• Sombart, Werner. 1902. Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Erste Aufl. Leipzig 1902. Zweite Aufl. München-Leipzig I/II 1916, III 1927. Neudruck München: dtv 1987.

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine turbulente Zeit. Die Industrialisierung hat an Fahrt gewonnen: steigende Produktivität, Maschinisierung, Modernisierung, Erwartung zukünftigen Wohlstands. Man trat ein in die Periode eines entfalteten Kapitalismus. Die Turbulenzen der Zeit haben die Sozialwissenschaftler beschäftigt: Was geschieht „da draußen“? Wie kann man die Umwälzungen erklären und verstehen? Gibt es „Muster“ der Entwicklung oder „Gesetzlichkeiten“? Analysen und Spekulationen lösten nicht nur Differenzen über politische Haltungen, sondern auch über theoretische Paradigmen aus.

1 Rekonstruktion: die Dynamik des modernen Kapitalismus

Werner Sombart (Lenger 1994) gibt seinem Hauptwerk einen lapidaren Titel: Der moderne Kapitalismus. Damit verbindet sich ein hoher Anspruch: das gültige Werk über die Logik der neuen gesellschaftlichen Formation zu schreiben. Er holt weit aus und braucht viel Platz: In drei Bänden, die in der Neuausgabe zu sechs dicken Büchern geworden sind, beschreibt er die kapitalistische Entwicklung (Vorkapitalismus, Früh- und Hochkapitalismus sowie Spätkapitalismus) von mehr als tausend Jahren, bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Zwischen die beiden ersten Auflagen des gigantischen Buches (1902 mit etwa 1300 Seiten bzw. 1916–27 mit etwa 2300 Seiten) schiebt Sombart noch dazugehörige Einzelstudien, die auch als Beiträge zur fortgeführten wissenschaftlichen Diskussion gelten können (Sombart 1928, 1922, 1913b, a). Denn mit denselben Themen und dem Problem adäquater Methoden hat sich eine ganze Generation von Soziologen, Ökonomen und Historikern befasst. 1904/05 erschienen Max Webers Untersuchungen über den Zusammenhang von Calvinismus und kapitalistischer Entwicklung, und diese Grundidee sollte Sombart nicht mehr loslassen – er wollte sie weiterführen, modifizieren, ausbauen, so wie er auch die Marxsche Analyse vollenden wollte. Was er ursprünglich das „Verwertungsstreben des Kapitals“ nannte, entfaltete er zu einem komplexen Geflecht von soziopsychischen Beziehungen und Zuständen, von materiellen Elementen und sozialen Trägergruppen. Es ist nicht allein Webers Rationalität oder Schumpeters Unternehmergeist, der den modernen Kapitalismus wachsen lässt, der „kapitalistische Geist“ ist die komplexe Synthese von Abenteurertum, Wagemut und Erfindungsdrang mit dem Bürgergeist, mit Fleiß und Mäßigkeit, Kalkulation und Berechenbarkeit, Sparsamkeit und Vertragstreue. Er ist die treibende Kraft in einem Szenarium, das von der traditionsgeprägten vorkapitalistischen Wirtschaft zum dynamischen, internationalen, innovativen Hochkapitalismus führt. Es handelt sich jeweils um „Wirtschaftssysteme“, die von einer unterschiedlichen „Wirtschaftsgesinnung“, einer (privatwirtschaftlichen oder gemeinwirtschaftlichen) „Wirtschaftsordnung“ und einer entsprechenden „Technik“ gekennzeichnet sind. Es waren nicht die einzigen „Idealtypen“, die Sombart nach Webers methodischem Vorschlag entwickelte; so etwa entwarf er Schemata der „Reichtumsakkumulation“ und der „Städtebildung“, der „Geldwirtschaft“ und der „Naturalwirtschaft“.

Sombart erweitert die Webersche Identifizierung der sozialen Gruppen, die den Kapitalismus hervorbringen. Nicht nur die Protestanten, auch die Juden waren schließlich als wirtschaftlich erfolgreiche soziale Gruppe in vielen Ländern präsent: Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911). Aber die treibenden Kräfte für diese neue Dynamik musste man seines Erachtens noch weiter fassen; auf einer personellen Ebene: Der Bourgeois (1913), aber auch auf einer strukturellen Ebene. In seinem Buch Luxus und Kapitalismus (1913) nennt er den Fernhandel (mit den profitablen Luxusgütern) als wesentlichen Faktor der Globalisierung in der frühen Neuzeit und als Element des Handelskapitalismus. In seiner Studie über Krieg und Kapitalismus (1913) ging er den Anstößen nach, die aus einer Kriegsökonomie stammen. Viele Sozialwissenschaftler rangen darum, wie man die Ablöse einer statisch-fatalistischen Geisteshaltung der vorkapitalistischen Zeit durch eine moderne Aufbruchs-, Aktivitäts- und Fortschrittshaltung erklären sollte, also die Entstehung und das Wesen des „bürgerlichen kapitalistischen Geistes“. Joseph Schumpeter begann zur gleichen Zeit, sein Augenmerk auf die spezifischen Begabungen „unternehmerischer“ Menschen zu legen (Schumpeter 1993). Aber selbst wenn eine solche Beschreibung der „neuen Elite“ gelang, verlagerte sich ja die Frage bloß: Wie kommt es zum Umbruch in dieser geistigen Haltung? Warum hat es vorher diese zupackende, erneuernde Mentalität nicht gegeben?

Bis heute geht diese Diskussion weiter, gerade angesichts des erreichten kapitalistischen Wohlstands in manchen Ländern: Warum haben sich manche Länder entwickelt und andere nicht? (Jones 1991; Landes 1999) Finden sich die Antriebskräfte eher in persönlicher Innovativität, in sozialen oder natürlichen Rahmenbedingungen, in politischen Zufälligkeiten, in abstrakten Makro-Kategorien? Und vor allem: Ist diese Dynamik eine anhaltende oder handelt es sich bloß um eine Übergangsphase? Max Weber war ja skeptisch hinsichtlich der Zukunftsaussichten; seines Erachtens könnte der alle Bereiche der Gesellschaft durchdringende Rationalisierungsprozess individuelle und soziale Kreativität zum Erlahmen bringen. Wenn sie die moderne „Maschinerie“ betrachten, hegen auch Schumpeter und Sombart ihre Zweifel: In einer technisierten, durchorganisierten Welt mit großen bürokratisierten Konzernen könnte der unternehmerische Geist dem Prozess der „Mechanisierung“ unterliegen, also die Innovation in den Zahnrädern des Getriebes ersticken.

Während Sombart, Weber und Schumpeter allesamt fasziniert waren von der Dynamik der kapitalistischen Ordnung, befand sich (paradoxerweise) zur gleichen Zeit jene Strömung der Nationalökonomie im Aufschwung, die später als „moderne Theorie“ obsiegen sollte, und zwar mit der Idee einer Mathematisierung und Modellbildung, die ganz den Geist der Methodologie des 19. Jahrhunderts atmete. Sie hatte einige überzeugende, aber vereinfachende Modelle anzubieten, die sich jedoch allesamt auf die Optimierung einer statischen Situation bezogen. Aber gerade statische Optimierung war für die Sozialwissenschaftler, die mit wachen Augen die Wirklichkeit beobachteten, nicht unbedingt ein brennendes Problem, da ihnen doch die gleichsam explosive Dynamik des Systems als viel wichtigeres Phänomen erschien.

Werner Sombart hat, neben anderen Faktoren, den für die Dynamik verantwortlichen „kapitalistischen Geist“ zu analysieren versucht. Die „Inkarnationen“ eines solchen kapitalistischen Geistes sind Unternehmer. Diese müssen organisatorische Leistungen vollbringen, also Menschen und Dinge in einem nützlichen Arrangement vereinen; sie müssen gute Verhandler, Unterhändler und Händler sein, also auch bei anderen Interesse erwecken und Vertrauen erwerben, und sie brauchen rechnerisch-haushälterische Kompetenzen. Sombart unterscheidet den Fachmann (im Idealfall ein Erfinder-Unternehmer), den handels- und absatzorientierten Kaufmann und den auf dem Kapitalmarkt tätigen Finanzmann. Alle sind wichtig, aber das Wesen des Unternehmerischen ist Innovation und Dynamik. Der Kapitalismus schlechthin, meint Sombart, erwächst aus jenem Geist, „der seit dem ausgehenden Mittelalter die Menschen aus den stillen, organischen gewachsenen Liebes- und Gemeinschaftsbeziehungen herausreißt und sie hinschleudert auf die Bahn ruheloser Eigensucht und Selbstbestimmung.“ (I S. 327) Man möge diesen Geist, wie er vorschlägt, Unendlichkeitsstreben, Machtstreben oder Unternehmungsdrang nennen. „Die Unternehmenden sind es, die sich die Welt erobern; die Schaffenden, die Lebendigen: die Nicht-Beschaulichen, Nicht-Genießenden, Nicht-Weltflüchtigen, Nicht-Weltverneinenden.“ (I S. 327 f.)

Die neue Mentalität wird insbesondere im Kontrast zur vorkapitalistischen Gesinnung deutlich. Diese ist eine „Ausgabewirtschaft“ (Sombart 1988): Wie viel man ausgibt, so viel muss man einnehmen. Das „Bedarfsdeckungsprinzip“ bedeutet deshalb, einen für die geziemende Lebensführung ausreichenden Unterhalt zu haben. Es steht dem späteren „Erwerbsprinzip“ gegenüber, demzufolge Geld um des Geldes willen erworben wird. Aber dieses Streben hat es auch vorher gegeben: die Abenteurer, die merchant adventurers, die Projektanten, alle möglichen Verrückten. Gier nach Geld und Sucht nach Reichtum ist nichts Neues, man grub nach Schätzen, trieb Alchemie, begab sich auf Raubzüge. Aber in der tauschwertorientierten Wirtschaft gelten neue Prinzipien, weil die „erforderlichen“ Einnahmen nicht mehr durch den Lebensalltag bestimmt und durch die Gemeinschaft beschränkt sind. Mit mehr Weizen kann man nichts anfangen, wenn man ihn nicht verkaufen kann. Geld aber ist flexibel, davon kann man immer mehr haben. Deshalb gilt das Prinzip der Unendlichkeit: Es gibt keine Grenzen mehr, niemals wird man mehr sagen können, es sei genug. Das Prinzip der Allgegenwart: Der Erwerbstrieb beschränkt sich nicht auf den wirtschaftlichen Bereich, sondern entwickelt die Tendenz, über alle Dimensionen des Lebens ökonomische Interessen zu propagieren. Das Prinzip der Rücksichtslosigkeit: Der Erwerbswert setzt sich, zuweilen mit Brutalität, über alle anderen Werte. Auch andere Kennzeichen dieser modernen Welt, die neuerdings in zeitdiagnostischen Arbeiten wieder aufgegriffen werden, finden sich in Sombarts Werk: etwa der Drang nach Beschleunigung des Lebenstempos, der selbst in die alltägliche Lebensführung vordringt – rascher gehen und reisen, rascher produzieren und konsumieren, rascher sprechen und schreiben (so etwa Borscheid 2004; Rosa 2006).

„Der Kapitalismus ist das Werk einzelner hervorragender Männer, daran kann kein Zweifel sein.“ (I S. 836) Während Max Weber die selbstdisziplinierende, rationale, puritanische Komponente und Joseph Schumpeter die innovierende, kreative, entrepreuneriale Komponente betont, versucht Werner Sombart die Synthese. Er arbeitet die widersprüchliche (und gerade durch ihre Widersprüchlichkeit erfolgreiche) Natur einer kapitalistischen Mentalität heraus. Es braucht gleichermaßen Unternehmernatur und Bürgernatur. Sombart hat dafür eine Metapher: Der Unternehmungsgeist ist in dem bunten Gewebe des kapitalistischen Geistes die seidene Kette, der Bürgergeist bildet den baumwollenen Schussfaden. Der Erstere will erobern, ist unternehmungs- und abenteuerlustig; der Letztere will ordnen: Fleiß, Mäßigkeit, Sparsamkeit. „Die aus Unternehmungsgeist und Bürgergeist zu einem einheitlichen Ganzen verwobene Seelenstimmung nennen wir dann den kapitalistischen Geist. Er hat den Kapitalismus geschaffen.“ (I S. 329) Sombart ist freilich der alte Bourgeoistypus sympathischer als der moderne; der Letztere hat sich von den früheren Tugenden weitgehend befreit, alles wird zur Grenze des Menschenmöglichen gesteigert, Ellenbogenfreiheit wird gefordert, Skrupellosigkeit greift um sich.

Wo kommen die unternehmerischen Typen her? Sombart ist nicht, wie Max Weber, nur auf die Protestanten festgelegt. Der Anteil bestimmter Personengruppen an den unternehmerischen Individuen ist besonders groß: Da sind die Ketzer, also die nicht zur Staatskirche Gehörigen; die Fremden, die Eingewanderten; und die Juden. Es sind die Außenseiter der Gesellschaft, die Emporkömmlinge. Denn sie mussten tatkräftig und willensstark sein, um zu überleben. Schon die Unterdrückung im Heimatland war ein Selektionsprozess, die Auswanderung erst recht; alte Lebensgewohnheiten wurden unterbrochen, Neues gerät in den Blick; der Ausgewanderte hat seine Vergangenheit abgebrochen, die Gegenwart ist oft unbehaglich, er lebt nur für die Zukunft; und soziale Verpflichtungen, Rücksichtnahmen und Einbindungen gab es für die Fremden wenige, da sie ja fremd waren. (I Kap. 61) Aber auch weise Fürsten waren den wirtschaftlichen Tätigkeiten aufgeschlossen, unter den adeligen Grundherren fanden sich unternehmerische Typen, doch war natürlich der urbane Geist der Bürger ein entscheidender Faktor. Unternehmerische Menschen zeichnen sich aus durch Lebenskraft und Lebensenergie, durch Tatenlust und Tatkraft, durch Urteilsfähigkeit und Intelligenz; doch mit einer verfeinerten kulturellen Sensibilität und Bildung können sie nach Sombarts Meinung nicht aufwarten. Schumpeter wird ihm sekundieren: Es seien eher die robusten, starkknochigen Typen. Aber durch die (vielleicht sogar zufällige) Koinzidenz bestimmter technischer, intellektueller, politischer und struktureller Entwicklungen wird es profitabler, Geschäfte zu betreiben statt Eroberungen zu machen.

Sombart ist, so wie schon Karl Marx, von den Kräften und Errungenschaften des Kapitalismus beeindruckt, aber beide machen sich keine Illusionen über gewisse Begleiterscheinungen der Wirtschaftsordnung. Sombart stellt ganz nüchtern fest, dass der Kapitalismus eine Menge Lärm mache, aber wenig kulturellen Fortschritt mit sich bringe. Trotz seiner „Verherrlichung“ dieses Systems (wie ihm dies einige Zeitgenossen zugeschrieben haben; vgl. Schmoller 1903 oder Below 1903) apostrophiert er die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als Epoche des „Spätkapitalismus“. Der entfesselte Riese renne sich müde, der Kapitalismus sei eine einmalige Erscheinung, ein „historisches Individuum“ (III, XIII) – und diese Erscheinung neige sich ihrem Ende zu. So wie Max Weber das stählerne Gehäuse der allumfassenden Rationalisierung heraufdämmern sieht, so glaubt auch Sombart, dass sich gerade die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus zunehmend gegen ihn selbst wendet (III S. 1016): Ein voll rationalisierter Geist sei kein kapitalistischer Geist mehr. Das scheint in diesen Tagen offensichtlich Common sense der Sozialwissenschaftler gewesen zu sein, auch wenn wir mittlerweile insofern eines Besseren belehrt sind, als sich die Selbstgefährdung des Kapitalismus wohl nicht aus seiner „Rationalisierung“ ergibt. Arthur Salz hat in einer Besprechung des Buches denn auch vermerkt, dass Sombart dem Kapitalismus (und damit den Unternehmern) eine „grandiose Leichenrede“ gehalten habe (Salz 1928). Die Grabrede war wohl voreilig.

2 Theoretischer Kontext: Brücke im Methodenstreit

Wir befinden uns in der Zeit des Methodenstreits. Gustav Schmoller und die „historische Schule“ haben die detaillierte Untersuchung von Einzelfällen, aus denen sich – vielleicht in ferner Zukunft – allgemeinere Einsichten würden ableiten lassen, verteidigt: Man müsse noch auf geraume Zeit in den Archiven arbeiten und empirisch-historische Kleinarbeit leisten. Das sahen natürlich die marxistischen Theoretiker ganz anders, denn sie vertrauten auf die großen Schemata ihrer historischen Gesetzmäßigkeiten. Als erfolgsträchtiger sollten sich aber jene Ansätze zu einer modernen Ökonomie erweisen, die auf Carl Menger zurückgehen und später in der Wiener Schule weiterentwickelt werden sollten. Die allgemeine methodologische Auseinandersetzung um das Betreiben der Sozialwissenschaft drehte sich um nomothetische und idiographische Ansätze (also die Entgegensetzung von „Gesetzmäßigkeiten“ auf der einen und die Einzelfallanalyse auf der anderen Seite), das Problem von Erklären und Verstehen, um individualistische und holistische Paradigmen, um Mathematik und Hermeneutik – und natürlich um die Einschätzung der Werturteilsfreiheit.

Werner Sombart hat später in seinem Buch über Die drei Nationalökonomien die „richtende“ (metaphysische), die „ordnende“ (durch naturwissenschaftliche Methoden geprägte) und die „verstehende“ Nationalökonomie unterschieden, und der Moderne Kapitalismus gehört natürlich zur letzteren (Sombart 1930). Die naturwissenschaftliche Methode schien ihm für den weiten Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht anwendbar, aber er unternahm mit dem in Betracht stehenden Buch auch den Versuch, über die geschichtlichen Einzelstudien hinauszugelangen, in Richtung auf eine systematische oder theoretische Erfassung zeitlos gültiger Phänomene. Auch die „Historiker“ sollten dadurch zufriedengestellt werden, dass eine Überfülle an Material verwendet wurde. Aber Sombart will (in idealtypischer Weise) systematisieren und vergleichen. (1) In den Dimensionen des Geistigen: Bedarfsdeckung und Erwerbsprinzip; traditionales und rationales Handeln; Solidarismus versus Individualismus. (2) In den Dimensionen des Organisatorischen: gebundene und freie Ordnungen; Privat- und Gemeinwirtschaft; Grad der Spezialisierung; Bedarfsdeckung versus Verkehrswirtschaft. (3) In den Dimensionen der Technik: empirisches oder wissenschaftliches Wissen; stationäre und revolutionäre Technik; organische und nichtorganische Techniken. Aus solchen Elementen ergeben sich „Systemtypen“: von urwüchsigen Geschlechtsverbänden bis zum modernen Kapitalismus. Geschichte ist eben nicht eine kontinuierliche Entwicklung hin zu mehr Know-how und mehr Markt, es sind auf dem Wege unterschiedliche Systeme identifizierbar und beschreibbar.

Die Kategorie von Wirtschaftsstil, Wirtschaftsgesinnung, Wirtschaftsstufe und Wirtschaftskultur (mit denen sich schon Karl Bücher und Schmoller beschäftigt hatten) ist nach Sombart von Arthur Spiethoff und Alfred Müller-Armack aufgegriffen worden (Spiethoff 1955; Müller-Armack 1944), dann auch von anderen Autoren (z. B. Schefold 1994) – aber im Zuge einer Enthistorisierung und Entgesellschaftlichung der Wirtschaftstheorie (und damit ihrer Entwicklungslosigkeit und Wirklichkeitsferne) sind solche Perspektiven an die Peripherie der Wirtschaftsbetrachtung geraten; allenfalls in verschiedenen Schulen der heterodoxen Ökonomie und einer neuerdings sich wiederbelebenden Wirtschaftssoziologie haben sie ihre Fortsetzung gefunden. Auch die Analysen der Transformation eines entfalteten Industrie- in einen Finanzkapitalismus (Windolf 2005) kann man unter diese Kategorien fassen. Da wäre Sombarts Frage aktuell: Gibt es eine neue „Logik“ hinter den Erscheinungen, und wodurch unterscheidet sie sich von jener des „früheren“ Systems, etwa dem Industriekapitalismus?

3 Diskussion und Kritik: zwischen allen Sesseln

Während die Frage nach der Dynamik des Kapitalismus alle Sozialwissenschaftler der Epoche beschäftigte, gab es nicht nur keine Einigkeit bei den Antworten, sondern auch keine Einigkeit über die Methode, mit der man die Phänomene analysieren sollte, und ebenso unterschiedlich waren die Auffassungen über die zu verwendenden Theorien (vgl. den aufschlussreichen Band Vom Brocke 1987). Werner Sombart setzte sich mit seinem Modernen Kapitalismus zwischen alle Sessel. Die einen warfen ihm seine Anhänglichkeit an marxistische Lehren vor (obwohl ja viele Sozialwissenschaftler dieser Jahre von der grundlegenden Marxschen Perspektive beeindruckt oder beeinflusst waren), die anderen mahnten eine stringentere sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Herleitung jener kapitalistischen „Seelenstimmungen“ ein, die nach Sombarts Auffassung so entscheidend für die Entwicklung des modernen Wirtschaftslebens waren.

Der im deutschsprachigen Raum wogende Streit zwischen den Theoretikern und Historikern, zwischen den Repräsentanten einer (erst ansatzweise vorhandenen) theoretischen Ökonomie und den Repräsentanten einer historischen (zuweilen geradezu theoriefeindlichen) Schule schlug sich auch in der Diskussion um Sombarts Buch nieder. Die einen beklagten, dass er seine Quellen in die durch die theoretischen Modelle vorgefassten Meinungen zwänge (Below 1903), die anderen wieder sahen sich von der Fülle einzelner Daten und Informationen erdrückt, deren Anhäufung den Weg zu einer stringenten Theorie eher verstelle (Hilferding 1903; Dopsch 1919; Parsons 1928; Schumpeter 1927; Schmoller 1903). Tatsächlich hat Sombart einen Kompromiss versucht: einerseits ein theoretischer Rahmen, andererseits eine Auffüllung dieses Rahmens mit allen historischen Materialien, deren er habhaft werden konnte – deshalb auch die Überlänge des Buches. Den Vertretern der Wirtschaftsgeschichte war er zu „theoretisch“, denn es ließen sich zu seinen generalisierenden Aussagen immer wieder Gegenbeispiele finden; anderen wieder war er zu „geschichtlich“, und sie warfen ihm vor, dass er nur verallgemeinernde Beobachtungen anbiete, aber zu keinen Entwicklungslogiken oder Entwicklungsgesetzen vorstoße.

Aber auch der Kern seiner Theorie der kapitalistischen Dynamik wurde ambivalent beurteilt. Auf der einen Seite wurde ihm vorgeworfen, er habe so viele Faktoren, die in diesem Prozess irgendeine Rolle gespielt hatten (Luxus, Krieg, Demographie, Religion, Grundrentenentwicklung und anderes) angehäuft, dass die Besonderheit der kapitalistischen Dynamik nicht mehr zum Vorschein komme (Suranyi-Unger 1928; Adler 1903; Hilferding 1903); und zur selben Zeit mahnten andere die Behandlung zusätzlicher Faktoren ein, wie etwa jene von Staat und Politik, weil diese ihnen in der Sombartschen Darstellung unterbelichtet erschienen (Hintze 1964a, b).

Im Modernen Kapitalismus und in den Beiträgen über dieses Buch spiegeln sich die großen sozialwissenschaftlichen Debatten, die vor hundert Jahren geführt wurden. In der Folge hat man die großangelegten Fragestellungen in den Hintergrund treten lassen: Die Ökonomen haben sich in den letzten Jahrzehnten auf die Mathematik beschränkt, die Soziologen haben sich mit dem Wirtschaftsleben nur noch vermittels sehr spezifischer Fragestellungen befasst. Es ist nicht zuletzt die große Weltwirtschaftskrise am Beginn des 21. Jahrhunderts, die neuerlich die Frage nach den Eigentümlichkeiten einer marktwirtschaftlichen Dynamik wachgerufen hat; ergänzt durch neue „Schwellen“ der Entwicklung: hin zu einer globalisierten Wirtschaft, zu einer digitalen Ökonomie, zu einem Finanzkapitalismus, zu einem sich abzeichnenden geoökonomischen Neuarrangement. Ganz so wie Werner Sombart und seine Zeitgenossen stehen wir vor einer nicht ganz durchschaubaren Dynamik und suchen nach Anhaltspunkten, wie denn dieses System funktioniert und wohin es sich entwickeln könnte.

Sombart verstand sich wohl als sozialer Reformer, aber ohne revolutionäre Ambitionen. Er hatte zunächst Sympathien mit der sozialistischen Bewegung, später kam allerdings auch seine bittere Enttäuschung mit dem Bolschewismus zum Ausdruck. Sombart bewunderte sowohl Lassalle als auch Bismarck, keine ganz selbstverständliche Kombination. Vor dem Zweiten Weltkrieg gingen keine „deutschen“ Studenten mehr zu seinen Vorlesungen, nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Buch Was ist Sozialismus? in der sowjetischen Besatzungszone verboten (Sombart 1935). Sombart war beiden totalitären Regimen unwillkommen, ebenso wurde er im Laufe der Zeit beschuldigt, beide unterstützt zu haben. Einige wenig rühmliche Äußerungen sind aus dem beginnenden Dritten Reich überliefert, aber sehr rasch war er auf Distanz. Sombart brachte sozialistische Ideen ebenso zum Ausdruck wie engstirnigen Nationalismus. Es gibt empathische und bewegende Äußerungen über das Elend der Arbeiterklasse, ebenso wie Klagen über den Verlust des Patriotismus, die Erosion der Familie und den Niedergang der Religion. Werner Sombart ist in der gegenwärtigen Wirtschaftssoziologie als eine klassische Bezugsgröße präsent, hat aber für die praktische wissenschaftliche Arbeit wenig Bedeutung und wird wohl wenig gelesen. Wer allerdings über den „Geist des Kapitalismus“, einen Begriff, der von Sombart und nicht von Weber stammt, oder über die kulturelle Formierung von „Wirtschaftsstilen“ schreibt, von Fernand Braudel bis Luc Boltanski und Eve Chiapello, von Bertram Schefold bis Herbert Matis, wirft auch zumindest einen Blick in die Bücher Sombarts (Braudel 1985/86; Boltanski und Chiapello 2003; Schefold 1994; Bachinger und Matis 2009).