Vor 200 Jahren wurde Wilhelm Weitling geboren

Deutschlands erster religiöser Sozialist

Der Schneidergeselle Wilhelm Weitling war nicht irgendein religiöser Schwärmer. Der heutigen Forschung gilt er als Pionier der Arbeiterbewegung und erster Theoretiker des Kommunismus in Deutschland. Heute vor 200 Jahren - am 5. Oktober 1808 - wurde er in Magdeburg geboren.

Autor/in:
Christian Feldmann
 (DR)

Skandal in Zürich: Am 8. Juni 1843 wird ein reisender Schneidergeselle aus Magdeburg verhaftet, ein Buch, an dem er gerade schreibt, wird beschlagnahmt. Der Titel klingt harmlos: "Das Evangelium des armen Sünders" - eine Schrift, die wie eine fromme Predigt klingt und vor Bibelzitaten strotzt.

Aber ob die Staatsanwälte 1843 schon voraussahen, dass aus dem Verfasser Wilhelm Weitling der erste Theoretiker des Kommunismus in Deutschland werden sollte? Sie wussten nur, dass Weitling eine Schweizer Arbeiterzeitschrift namens "Die junge Generation" redigierte und dem "Bund der Gerechten" angehörte, der in Paris vergeblich den Aufstand gegen Bürgerkönig Louis Philippe versucht hatte.

Aus Deutschland hatte der politisch hellwache Handwerksbursche - unehelicher Sohn eines französischen Besatzungsoffiziers und eines Dienstmädchens - schon früh emigrieren müssen. Er hielt sich in Wien auf, schloss sich in Paris anderen geflohenen Handwerksgesellen an, die im "Bund der Geächteten" von einer gerechteren Gesellschaft träumten. Ihr Idol war der 1797 mit der Guillotine hingerichtete Journalist François-Noël Babeuf, der für politische Mitspracherechte der Habenichtse gekämpft und die Ansicht vertreten hatte, die Reichen seien in Wirklichkeit Diebe und die staatliche Eigentumsordnung beruhe auf "Räubergesetzen".

"Bund der Gerechten"
Unter Weitlings Führung spaltete sich eine starke Gruppe von Aktivisten, denen das alles zu theoretisch war, vom "Bund der Geächteten" ab, nannte sich "Bund der Gerechten" und verlegte ihren Hauptsitz nach London, wo sie mit Karl Marx und Friedrich Engels in Kontakt kam. Marx rühmte Weitlings 1842 erschienenes Buch "Garantien der Harmonie und Freiheit" als "brillantes literarisches Debut der deutschen Arbeiter" und schrieb begeistert: "Vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der deutschen Bourgeoisie, so muss man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien."

Denn im Gegensatz zu den meisten französischen und englischen Frühsozialisten und ihren Genossenschaftsmodellen sah Weitling die Interessen der Arbeiterschaft und des Bürgertums als unvereinbar an.
Er warb für einen selbstständigen Kampf der Arbeiterklasse für ihre Befreiung und forderte neben der politischen eine soziale Revolution, die zur Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse führen sollte.
1838/39 erschien seine Programmschrift "Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte".

Weitling und Marx
Doch Weitling und Marx waren sich in ihrem auffahrenden Wesen und autokratischen Führungsanspruch zu ähnlich. Marx mokierte sich über "religiöse Tändeleien" des Rivalen und drängte ihn schließlich aus der Bewegung. Sein Versuch, die Vereinbarkeit von Kommunismus und Christentum zu beweisen, drohte Weitling auch unter den Gesinnungsgenossen zu isolieren.

"Christus ist ein Prophet der Freiheit", hatte er im "Evangelium des armen Sünders" geschrieben, "seine Lehre die der Freiheit und Liebe." Die Religion müsse deshalb "nicht zerstört, sondern benützt werden, um die Menschheit zu befreien". Leider sei Gewalt nötig, um eine Gesellschaftsordnung auf der Basis von Nächstenliebe und Gütergemeinschaft aufzurichten.

"Jesus hat keinen Respekt vor dem Eigentum", davon war Weitling überzeugt. "Der Kommunismus ist die auf alle Menschen in den gleichen Verhältnissen ausgedehnte Gerechtigkeit". Für die Zürcher Staatsanwaltschaft bedeutete das eine "Anreizung zum Aufruhr, zu öffentlichem Ärgernis und zu Religionsstörung". Weitling wurde zu sechs, im Berufungsverfahren zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt.

Ins Exil nach England
Später ging er nach England ins Exil und - nach dem Zerwürfnis mit Marx - in die USA, wo er eine Zeitschrift "Republik der Arbeiter" und eine kommunistische Kolonie in Iowa gründete. Doch alle Projekte scheiterten.

Im Alter von 46 Jahren heiratete er eine junge Deutsche, mit der er sechs Kinder bekam. Fortan beschäftigte er sich mit Kinderpsychologie und erfand eine Knopflochnähmaschine. Wilhelm Weitling starb im Januar 1871 in enttäuschter Distanz zur kommunistischen Bewegung - obwohl sein Bild in Arbeiterwohnungen und Vereinszimmern neben den Portraits von Karl Marx, Ferdinand Lassalle und August Bebel hing.