Der Winter, in dem West-Berlin nicht heizte: „Ich habe nie wieder so gefroren“

Der Winter, in dem West-Berlin nicht heizte: „Ich habe nie wieder so gefroren“

1948/49 drehten die Sowjets einem Teil der Stadt die Energie ab. Vera Fischer, 96 Jahre alt, erzählt vom Überleben unter Bettdecken und den Tricks der Berliner.

Kurz nach Kriegsende im Tiergarten, gegenüber das ausgebombte Reichstagsgebäude. Ein Mann schlägt  Brennholz, da es keine andere Möglichkeit zum Heizen gab. 
Kurz nach Kriegsende im Tiergarten, gegenüber das ausgebombte Reichstagsgebäude. Ein Mann schlägt Brennholz, da es keine andere Möglichkeit zum Heizen gab. Röhnert

Wenn man Vera Fischer fragt, wie der Winter 1948/49 in Berlin war, erzählt sie von den Menschen, die am Bahnhof Kohlen stahlen. Vera Fischer, eigentlich Kindergärtnerin, war verpflichtet worden, an einem Berliner Güterbahnhof Kartoffeln zu sortieren. Da habe sie die Männer und Frauen gesehen, die ein paar Briketts ergatterten. Waren die Kohlediebe besonders arme Menschen? „Arm waren wir alle. Gab ja nüscht. Das waren Menschen wie Sie und ich, die nichts hatten und verzweifelt waren“, sagt Fischer.

Sie sitzt im Rollstuhl in ihrem Zimmer im sechsten Stock des SRK Seniorencentrums, einem Altersheim am Kurfürstendamm. Vera Fischer trägt eine beige Hose und eine orange-blau karierte Bluse, man sieht ihr nicht an, dass sie bald 97 Jahre alt wird. Sie spricht mit fester Stimme, schaut manchmal zur Seite, wenn sie sich an etwas erinnert. 53 Jahre lang war sie „gut verheiratet“ mit ihrem Mann, von dem sie Fotos zeigt. Er sei ein „sportlicher Typ“ gewesen. Liebeskummer kenne sie nicht, sie habe ja nur den einen Mann gehabt. Nun lebt sie allein in dem Seniorenheim, ihr Sohn, von dem Fotos im Zimmer stehen, komme sie regelmäßig besuchen. 

Berlin-Blockade 1948/1949: Sämtliche Transportwege waren lahmgelegt

Als kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Kalte Krieg zwischen Ost und West begann, schloss die Sowjetunion die Grenzen zu West-Berlin und schnitt 2,2 Millionen Menschen vom Umland ab. Sämtliche Transportwege über Land waren lahmgelegt, auch Strom wurde nicht mehr nach West-Berlin geliefert. Die Berlin-Blockade begann im Juni 1948. Bis September 1949 übernahmen die Westalliierten die Versorgung der Menschen, aber als Lieferweg blieb ihnen fast ausschließlich die Luftbrücke. Nur wenige Züge wurden zusätzlich in die Stadt gelassen. Genug Kohle, um alle Wohnungen zu beheizen – daran war im Blockade-Winter nicht zu denken.

Viel tun konnten die Menschen nicht gegen die Kälte in jenem Winter. Vera Fischer erinnert sich: „Wir haben den Tag über im Bett gesessen. Wenn wir Kohlen hatten, haben wir sonntags geheizt.“ Weil Kohle mit einem halben Zentner pro Bezugsschein rationiert war, habe man so kalkuliert, dass es am Wochenende „schön warm“ war, wenn die meisten zu Hause waren. 

Die Öfen in vielen Wohnungen blieben kalt

Laut Daten der Open-Source-Plattform Meteostat lag die Durchschnittstemperatur in Berlin-Tempelhof im Dezember 1948 bei 1,8 Grad Celsius. Im Vergleich zu den Vorjahren blieb der Winter zum Glück vergleichsweise mild. In den zugigen Wohnungen der Nachkriegsstadt war es ohne Kohlen für die Öfen trotzdem unangenehm kalt.

Vera Fischer war 23 Jahre alt und lebte in einer Wohnung in Tempelhof – Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Bad, Balkon. Erst im Jahr nach der Blockade heiratete sie ihren Mann, den Kältewinter stand sie noch allein durch. Sie habe Glück gehabt, das Haus, in dem sie wohnte, sei im Krieg nicht beschädigt worden. Doch schon zum bloßen Sitzen im Sessel sei es zu kalt gewesen. Sie setzte sich mit voller Garderobe ins Bett, unter die Decken. So überstanden viele Menschen damals die Tage.

Sind wir im Krieg? Ihre Stimme ist gefragt!
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Wir wollen von Ihnen wissen: Sind wir das? Was geht Sie dieser Krieg an? Wie hat sich Ihr Alltag verändert? Was sind Ihre Ängste und Sorgen? Welche Erinnerungen werden bei Ihnen wach? Oder haben Sie längst abgeschaltet, hören nicht mehr zu, wenn wieder über Waffenlieferungen diskutiert wird? Wie geht es Ihrer Familie? Wir möchten Sie zu Wort kommen lassen und Erfahrungen austauschen. Bitte melden Sie sich bei uns! leser-blz@berlinerverlag.com

Sie hätten Holz gesammelt, „aber wie!“, erzählt Fischer. Viele Berliner seien in den Wald gezogen und hätten heimlich Bäume abgesägt. „Die waren schon pfiffig.“ Und an den Güterbahnhöfen stahlen sie Brennmaterial. „Die haben genau gewusst, wann die Züge kommen, und dann sind sie rauf und haben sie gestohlen.“

Auch Kochkisten kennt Vera Fischer noch. Sie habe eine alte Kohlenkiste mit schöner Abdeckung zur Kochkiste umfunktioniert, indem sie Zeitungspapier hineinstopfte. Die Kiste brauchte sie ja sonst nicht, weil sie eh kaum Kohlen hatte. Wenn sie etwas auf dem Herd aufgekocht hatte, stellte sie die Töpfe zwischen das Zeitungspapier, dann wurde die Kiste zugeklappt. So hielt das Essen eine Weile warm oder garte weiter. 

„Keine Bomben, du konntest frei leben“

Vera Fischer sagt, sie habe nie wieder so gefroren wie während der Berlin-Blockade. Trotzdem sei sie damals glücklich gewesen, die Zukunft konnte nur besser werden. „Keine Bomben, du konntest frei leben. Du hast gearbeitet und hast gesehen, es geht vorwärts. Wenn du richtig gehaushaltet hast, wenn ein bisschen was übrig geblieben ist, konntest du sparen.“

Sie sei dankbar gewesen, dass der Krieg vorbei war. Nachts gab es keinen Alarm mehr, der Lärm der Flugzeuge über Tempelhof war ein Zeichen der Hoffnung, die Stadt wurde nicht allein gelassen. Vera Fischer musste nur aufstehen, weil es plötzlich für zwei oder drei Stunden Strom gab, oft ab 22 Uhr, erinnert sie sich. Auch Strom war während der Berlin-Blockade rationiert, damit alle wenigstens etwas Elektrizität bekamen. Geräte, die mit Strom liefen, mussten in der knappen Zeit genutzt werden. Das Szenario einer akuten Gasmangellage 74 Jahre später stellt sich Fischer ähnlich vor: „Ich denke mal, wenn es hart auf hart kommt, werden die das auch so machen, dass sie eine Zeit abdrehen und keiner was bekommt, und dann Stunden später wieder andrehen.“

 Was glaubt Vera Fischer, wie die Menschen in einer Energiemangellage miteinander umgehen würden? „Kommt auf den einzelnen Menschen an. Der eine kanns, der andere nicht. Da gibt’s dann natürlich Schwierigkeiten.“

Fischer hat Angst vor der Kriminalität, die sich in der Krise verstärken könnte. Und davor, dass der Krieg sich ausweitet, Amerika und Russland sich gegenüberstehen, „und wir sitzen dazwischen“. Das mache ihr und anderen älteren Berlinern große Sorgen, sagt sie.

Was in diesem Winter helfen könnte? „Zusammenhalten!“, sagt Vera Fischer. Im Winter 1948/49 hätte man einander Bescheid gegeben, wenn ein Nachbar eine warme Stube gehabt habe. „Du komm rüber, ich hab geheizt!“ Wenn niemand heizt, dann rät Vera Fischer: „Ins Bett gehen und warm halten, das können Sie alle.“