Wer einen Plan hat, wird im Falle einer Krise wenigstens nicht völlig überrascht. Und wer klug ist, bereitet gleich mehrere Pläne für unterschiedliche Szenarien vor, um angemessen reagieren zu können.
Gleich drei Pläne mit teilweise mehreren Handlungsalternativen hielt die Nato seit Ende März 1962 vor, um im Falle einer erneuten Blockade West-Berlins durch die Sowjets wie schon 1948/49 reagieren zu können. Alle trugen als Titel die Abkürzung „Bercon“, was für „Berlin Contigency“ stand, also etwa „Eventualfall Berlin“, sowie als Unterscheidung die Kennungen „Alpha“, „Bravo“ und „Charlie“.
Bei „Alpha“ sollte es sich um Luftoperationen über dem Gebiet der DDR handeln, von der Erzwingung des Verkehrs in den vereinbarten Luftkorridoren durch Jagdmaschinen bis hin zu schweren Angriffen mit konventionellen Bomben auf militärische Ziele wie Flugplätze und Flugabwehrstellungen in der DDR und den „Satellitenstaaten“.
„Bravo“ sah eine „nukleare Demonstration“ vor, „um sicherzustellen, dass die Kommunisten begreifen, dass die Allianz zum Nuklearwaffeneinsatz bereit“ sei; es hätte sich um den Einsatz taktischer Atombomben gegen „streng militärische Ziele“ wie Flugplätze oder Truppenkonzentrationen abseits zivil bewohnter Gebiet gehandelt.
„Charlie“ umfasste insgesamt vier verschiedene Stufen von Durchbrüchen gepanzerter Kräfte nach West-Berlin. Der Militärhistoriker Klaus Storkmann analysiert in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Militärgeschichte“ die bisher nur aus Nato-Quellen bekannten Pläne „Bercon Charlie“ im Lichte gerade freigegebener Unterlagen aus dem Bundesverteidigungsministerium.
Zwei der vier alternativen Operationen sollten entlang der Autobahn Richtung Magdeburg erfolgen, die anderen beiden in Thüringen. Die wichtigsten dieser Pläne zielten auf das Gebiet um Magdeburg, denn die heutige Autobahn A2 war die kürzeste Verbindung zwischen Westdeutschland und West-Berlin. Wollte die Nato ein Zeichen in Richtung West-Berlin setzen und die eingemauerte Teilstadt schnell erreichten, war dies nur über die Magdeburger Gegend möglich.
Die Variante „Charlie 1“ sah den Vormarsch einer verstärkten Division der Nato entlang der Autobahn zunächst bis Rottmersleben 15 Kilometer westlich von Magdeburg vor, eng gedeckt durch Nato-Luftstreitkräfte. „Charlie 3“ bedeutete, dass ein Korps aus bis zu vier Divisionen rund 50 Kilometer bis zum Mittellandkanal nördlich von Magdeburg vorrücken sollte.
„Charlie 2“ sah vor, dass zwei Divisionen der Bundeswehr aus Nordhessen bis zur heutigen Ortschaft Leinefelde-Worbis im Eichsfeld in die DDR vordringen. „Charlie 4“ deutlich weiter im Süden zielte auf den Thüringer Wald. Diese Alternativen hatten wenig mit West-Berlin zu tun; es ging darum, die Möglichkeiten des Warschauer Paktes auszuhebeln, mit konventionellen Kräften die Bundesrepublik anzugreifen.
Wie nun sah man in Bonn diese Pläne? Zumindest wollte man, hat Storkmann herausgefunden, möglichst keine eigenen Truppen für die Option „Charlie 3“ bereitstellen. Am 13. November 1963 schlug das Ministerium vor, statt des III. Bundeswehrkorps dafür ein im Raum Köln stationiertes belgisches Korps einzusetzen. Die topografischen Bedingungen im Eichsfeld sprächen angeblich eher für die Belgier.
In Wirklichkeit lag der Grund für diesen Wunsch nicht beim Gelände, sondern in politischen und psychologischen Überlegungen: Die Bundeswehrführung erwartete „unerwünschte psychologische Rückwirkungen“ bei einem Angriff westdeutscher Truppen auf die DDR, die damals noch allgemein „SBZ“ für „Sowjetische Besatzungszone“ genannt wurde.
Weil das bei der Nato glatt abgelehnt wurde, folgte im April 1964 ein neuer Vorstoß: „BMVtdg (also das Bundesverteidigungsministerium, die Red.) sowie AA (Auswärtiges Amt) sind der Ansicht, dass aus politischen und psychologischen Gründen deutsche Kräfte nicht als Hauptträger des Angriffs eingesetzt werden sollten, sondern dass der Angriff mit einem größeren Anteil alliierter Verbände durchgeführt werden soll.“
„Der Grund für die Skepsis der Bundeswehrgenerale und des Ministers lag auf der Hand“, urteilt Storkmann: „Die Bercon-Operationen waren, nüchtern betrachtet, nicht realistisch und wenig aussichtsreich.“
Zudem wäre nach den damals geltenden allgemeinen Richtlinien eine Eskalation zum Atomkrieg jederzeit möglich gewesen. Falls nämlich sowjetische Gegenwehr oder Verbände der NVA die Nato-Truppen aufhielten oder gar an den Rand einer Niederlage brächten, wäre der Einsatz taktischer Kernwaffen die logische Konsequenz – und also die Ausweitung des Konfliktes. Ferner waren eine sowjetische Besetzung West-Berlins möglich oder Gegenangriffe in Richtung Hamburg und München.
Noch zwei kritische Aspekte kamen hinzu. Erstens ein politisch-strategischer: „Ein Angriff über die Demarkationslinie und die Besetzung auch nur eines kleinen Teils der SBZ durch zwei deutsche Divisionen mit nur symbolischer Beteiligung alliierter Kräfte würde wahrscheinlich sowohl von der Sowjetunion als auch von den neutralen Staaten und auch von der öffentlichen Meinung in den Nato-Staaten als ein Versuch der Bundesrepublik Deutschland gewertet werden, mit Waffengewalt das SBZ-Regime zu beseitigen.“ Dies würde „eine scharfe antiwestliche Reaktion“ hervorrufen.
Zweitens die mutmaßliche Reaktion der ostdeutschen Bevölkerung auf einen Vormarsch westdeutscher Truppen: „Das Ausbrechen eines Aufstandes wäre unabwendbar.“ Spontane antisowjetische Unruhen in der DDR aber nahm man in Bonn als „Gefährdung der eigenen Operationsziele“ wahr und fügte noch einen kritischen Ausblick hinzu: „Bei der späteren Räumung des vorübergehend besetzten Gebietes wäre die Bevölkerung der schonungslosen Vergeltung durch die Sowjets ausgesetzt.“
Wie nun sind die „Bercon“-Pläne insgesamt zu beurteilen? Storkmann kommt zu einem klaren Schluss: „In der Grauzone zwischen lokalem Konflikt um Berlin und dem großen Atomkrieg wollte sich die Nato eine abgestufte Reaktionsmöglichkeit schaffen. Es sollte eben kein ,Alles oder nichts‘ geben. Keiner wollte den Krieg, den Atomkrieg.“
Es sei daher wahrscheinlich, dass diese Pläne eher als politisches Druckmittel gegenüber dem Ostblock gedacht waren – man ging davon aus, dass sie den Geheimdiensten des Warschauer Paktes bekannt waren. Ihre formale Aktivierung im Krisenfall wäre folglich „das ultimative politische Signal an die Sowjetunion zum Einlenken“ gewesen.
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