizier galt als aussichtsreicher Nachwuchs der bolschewistischen Nomenklatura. 1924 war er zum ersten Mal zu einem Lehrgang in Moskau, seit 1927 arbeitete er hauptsächlich im Ausland als Militärberater für die kommunistische Weltrevolution.

Maria Zaisser. Credit Archiv Müller-Enbergs. via SFK
Maria Zaisser. die Lieblingsschwester des ersten Stasi-Chefs
Quelle: Archiv Müller-Enbergs

Ob er in dieser Zeit Kontakt zu seinen beiden Schwestern hatte, ist unbekannt. Jedenfalls gab er am 16. Februar 1947 in einem Fragebogen über seine Westverwandtschaft an: „Früher politisch neutral; jetzige Einstellung der Schwestern mir unbekannt.“

Zaisser war zu dieser Zeit gerade aus Moskau in Ost-Berlin eingetroffen. Er sollte als Vertrauensmann der KPdSU eine wichtige Funktion in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland übernehmen. Zunächst wurde er Chef der Landespolizei Sachsen-Anhalt in Halle.

Seine Schwester Johanna, die im nordhessischen Mengeringhausen lebte, besuchte ihn mit ihrem Mann zwei- oder dreimal in Halle; die dafür notwendigen Interzonenpässe stellte ein US-Offizier in Korbach aus. Offenbar war es der erste Kontakt Zaissers seit rund zwei Jahrzehnten.

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Gut ein Jahr später, als Zaisser für die SED Innenminister des Landes Sachsen wurde, schrieb er in einem weiteren Fragebogen über seine Westverwandtschaft: „eine Schwester Mitglied der NSDAP seit 1937“.

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Damit war Maria Anna Zaisser gemeint, das jüngste Kind der Familie und laut einem von Müller-Enbergs entdeckten Dossier eines westlichen Geheimdienstes über Wilhelm Zaisser seine „Lieblingsschwester“. Offiziell blieb sie ihr Leben lang unverheiratet. Doch das war nur die halbe Wahrheit.

Denn seit August 1935 arbeitete sie als Wirtschafterin im Gutshof von Karl Patry in Hattenbach (Mittelhessen) und war sogar für die Erziehung seiner drei Söhne zuständig, obwohl deren Mutter Paula auf demselben Gutshof wohnte. Offenbar lebte der Hausherr mit Paula und Maria in einer Menage à trois; er war damit so etwas wie ein inoffizieller Schwager von Wilhelm Zaisser.

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Wann genau der Kommunist davon erfuhr, ist unklar; Müller-Enbergs hält es für „abwegig“, dass Zaisser 1947/48 seine Verwandten in Hessen besucht haben könnte, wie es in dem Dossier eines nicht genauer zu bestimmenden westlichen Dienstes über ihn heißt.

In jedem Fall hatte Wilhelm Zaisser allen Grund, die Beziehung seiner Schwester zu Patry offiziell nicht zu kennen. Denn der De-facto-Schwager war bis 1945 ein hochrangiger Nazi und SS-Führer gewesen. Gut möglich, dass diese Westverwandtschaft Zaissers Karriere als Vertrauensmann Moskaus in der SED-Führung unterminiert hätte.

Karl Patry war schon im Mai 1930 in die NSDAP eingetreten, seine Mitgliedsnummer lautete 237.771. Er war also ein „Alter Kämpfer“ – so nannten sich jene Hitler-Anhänger stolz, die vor dem Erdrutschsieg im September 1930 zur „Bewegung“ gefunden hatten.

Zusätzlich gehörte Patry zur SS – Mitglieds-Nr. 276.585; nach 1933 machte er sowohl in der Partei wie in Himmlers Orden rasch Karriere. Offenbar zählte er zu jenen zahlreichen Nationalsozialisten, die vor Ort radikal die rassistische Weltanschauung Hitlers umsetzten.

Im Zweiten Weltkrieg war Patry als Mitglied des Einsatzstabes Rosenberg unter anderem für die Ausplünderung der besetzten Ukraine zuständig. Er erfüllte seine Aufgabe zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten und bekam eine SS-Beförderung nach der anderen, zuletzt am 30. Januar 1945 zum SS-Brigadeführer, was dem Rang eines Generalmajors der Wehrmacht entsprach.

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Wahrscheinlich Patry sorgte dafür, dass seine Geliebte Maria Zaisser nach Aufhebung der Aufnahmesperre am 1. Mai 1937 in die NSDAP eintreten konnte. Zu dieser Zeit waren nur rund fünf Prozent der Parteimitglieder weiblich. Umgekehrt kamen mehr als 99 Prozent aller erwachsenen deutschen Frauen nicht zu der „Ehre“, in die NSDAP aufgenommen zu werden.

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Quelle: N24

Die genauen Beziehungen zwischen Wilhelm Zaisser und Karl Patry sind unbekannt. Es fällt aber auf, dass der NSDAP-Funktionär nach 1945 bis auf eine zeitweilige Internierung in Darmstadt im Rahmen des „Automatic Arrest“ nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Ob das an Maria Zaissers Engagement bei den Hersfelder Kommunisten lag (sie besuchte 1946/47 regelmäßig die Versammlungen der örtlichen KPD und hielt laut Müller-Enbergs „enge Tuchfühlung“ zu den beiden wesentlichen Funktionären) oder an Einflussnahme durch ihren Bruder oder an beidem, muss offen bleiben.

Seit Februar 1950 jedenfalls zählte Wilhelm Zaisser zu den mächtigsten Männern der kurz zuvor gegründeten DDR: Als erster Minister für Staatssicherheit amtierte er als so etwas wie der inoffizielle Aufpasser Moskaus für Walter Ulbricht. Der starke Mann der SED hatte es nicht geschafft, seinen Gefolgsmann Erich Mielke zum Chef des MfS zu machen.

Ob Zaisser diesen zentralen Posten bekommen hätte, wenn Stalin von seiner verwandtschaftlichen Beziehung zu einem NS-Verbrecher gewusst hätte? Für Mitarbeiter seines Ministeriums jedenfalls war das Verschweigen von Westverwandtschaft schon an sich ein so schweres Vergehen, dass es zur Entlassung führen konnte. Für den Minister galt das nicht.

Nach Stalins Tod versuchte Zaisser, gestützt auf KGB-Chef Lawrenti Berija, Ulbricht zu stürzen. Doch er scheiterte Ende Juli 1953 – an der Entschlossenheit des SED-Generalsekretärs und seines Helfers Erich Honecker, aber auch, weil in Moskau Chruschtschow Berija ausmanövrierte. Der Stasi-Chef verlor seinen Posten und wurde zum Übersetzer von Lenins Werken degradiert.

Gesundheitlich und seelisch zerrüttet, erlag Zaisser in der Nacht vom 2. auf den 3. März 1958 einem Schlaganfall. Seine beiden im Westen lebenden Schwestern unterzeichneten die schlichte Todesanzeige; offenbar waren sie auch bei der Beerdigung auf dem streng abgesperrten evangelischen Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde anwesend.

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Quelle: Polyband

Ein halbes Jahr später starb auch Karl Patry. Er übertrug seiner langjährigen Geliebten Maria Zaisser die Aufsicht über sein Familiengut und gewährte ihr lebenslanges Wohnrecht, das sie bis 1977 wahrnahm. Sechs Jahre nach ihrem Auszug starb sie als letzte der Zaisser-Geschwister – nach den beiden Brüdern im Ersten Weltkrieg, Wilhelm 1958 und ihrer Schwester Johanna 1979.

Martin Göllnitz u.a. (Hrsg.): „Konflikt und Kooperation. Die Ostsee als Handlungs- und Kulturraum“ (Peter Lang Verlag Frankfurt. 396 S., 64,95 Euro)

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Dieser Artikel wurde erstmals im Juli 2019 veröffentlicht.

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