Judith ist Berufsanf�ngerin, sie ist Psychotherapeutin f�r Kinder, sie ist idealistisch, will neue Wege gehen, doch ihren eigenen hat sie noch nicht gefunden. Behutsam wie die Hauptfigur n�hern sich in dem ARD-Fernsehfilm „Weiter als der Ozean“ auch Autorin Beate Langmaack und Regisseurin Isabel Kleefeld den Charakteren, den Konflikten und der therapeutischen Praxis. Offenheit ist das Grundprinzip dieses alltagsnahen Ausnahme-Dramas, das die Grenzen zum ausschnitthaften Realismus des Arthaus-Kinos intelligent auslotet. Der gef�hlt dramaturgiefreie Blick auf Kommunikation findet in Rosalie Thomass ihre Meisterin!
Foto: WDR / Alexander FischerkoesenFernab vom Trubel der Gro�stadt. Im Meeresmuseum kommen die Therapeutin (Rosalie Thomass) und ihr rabaukiger Patient (Claas Schr�der) endlich zur Ruhe.
Bettn�sser, Rowdy, Ausrei�erin, erster Job
Judith, Psychotherapeutin f�r Kinder und Jugendliche, ist neu in Berlin, allein – ihr Freund hat es sich mit dem Umzug anders �berlegt. Sie ist Berufsanf�ngerin, sie ist idealistisch, will neue Wege gehen. Keine Therapie nach Lehrbuch – eine individuelle Betreuung m�chte sie ihren Kids geben. Da ist Konrad, der vor seiner Einschulung steht und noch immer ins Bett macht; er leidet unter der Beziehungskrise seiner Eltern. Da ist der neunj�hrige Linus, den regelm��ig Aggressionssch�be �berkommen; seine Lehrer w�rden ihn am liebsten auf eine Sonderschule abschieben. Und schlie�lich ist da noch Nele – bei ihr ist die Pubert�t voll im Gange: sie ist aufs�ssig und provoziert st�ndig; ihre Mutter ist ratlos: „Warum kann die mich nicht leiden?“ Judith h�rt zu, sie l�sst ihre Patienten machen, l�sst sie spielen, reden, frei assoziieren. Sie dr�ngt sich nicht in deren Leben, sondern verschafft sich einf�hlsam Zugang zu ihnen.�
Foto: WDR / Alexander FischerkoesenNele (Emma Bading) raucht, trinkt, schw�nzt die Schule. Spieltheorie muss bei ihr anders aussehen als bei den Kiddies – und so macht Judith mit ihr Rollenspiele, in denen Nele die Rolle der Mutter �bernehmen muss. Dieses Spiel im Spiel ist von Autorin Langmaack dramaturgisch extrem geschickt entwickelt. Eine Szene, zwei Personen, doch drei Figuren werden charakterisiert und vom Zuschauer "erkannt". Die erwachsene Judith verliert die Kontrolle, ist pl�tzlich das kleine, kritisierte Kind.
Frei-R�ume f�r Figuren, Schauspieler & Zuschauer
Behutsam wie die Hauptfigur n�hern sich in dem ARD-Fernsehfilm „Weiter als der Ozean“ auch Drehbuchautorin Beate Langmaack und Regisseurin Isabel Kleefeld den Charakteren, den Konflikten und der kinder- und jugendtherapeutischen Praxis. Sowohl im Drehbuch als auch vor und hinter der Kamera werden Protagonisten wie Schauspielern (Frei-)R�ume gelassen. „Anstatt die Kinder in irgendeine Richtung zu dr�cken, stupst sie die Kinder nur ganz leicht an, l�sst sie zum Beispiel spielen und versucht dabei zu erfahren, was sie bedr�ckt, wo ihr Problem liegt“, umschreibt Hauptdarstellerin Rosalie Thomass die offene, in der heutigen therapeutischen Praxis g�ngige Methode ihrer Judith. Diese Offenheit ist auch in Langmaacks Vorlage zu finden: „Die Schauspieler werden vom Drehbuch nur selten direkt angewiesen, was sie wann zu f�hlen, denken, gestisch oder mimisch zu tun haben“, so Kleefeld. „Das ergibt sich alles aus Situation, Aktion und Dialog, wodurch das Innenleben der Figuren beim Spiel dann glaubhaft zum Vorschein kommen kann.“ Von diesen Freiheiten der Schauspieler, dieser prozesshaften Atmosph�re, bekommt auch der Zuschauer etwas zu sp�ren. Dieser fast dramaturgiefreie Blick auf Kommunikation ist ein weiterer Schritt des zeitgen�ssischen Fernsehrealismus’ Marke „dem Alltag beim Sich-Ereignen zuschauen“, wie ihn einst Dresens „Die Polizistin“ und Krohmers „Ende der Saison“ Anfang der 00er Jahre etablierten. So tastet sich auch der Zuschauer vorsichtig zum Kern der Geschichte(n) vor.
Soundtrack: Passenger („Let her go“)
Foto: WDR / Alexander Fischerkoesen„Das Drehbuch ist wie ein vielstimmiges Musikst�ck komponiert: Es gibt ein Thema und verschiedene Variationen dieses Themas“, sagt Rosalie Thomass. Die Grimme-Preistr�gerin ist eine Schauspielern mit einer enormen emotionalen Spannbreite: Sie gibt ihrer Psychotherapeutin eine gewisse Bodenst�ndigkeit mit, doch diese t�uscht �ber Judiths wahres Befinden hinweg. Sie f�hlt sich pl�tzlich wieder wie mit 14...
Gr��tm�gliche Normalit�t statt Dramatisierung
Der Film erz�hlt von einer jungen Frau und drei Kindern, die alle vier vor�bergehend ihre Orientierung verloren haben. Und noch einem scheint es �hnlich zu gehen, einem Buckelwal, der in der Ostsee gesichtet wurde. Er m�sse „falsch abgebogen“ sein, sagt der Meeresbiologe Martin, der mehrfach die Wege der Heldin kreuzt. Auch dieser Riesens�uger muss einen Ausweg aus dem Flachgew�sser, muss zur�ck in seine Gruppe finden. Sch�n, dass diese Metapher nicht nur im Film als ein St�ck Poesie mitschwingt, sondern dass der Wal auch eine ganz reale, unaufdringlich eingeflochtene Episode der Filmgeschichte wird. Die Medien berichten im Hintergrund und die Protagonisten nehmen regen Anteil am Schicksal des Meeresriesen. F�r ihn gibt es ein klassisches Film-Happy-End, und die Therapien enden, wie sie auch in Wirklichkeit enden k�nnten. Es wird nichts gesch�nt, es wird nichts dramatisiert. Alles in „Weiter als der Ozean“ hat eine gro�e Normalit�t. Das beginnt schon bei der Auswahl der F�lle: Bettn�ssen, Aufs�ssigkeit, Problempubert�t, Trennung der Eltern, Konflikte mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil – in welcher Familie gibt es das nicht? „Es sollte eben nicht darum gehen, dass wir ein oder zwei richtig schlimme F�lle ins Zentrum der Geschichte stellen“, so Beate Langmaack. Eine mutige Konzeption. Ungew�hnlich f�r einen TV-Film. Statt auf Nummer sicher zu gehen und einen jener konventionellen Themenfilme mit hohem, k�nstlich forciertem Konflikt- und Spannungspotenzial auf den Zuschauer loszulassen, sensibilisiert die Autorin f�r die seelischen Symptome und die sich dahinter verbergenden Umst�nde. Als Zuschauer folgt man dem Blick der idealistischen Heldin, die auch Fehler macht, aber deren psychotherapeutischer Ansatz, der die Eltern nicht zynisch ausgrenzt, bemerkenswert ist. Kleefeld: „Es geht nicht darum zu bewerten, es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen. Und Judith sucht die Antwort in erster Linie in den Kindern und in sich.“
Foto: WDR / Alexander Fischerkoesen„Ich gehe weiterhin davon aus, dass zun�chst einmal alle Eltern f�r ihr Kind das Beste wollen – nur ist, was die Eltern f�r das Beste halten, manchmal eben nicht das Beste f�r dieses Kind.“ Judith wird immer klarer in ihren Einsch�tzungen der Eltern-Kind-Kommunikation. Auch der Wal-Experte wird seltsam ber�hrt von dieser Frau. Und Rosalie Thomass und Robert Gwisdek finden einen wunderbar beil�ufigen Ton.
Auch die Heldin ist (noch) eine Suchende
„Weiter als der Ozean“ gelingt aber weitaus mehr, als nur die Psychotherapie f�r Kinder und Jugendliche aus der Tabu-Zone herauszuholen. Dieser WDR-Fernsehfilm erz�hlt ja ganz konkret von der Suche nach Orientierung, nach den richtigen Wegen aus einer Krise, aus Phasen der Irritation. Das gilt auch f�r die erwachsene Heldin, die zwischenzeitlich selbst noch einmal in eine Art pubert�re Trotzphase zur�ckf�llt. Sie verkraftet die Trennung von ihrem Freund, die Unsicherheit in ihrem ersten Job und sie �berwindet am Ende ihre Einsamkeit in der fremden, gro�en Stadt. Sie strampelt sich frei – auch bildlich: Eine wie Judith f�hrt nicht mit �ffentlichen Verkehrsmitteln; immer wieder sehen wir sie auf dem Fahrrad, wie sie sich die Stra�en der Gro�stadt erobert. Kleefeld: „Berlin ist der Ozean, in dem sich Judith orientieren muss und schlie�lich schwimmen lernt.“ (Text-Stand: 23.1.2014)
Foto: WDR / Alexander Fischerkoesen„Weiter als der Ozean“ ist film�sthetisch ein Genuss. „Offenheit“ und „Lebendigkeit“ sind auch in punkto Inszenierung die wesentlichen Merkmale. Neben der luftig bewegten Kamera und einer fein elliptischen, aktiv miterz�hlenden Montage f�llt auch der vorz�gliche, sinnstiftende Ton auf – mit dem Gesang der Wale, dem Berliner Stra�enl�rm und dem pulsierenden Sound im Kiez. Luis August Kurecki, Thomass
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
Sie k�nnen den fernsehfilm-beobachter unterst�tzen: Werden Sie Fan & Freund oder spenden Sie oder kaufen Sie bei amazon, indem Sie von hier, vom amazon-Button oder von jedem beliebigen DVD-Cover dorthin gelangen.