1 Ausgangslage: Krise, Unsicherheit, Instabilität

Das Angebot an Krisendeutungen in Deutschland ist überwältigend. Im Kompaktpaket sind Corona, Krieg in der Ukraine, Klimakatastrophe und Inflation die beherrschenden Themen der Medien. Die Wirkung dieser Nachrichten auf die Stimmung: Unsicherheit, Nervosität, Angst, Depression, Aggression … Die Rezepte zur Bewältigung der Misere sind ebenso vielfältig wie widersprüchlich. Lösungen sind nicht in Sicht. Der Fokus liegt eher auf immer weiterer Problemproduktion, sowie moralisch aufgeladener Empörung und Skandalisierung.

Die Krisenkommunikation der Medien steht in bemerkenswertem Kontrast zur tatsächlichen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Situation. Im internationalen Vergleich gehört Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft zu den reichsten und politisch stabilsten Ländern der Welt.

Perspektivverändernd mag ein historischer Vergleich der aktuellen Situation mit der vor 100 Jahren sein, als Deutschland Krisenerfahrungen machte, die weitaus tiefgreifender und radikaler waren als heute. So war das Jahr 1923 geprägt durch Armut, Krankheiten, eine Hyperinflation, erste Putschversuche der Nationalsozialist*innen, Straßenkämpfe, Massenarbeitslosigkeit, weltpolitische Isolation, Belastung durch Reparationszahlungen und in Folge Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen.

Im Vergleich dazu wirken die Krisenerfahrungen heute doch überschaubar: Die Coronapandemie führte zu Kontakteinschränkungen, Maskenpflicht und in der Nachkriegszeit beispielloser Begrenzung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens; generelle Ausgangssperren, wie in vielen Nachbarländern, gab es in Deutschland jedoch nicht. Die Zahl der Todesfälle war im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. Die flächendeckenden, kostenlosen Impfangebote mit den modernsten Impfstoffen waren weltweit nicht Standard. Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist für die meisten ein Medienereignis, keine persönliche Erfahrung. Den Klimawandel erfahren und erleiden vor allem Ältere und Kranke, z. B. durch besonders in Ballungsräumen zunehmende Hitze im Hochsommer. Lebensweltlich erfahrbar sind für die große Mehrheit mildere Winter und die sauberste Umwelt seit Jahrzehnten. Erstmals seit Jahrzehnten erleben Erwerbstätige durch die gestiegene Inflation wieder einen realen Kaufkraftverlust. Gewerkschaften halten diesen aber in Grenzen. Inflationsausgleich, Heizkostenpauschale und Gaspreisdeckelung federn die „Gaskrise“ für Durchschnittsverdiener deutlich ab.

Mit dieser Skizze wird nicht behauptet, es gäbe keine Risiken und Probleme, die zu Besorgnis Anlass geben. Darauf wird hier jedoch nicht fokussiert. Vielmehr geht es darum, soziologisch zu verstehen, wohe – trotz anhaltendem Wohlstand und Sicherheit – das Unsicherheitsgefühl und die Tendenzen zur Destabilisierung der Gesellschaft rühren.

Die These: Ein maßgeblicher Faktor ist die in Deutschland besonders gering ausgeprägte Kompetenz im Umgang mit Kontingenz, verbunden mit einem generellen Unbehagen an den „modernen“ Aspekten der Gesellschaft.

Kontingenz meint hier in Anlehnung an Rorty (1991) die Einsicht, dass unsere zentralen Überzeugungen, Werte und Bedürfnisse historisch zufällig sind. Es gab keine Notwendigkeit dafür, sie hätten sich auch anders entwickeln können und werden sich in Zukunft wieder verändern. Das ist philosophisch-soziologisch keine ganz neue Erkenntnis. Sie ist aber leichter gesagt als gelebt. Die Entwicklung der dafür notwendigen Kompetenzen ist noch im Fluss. Mit Unsicherheit und „Unbehagen an der Moderne“ gibt es Vorerfahrungen aus der Weimarer Zeit. Daraus kann man lernen.

2 Kontingenz als Zumutung und das Unbehagen an der Moderne

Das von Taylor (1996) formulierte „Unbehagen an der Moderne“ begleitet diese eigentlich von Beginn an. Kants Aufforderung, den eigenen Verstand zu nutzen, wurde seit der Aufklärung wahlweise als Befreiung oder als Zumutung aufgefasst. Im aktuellen Diskurs scheint das Pendel nach Jahren des optimistisch gestimmten, aufklärerischen Befreiungs- und Fortschrittsglaubens wieder mehr in Richtung „Zumutung“ auszuschlagen. Amlinger und Nachtwey diagnostizieren in „Gekränkte Freiheit“ (2022) „Tendenzen zur Kapitulation vor den Komplexitätszumutungen der spätmodernen Welt“ (S. 347) auch bei den gesellschaftlichen Eliten. In der Krisenerfahrung der Pandemie neigten so z. B. die selbst ernannten „Querdenker“ zur „regressiven Rebellion“: „Freiheit ist in dieser Perspektive kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern persönlicher Besitzstand“ (S. 14). In Anspielung auf Lukacs Begriff der „transzendentalen Heimatlosigkeit“ diagnostizieren sie heute wieder einen erhörten Bedarf nach „transzendentalem Obdach“ (S. 340). In den „Neogemeinschaften des Misstrauens“ (S. 341) fänden die regressiven Rebellen ihre neue Heimat. Zu einer ähnlichen Diagnose, wenn auch zu anderen Schlussfolgerungen, kommt Staab (2022), der nicht mehr Selbstentfaltung, Fortschritt, Individualisierung, und Emanzipation, sondern „Anpassung“ als Leitmotiv der Gegenwart vorschlägt. Der aus seiner Sicht überbetonte Drang nach Selbstentfaltung werde abgelöst durch den Imperativ der Selbsterhaltung. Risiken wie Klimawandel, Verarmung und die Rückkehr des Krieges in Europa entzögen der Selbstentfaltung die notwendige Basis. Die Stimmung in der aktuellen soziologischen Debatte in Deutschland entspricht hier der der Bevölkerung: verhalten, resignativ.

Ganz anders der Ton in den krisengeschüttelten 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Die Herausforderungen der Moderne wurden kraftvoll, radikal und streitbar diskutiert. Einen guten Eindruck dazu gibt Martynkewicz in „Das Café der trunkenen Philosophen“ (2022). Am Beispiel der Frankfurter Intellektuellenszene zeichnet er den produktiven Modernediskurs von Mannheims „freischwebender Intelligenz“ bis hin zur kritischen Theorie vom autoritären Charakter bei Adorno/Horkheimer. Der aus der Ideologiekritik Mannheims folgende „Relativismus“ aller Werte, auch der aufgeklärten abendländischen Kultur selbst, wird nach den zuvor bereits erfolgten Kränkungen durch Darwins Evolutionstheorie und Verunsicherung durch Freuds Entdeckung des Unbewussten von vielen als eine weitere „Zumutung“ empfunden. Der Einbruch der Kontingenz in die Welt der Werte destruierte, wie wir heute wissen, am Ende Legitimation von Gesellschaft und Staat in der Weimarer Republik. Es folgte die Regression zur Gewaltherrschaft der Nationalsozialist*innen, die die Komplexität und Vielfalt der modernen Weimarer Gesellschaft radikal reduzierten, indem sie sie gewaltsam zerstörten und eine auf Rassenideologie fußende „Gemeinschaft“ von Volksgenossen errichteten.

Was suchten die Deutschen damals in der Volksgemeinschaft und was suchen „Querdenker“ heute in den Neogemeinschaften? Bei dieser Frage kam mir der Soziologe und Biologe Helmuth Plessner in Erinnerung, der in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts den soziologischen Diskurs in Deutschland maßgeblich mitgestaltete, wegen seiner jüdischen Abstammung 1933 aus dem Hochschuldienst entlassen wurde, nach Holland emigrierte und nach dem Krieg Präsident der Universität in Göttingen wurde (Plessner 2023). Auch wenn ich ihn als Student in Göttingen nicht mehr persönlich erlebt habe, haben mich seine Gesellschaftsanalyse und persönliche Haltung beeindruckt und ich meine, es lohnt sich, diese einmal auf unsere Situation heute anzuwenden. Ins Zentrum stelle ich dabei seine 1924 in „Grenzen der Gemeinschaft“ entwickelte Differenz von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ und skizziere anschließend, wie mit einer solchen Haltung das Risiko von Regression in der gegenwärtigen Gesellschaft verringert werden könnte.

Plessner bezeichnet die beiden ideologischen Hauptströmungen seiner Zeit, Kommunismus und Faschismus, als „sozialen Radikalismus“. Heute könnte man dafür den „Sozialliberalismus“ der etablierten Schichten auf der einen Seite und die noch diffuse, sich radikalisierende Protesthaltung sozialer Schichten der Außenseiter, Abgehängten und Modernisierungsverlierer, die ein intellektuelles Sprachrohr in der Querdenkerszene gefunden haben, auf der anderen Seite nehmen. Der „soziale Radikalismus“ entzieht sich laut Plessner den Herausforderungen der Moderne, indem er die auf „Übereinkunft“ gegründete Gesellschaft in eine Gemeinschaft zurückführen will, die auf nichthinterfragbaren Werten, wie „Blut und Rasse“ bei den Faschisten und die „Sache des Kommunismus“ bei den Bolschewisten beruht. Das „Gemeinschaftsethos“ und der „Moralismus“ bedrohte für Plessner die Autonomie der selbstständigen Person in der freien Gesellschaft. Diese binde sich mit „Haut und Haaren“ an die Gemeinschaft, anstatt nur auf „Treu und Glauben“, wie in der Gesellschaft (Plessner 1924, S. 45).

Gegen den gemeinschaftsstiftenden Moralismus entwickelt Plessner (1924) ein Gesellschaftsmodell, welches die Herausforderungen der Moderne annimmt, statt davor zu kapitulieren. Er akzeptiert die aus der Kontingenz der Werte folgende transzendentale Heimatlosigkeit, verzichtet auf moralisch letztbegründete universelle Werte und setzt auf die Vergesellschaftung selbstständiger, nicht gemeinschaftlich verbundener Individuen, in freier Entscheidung. Das gesellschaftliche Leben findet in der „Öffentlichkeit“ und nicht in nach außen abgeschotteten Gemeinschaften statt. Die Grenze der Gemeinschaft ist bedingt durch „die Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit … sie ist der Inbegriff der Möglichkeitsbeziehungen zwischen einer unbestimmten Zahl und Art von Personen …“ (S. 55) und damit konstitutiv für Gesellschaft. Als „offenes System des Verkehrs zwischen unverbundenen Personen“, regeln diese ihr Zusammenleben in „künstlichen Übereinkünften“ in eigener Verantwortung. Öffentlichkeit wird für Plessner „zum genauen Gegenbild der natürlichen Verhältnisse zwischen Menschen …, sie besteht aus lauter gleichen Wesen, nicht weil sie einander, sondern füreinander gleich sind …“ (S. 102) Diese Form der Vergesellschaftung erscheine den „Idealisten“ kalt und unnatürlich. Sie sehnen sich zurück in die Wärme der Gemeinschaft (Plessner 1924). Doch das hat seinen Preis: „… wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muss sich dem Glauben zum Opfer bringen“ (Plessner zitiert nach Eßbach 2011, S. 39). In der Transaktionsanalyse entspräche das der Aufgabe einer erwachsenen Ich-Position und Regression zum abhängigen Kind.

Die Legitimation der Gesellschaft bedarf auch bei Plessner einer Wertentscheidung. Diese erhebt aber nicht mehr den Anspruch universell rational begründbar zu sein und kann daher nicht argumentativ erzwungen werden. Es ist eine persönliche Entscheidung. Plessner sieht ein „Aufgefordertsein“ zur Achtung der individuell geprägten „Würde“ des Menschen und findet darin die ethische Grundlegung der Gesellschaft. Seine anthropologische Begründung der „Würde“ des Menschen hat er in den „Stufen des Organischen“ 1928 entwickelt. Der Mensch ist demnach Natur „und“ Kultur, nicht „oder“. Plessner hebt damit den seit der Aufklärung gesetzten Dualismus von Körper und Geist und die moralische Überstellung des Geistes über den Körper auf. Insoweit steht der Mensch „gleich mit anderen Tieren“. Allein seine „exzentrische Position“, die Fähigkeit zur Reflexion des eigenen Zentrums, wir würden heute sagen, die Einnahme einer Metaposition und Entwicklung eines Selbstbewusstseins, unterscheide den Menschen von Tieren und mache ihn zu einem (auch) geistigen Wesen. „Der Mensch als lebendiges Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, … weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus“ (Eßbach 2011, S. 30). Diese exzentrische Position gibt den Menschen auch die Fähigkeit, sich selbst als „von Natur aus soziales Wesen“ einer „Mitwelt“, zu verstehen. „Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird. In der Sozialität erfährt die Exzentrizität des Menschen ihre Bestimmung“ (Eßbach 2011, S. 36). Entgegen dem Neoliberalismus und den intellektuellen Spielarten negativer Freiheit der Querdenkerszene zeigt Plessner die philosophisch-anthropologische Notwendigkeit der Verbindung von Freiheit des Einzelnen und Solidarität in der Gesellschaft. Dieses Modell eines aufeinander bezogenen Miteinanders passt gut zur Haltung der Transaktionsanalyse. So weit, so konsensfähig.

Neben dem Bedürfnis nach Geborgenheit betont Plessner (1924) aber auch ein anthropologisches Bedürfnis des Menschen nach Distanz, auf die er auch ein Recht habe. In der sozialen Distanz, im richtigen Abstand der Personen in der gesellschaftlichen Ordnung, wird für Plessner erst die eigene Würde und die Würde des anderen respektiert, in der Distanzlosigkeit beschädigt. Dieser heute eher unvertraute Gedanke gehört meines Erachtens aber zur Wahrheit des Menschen dazu. Wo er missachtet wird, ist Gesellschaft, die auf der Würde des einzelnen Menschen beruht – und das ist etwas anderes als eine abstrakte universelle Menschenwürde – nicht möglich. Ist das heute konsensfähig?

Auch Plessners Verständnis von Politik würde heute wahrscheinlich wenig Zustimmung finden. Ich werbe hier gleichwohl dafür, weil es zu einer realistischen, pragmatischen und lösungsorientierteren Politik beitragen könnte. Politische Entscheidungen und Übereinkünfte werden aus Plessners (1924) Sicht in kämpferischer Auseinandersetzung divergierender, per se gleichberechtigter Interessen getroffen. Entscheidungen sind nicht überindividuell rational begründbar. Die in der Auseinandersetzung erzielten „Übereinkünfte“ nennt er in der wirtschaftlichen Sphäre „Geschäft“, in der politischen Sphäre „Diplomatie“ (1924, S. 96). „Überzeugungen“ haben hier nicht ihren Platz. Es zählen Erfolg und Vorteil, nicht Meinung und Gesinnung. In der Politik gilt die „Amtsmoral“, nicht die „Privatmoral“ des Amtsträgers. Eine Vermischung der Sphären sei naiv und gefährlich. Hier ist Plessner nahe an der Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik Max Webers (1976).

Die „Sentimentalisierung“ von Politik durch „Moralisten“ schwächt nach Plessner (1924) die Gesellschaft. Sie kultivierten ihr schlechtes Gewissen und übertriebenen Moralismus und kompensierten damit ihre innere Labilität. „Unsere Haltung leidet an einer Überbetonung der Gesinnung, des Gewissens.“ (S. 112)

Plessner (1924) sieht hier das Erbe Luthers, der „der Welt den Ernst, der keine Kompromisse kennt (bringt), den Fanatismus des Gewissens … Deutschlands Problem ist also die Vereinbarkeit von Wirklichkeit und Ideal, sozial gefasst von Politik und Moral.“ (S. 20). Hier schlägt man sich lieber auf die Seite der Moral und verachtet die Politik als schmutziges Geschäft. „Dem Deutschen ist nicht leicht ums Herz, wenn er Politik treibt, weil er sich nicht zu spielen getraut. So kommt er in jene verbissene Haltung, zur Überkompensation seiner inneren Labilität, … und schätzt Probleme höher als Lösungen“ (S. 22).

Das von Plessner diagnostizierte „schlechte Gewissen“ der Deutschen ist heute mit Händen zu greifen und hat sich in teilweise pathologische Dimensionen gesteigert: Darf man fliegen angesichts der Klimakrise? Kann man in den Urlaub fahren, wenn in der Ukraine Krieg wütet? Darf man Tiere essen oder ihnen etwas wegnehmen? Soll man Romane mit überholten Geschlechterbildern verbieten? Darf man als Weißer schwarze Musik machen, oder ist das kulturelle Aneignung? Diese und andere Fragen werden nicht analysiert, in Kontexte eingeordnet und dann aus einer transparent gemachten Interessen- und/oder Werthaltung heraus entschieden, sondern reflexhaft moralisch einsortiert und mit Gesinnungsvorgaben versehen. In den sogenannten sozialen Medien ist die Reflexhaftigkeit und Selbstreferenzialität noch einmal gesteigert. Zu einer Entscheidung, das persönliche Verhalten zu ändern, führt dieser Diskurs in den meisten Fällen nicht.

Politik und Wirtschaft gelten dem Gesinnungsdiskurs tendenziell als unmoralisch. Das hat gravierende Folgen: notwendige Entscheidungen und lösungsorientiertes Handeln werden ersetzt durch moralisierende Empörung. In Anlehnung an die TA könnte man hier vielleicht von „Agitation“ sprechen. Die Politik bietet Trostpflaster für das schlechte Gewissen statt Lösungen. Gute Gesinnung ist wichtiger als das Ergebnis eigenen Handelns. Sie verspricht den Verunsicherten Sicherheit und Stabilität ohne selbst entscheiden und handeln zu müssen.

Plessner (1924) gibt also die schlechte Nachricht: In der durch Öffentlichkeit immer wieder erst herzustellenden Gesellschaft gibt es keine Sicherheit und „kein stabiles Gleichgewicht … hier herrscht labiles Gleichgewicht …“ (S. 80). Die gute Nachricht: Labiles Gleichgewicht ist möglich und macht das Leben interessant, wenn auch nicht bequem. Durch Beweglichkeit, Leichtigkeit, Höflichkeit und Takt (Plessner 1924), das Spielen mit Möglichkeiten, das Ausbalancieren von Ambivalenzen, Leben mit den Paradoxien des „sowohl als auch“ und grundsätzliche Offenheit für andere Perspektiven kann die kontingente Moderne als Chance statt als Zumutung begriffen und gelebt werden.

3 Zum angemessenen Umgang mit Kontingenz

Kontingenz ist ein gegebener Zustand und kein Problem. Das sah Plessner bereits in den 20er-Jahren so und wirkt in dem Stufen des Organischen zum Teil wie ein Vorläufer der Systemtheorie. Das Soziale „baut sich aus dem Unvorhersehbaren auf und stellt sich in Situationen dar, deren Bewältigung nie eindeutig und nur in Alternativen erfolgt“ (Eßbach 2011, S. 50).

Für die Systemtheorie in der Tradition von Maturana und Valera (2009) bis Luhmann (1984) ist die Kontingenz biologischer oder sozialer Systeme gesetzt. Unbestimmtheit ist für Luhmann konstituierendes Merkmal von unzuverlässigen, weil selbstreferenziellen Systemen, die nicht durchschaubar und deshalb unberechenbar sind. Man weiß nicht, was morgen passiert. Baecker und Kluge (2003) machen das anschaulich: „… ich kann jemanden durchschaut haben und weiß deswegen nicht, was er als nächstes tut; denn ich muss damit rechnen, dass er damit rechnet, dass ich ihn durchschaut habe“ (S. 15).

Organisationen verarbeiten Kontingenz, indem sie ungewisse Umwelten in formale Organisation überführen. Dabei arbeiten sie mit paradoxen Konstrukten wie Hierarchien, die Ebenen in der Organisation miteinander verbinden, indem sie sie voneinander trennen. Zur Beratung von Organisationen greifen nicht nur die „Systemiker“, sondern auch die „TA’ler“ auf Elemente der Systemtheorie zurück. Die systemische TA würde Kontingenz wohl auch als eher unangenehmen Zustand, denn als Problem bezeichnen. Die Managementtheorie begann damit ebenfalls in den 90er-Jahren und definierte die Rolle des Managements neu. „Management besteht darin, die Kontingenz der Situation, ihre Möglichkeit, anders zu sein, als sie ist, und sich anders zu entwickeln, als sie sich gegenwärtig entwickelt, in die Situation hineinzutragen. … aber es darf nicht der Eindruck entstehen, der Manager könne zeigen, wo es lang geht. Denn das weiß er ja nicht“ (Baecker und Kluge 2003, S. 50). Nach meiner Erfahrung hat sich das real existierende Management bisher wenig in diese Rolle hineingefunden und Berater*innen haben diese Funktion übernommen. Aus ihrer externen und handlungsentlasteten Position heraus ist das auch deutlich einfacher.

Akzeptiert man Kontingenz als Zustand und nicht als Problem, so erledigt sich der moralisierende Diskurs á la „Moderne: Fluch oder Segen“ und es öffnet sich der Blick für das, was ist. Dann geht es darum, wie und aus welcher Haltung heraus die Gesellschaft, mit den Herausforderungen von Kontingenz lebenspraktisch so umgeht, dass sowohl die Autonomie der Individuen respektiert als auch Bestand und Entwicklung der Gesellschaft möglich bleibt. Diese Haltung erfordert eine Entscheidung für die Verantwortungsgesellschaft. Moderne Gesellschaften sind eben keine Schicksals- und Heilsgemeinschaften mehr.

Die Haltung der Transaktionsanalyse auf der individuellen Ebene ist klar: Es geht immer um die Aufrechterhaltung und Stärkung der Autonomie der Person. Im Kontext von Organisationen kommt die Stärkung der Lebens- und Leistungsfähigkeit der Organisation hinzu. Bezogen auf die Gesellschaft ist die Haltung nicht so klar und wahrscheinlich auch nicht einheitlich. Das ist auch nicht notwendig, da die Gesellschaft kein „Kunde“ ist. Die Haltung grundsätzlicher Stärkung von Würde und Autonomie des Individuums unter der Bedingung gesellschaftlicher Solidarität und Vermeidung von Regression, wäre aus meiner Sicht aber eine akzeptable Diskussionsgrundlage. Diese Haltung hat einige Implikationen.

Die Symbiose von Bevölkerung und Staat im Modell des Wohlfahrtstaat der alten Bundesrepublik wäre obsolet. Vater Staat sorgt dann nicht mehr für seine Kinder. Das illusionäre Versprechen Ehrhards: Wohlstand für alle, hätte sich ebenso erledigt wie Adenauers Credo: Keine Experimente. Auch die spätere Vorstellung einer Risikogesellschaft, in der der Staat die Bürger*innen vor Unsicherheit durch „Versicherung“ allgemeiner Lebensrisiken schützt, ist angesichts der Höhe der Versicherungsprämien nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Was Wohlfahrtstaat und Risikogesellschaft ablösen wird, ist offen. Ein alternatives gesellschaftliches Patentkonzept wird hier nicht geboten. Vielmehr werden im Folgenden einige liebgewordene Glaubenssätze, Überzeugen und Gewissheiten zur Disposition gestellt, die meines Erachtens der gesellschaftlichen Aushandlung divergierende Interessen und der Lösung drängender Probleme eher im Wege stehen. Das öffnet Freiräume und Optionen für einen, auch gesellschaftlich, „erwachsenen“ Umgang mit Kontingenz. Also: „Kill your Darlings“.

„herrschaftsfreier Diskurs“ führt immer zu guten Lösungen

Tatsächlich führen Diskussionen nicht zu Lösungen, sondern sind häufig eine Vermeidungsstrategie gegenüber problemlösendem Handeln. Man könnte dies, in Anlehnung an die TA, das „passive Verhalten der Diskursgesellschaft“ nennen. Die Lösung konfligierender Interessen wird durch Verhandeln nicht durch Überzeugen erreicht. Das „Argument“ in der Diskussion ist eher ein verschleiertes Kampfmittel, wird als solches durchschaut und durch andere „Argumente“ bekämpft. Der Glaube der Diskursethik, dass bessere Argument werde sich durchsetzen und Einsicht stiften, ist eine Illusion. Es ist effizienter, gleich in Verhandlung mit dem Ziel von Übereinkünften einzutreten und Sache der Geschicklichkeit, alle Beteiligten die erzielten Übereinkünfte als gerecht und fair empfinden zu lassen. Fair „sein“ können sie nicht. Statt einer Konsenskultur der Meinungen bedarf es einer Kompromisskultur der Interessen. Das Vertrauen in die konsensstiftende Diskursethik schwächt sich auch bei Habermas (2022) ab. In „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zeichnet er prägnant die Transformation der Mediengesellschaft durch Digitalisierung nach. Die radikale Veränderung der Struktur der öffentlichen Meinungsbildung in der digitalen, vernetzen, globalen Medienwelt mit ihrer plattformgetriebenen Kommunikation ignoriert die Regeln des öffentlichen Diskurses und zieht sich in Kampfzonen von Gesinnungsgemeinschaften zurück. Öffentlichkeit als Voraussetzung demokratischer Meinungsbildung verliert damit an Boden.

Generell gilt: können Übereinkünfte in Verhandlungen nicht erzielt werden, besteht weiterhin das Risiko der Gewaltentscheidung.

Gewalt hat keinen Platz in der Gesellschaft

Die Vorstellung einer gewaltlosen Gesellschaft ist in Plessners (1924) polemischer Formulierung „eine Utopie, … ein Luxus der Gewissensharmonie eines Rentiers …“ (S. 121). Gewalt ist, z. B. in Form struktureller Gewalt, tatsächlich ein legaler Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um divergierende Interessen. Sie ist in der modernen Gesellschaft aber zivilisiert und durch das Recht reglementiert. Die Spezialform von Gewalt „Krieg“ ist dagegen nicht legitim, für Plessner ist er wider die „geistige Natur des Menschen“. Im „Vernichtungskampf“ sinkt der Mensch in Plessners Stufen des Organischen auf das Niveau des Tieres und verliert (temporär) seine Gesellschaftsfähigkeit. Erst im Friedensvertrag wird die spezifisch menschliche „exzentrische“ Position wieder eingenommen, und die Exzesse der Gewalt können enden.

Durch das Aushandeln von Kompromissen unterschiedlicher aber per se gleichwertiger Interessen gelingt es innerhalb von modernen Nationalstaaten und Zivilgesellschaften bisher noch recht gut, eskalierende Gewaltrisiken zu minimieren. Anders sieht es im Verhältnis der Staaten untereinander aus. Vom Gewaltmonopol eines „Weltstaates“ in einer globalen Weltgesellschaft sind wir weit entfernt. Es werden jedoch ständig Verträge zum Ausgleich unterschiedlicher aber gegenseitig grundsätzlich akzeptierter Interessen im internationalen Verkehr geschlossen und auch eingehalten. Internationale Gerichtshöfe können bei Regelverstößen angerufen werden. Auch wenn deren Durchsetzungsmacht begrenzt ist, bleibt die Verhandlung internationaler Übereinkünfte erfolgversprechender als die Beschwörung gemeinsamer Werte der Menschheit und die Hoffnung auf eine globale Wertegemeinschaft.

Macht ist böse

Die Botschaft der Soziologie dazu ist eindeutig: es gibt keine gesellschaftliche Ordnung und natürlich auch keine Gemeinschaft ohne Machtbeziehungen. Sie sind gegeben und nicht aufhebbar, wohl aber veränderbar. Die Durchsetzung der Interessen erfolgt in der Politik durch Macht. Politik funktioniert nicht durch „überzeugen“. Max Weber (1976) definiert Macht kühl als die Chance, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichwohl, worauf diese Chance beruht“ (S. 28). Michel Foucault (1976) hat die „Mikrophysik der Macht“ in spezifischen sozialen Konfigurationen als labiles Resultat strategischer Dispositionen analysiert. Deren Modell ist nicht der Vertrag, sondern die immerwährende Schlacht. Die aktuelle Machtkonfiguration ist jeweils historisch geworden und für den Moment gegeben. Aufgabe der Soziologie wie auch der Beratung ist es, konkrete Konfigurationen der Macht zu beschreiben und zu analysieren. Die involvierten Personen entscheiden dagegen ihren Umgang mit der Macht in der spezifischen strategischen Situation und können z. B. widerständige Elemente einbringen. Abschaffen kann die Macht niemand.

Entgegen dem nüchternen soziologischen Blick auf die Macht ist diese im gesellschaftlichen Diskurs und meiner Wahrnehmung nach auch in der Transaktionsanalyse nach wie vor moralisch negativ konnotiert. Auch Plessner (1924) hat sich an diesem spezifisch deutschen Phänomen abgearbeitet. „Der Radikalismus sieht in der Behauptung der Macht in jedem Fall eine Gewissenlosigkeit …“ (S. 19). Dieses Ressentiment gegenüber der Macht lähmt bis heute die sich selbst als „progressiv“ verstehenden Kräfte in der Gesellschaft.

Persönliches Vertrauen bildet die Basis gesellschaftlicher Beziehungen

Persönliches Vertrauen kann in großen sozialen Systemen nicht mehr gesellschaftskonstituierend wirken. Vertrauen in Werte und diese Werte teilende Menschen passt eher in Gemeinschaften wie Familie, Verein, Nachbarschaft etc. In gesellschaftlichen Konfigurationen wie Politik und Wirtschaft kann allenfalls in die Reziprozität der Einhaltung von gemeinsam gesetzten Regeln „vertraut“ werden. Eine gewisse Absicherung geben juristische Regelsysteme sowie der mit Gewaltmonopol ausgestattete Staat, der die Einhaltung von Regeln notfalls auch mit gewaltsamen Zwangsmitteln durchsetzen kann.

Authentizität ist immer gut

Authentisches Verhalten steht augenblicklich hoch im Kurs. Zurückhaltung der Gefühle, Diplomatie im Ton, rollenkonformes Verhalten, taktvolles über Schwächen hinwegsehen werden weniger geschätzt. Der Mensch soll sich nicht nur im privaten Raum, sondern auch in der Öffentlichkeit so zeigen, wie er ist. Plessner (1924) hat das damit verbundene Risiko der Lächerlichkeit und des Verlustes der Würde aufgezeigt. Die Öffentlichkeit ist eben nicht der Platz für das Authentische. Hier nimmt der Mensch seine jeweiligen Rollen ein und lässt seine Persönlichkeit bestenfalls durch diese hindurchscheinen. Die soziale Rolle ist auch eine Form des Schutzes der Person in der Öffentlichkeit. In Wirtschaft und Politik ist Rollenkonformität schlicht eine Forderung der Professionalität.

Unbewusstheit gehört aufgeklärt

Nicht in jedem Fall. Sie kann notwendig sein für Entscheidungen in Situationen, wo Lösungen nicht rechenbar, nicht alternativlos und nicht voraussehbar richtig oder falsch sind, also in komplexen Situationen mit hoher Kontingenz. Raffinement der Überlegung, Selbstbeobachtung, Selbstbeherrschung, kurz Reflexivität kann hier das Handeln behindern. Soll also auf Reflexion vollständig verzichtet werden? Natürlich nicht: Es gilt, das „Sowohl als auch“, nicht das „Entweder oder“. Hier zeigt sich der Vorteil der Plessnerschen Aufhebung von antagonistischen Dualismen. Dadurch werden Engführungen vermieden und Handlungsfähigkeit erhöht. Zur Tat gehört Naivität und Reflexivität: „Ohne Reflexivität ist die Tat blind“ (Plessner 1924, S. 66).

Wirtschaft ist unmoralisch

Die Wirtschaftsferne und -feindlichkeit der geisteswissenschaftlichen Eilten in Deutschland hat Tradition. Der Wirtschaft in der Bundesrepublik hat das bisher nicht geschadet, es wird aber langsam zu einem Risiko. Über betriebswirtschaftliches Kalkül hinausgehende Perspektiven wurden so lange Zeit in die Wirtschaft nicht eingebracht. Erst mit der vermehrten Erwerbstätigkeit von Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen in der Wirtschaft hat sich das verändert (Konrad 1998). Themen wie Partizipation, Selbstverwirklichung, Autonomie und Sinn in der Arbeit (Purpose) scheinen seitdem in den Diskursen über Wirtschaft und auch in den Unternehmen selbst vermehrt auf. Es wäre an der Zeit, Wirtschaft als System anzuerkennen, das sich über Erfolg steuert, ohne dass dies Übereinkünfte zu Wertestandards ausschließt. Also auch hier kein Dualismus, sondern: Erfolg und Sinn.

Technik ist gefährlich

Die eher ablehnende Haltung gegenüber der Technik in Deutschland findet sich überwiegend im gleichen Milieu wie oben beschrieben. Moderne Gesellschaft ist aber ohne moderne Technik nicht möglich. Die Entwicklung der Technik ist nicht politisch steuerbar. Der bewusste Umgang mit Technik entscheidet, in welchem Maße sie dem Menschen gefährlich oder nützlich wird. Mit der Digitalisierung ist Technik wieder der maßgebliche Treiber der gesellschaftlichen Entwicklung geworden, wie schon einmal bei der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Höchste Zeit auch dazu eine erwachsene, Verantwortung übernehmende Position einzunehmen.

4 Schluss

In kürzester Zusammenfassung kann man sagen: Die durch Kontingenz bedingte Unbestimmtheit sozialer Prozesse und die Relativierung der Werte kann zu Unsicherheit führen und die Gesellschaft destabilisieren, muss es aber nicht. Das Ende der Weimarer Republik ist das kritische historische Beispiel in der deutschen Geschichte. Deren Scheitern war aber nicht zwangsläufig, alternativlos und vorherbestimmt. Es hätte auch anders sein können. Aus den Debatten dieser Zeit können wir Lehren ziehen, welche gesellschaftlichen Haltungen heute risikominimierend gegenüber den Unbestimmtheiten unserer Gesellschaft wirken können. Im Wesentlichen sind es meines Erachtens folgende drei:

  • Akzeptanz von Kontingenz als gegebenes Strukturmerkmal moderner Gesellschaften

  • Offenheit für Alternativen im Denken und Handeln statt Optionen verminderndem Dualismus

  • Verzicht auf die Geltendmachung absoluter Werte im gesellschaftlichen Diskurs

Auf Basis einer solchen Haltung lassen sich Kompetenzen im Umgang mit Kontingenz weiterentwickeln, die wirksames Handeln befördern und Gewaltentscheidungen unwahrscheinlicher machen. Die in diesem Aufsatz angesprochenen Kompetenzfelder hier noch einmal in Stichworten:

  • Verhandeln von Interessengegensätzen statt überzeugen

  • Gleichberechtigung von unterschiedlichen Interessen anerkennen

  • Vertrauen in Reziprozität der Regeleinhaltung im gesellschaftlichen Verkehr

  • Professionelle Rollenausübung statt persönlicher Authentizität

  • Mut, unter Unsicherheit und in Dilemmasituationen zu entscheiden und zu handeln

  • Wille, die eigenen Interessen mit legalen Mitteln der Macht durchzusetzen

  • Erfolgreiches Agieren in der Wirtschaft und dort errungene Vorteile mit gutem Gewissen nutzen

  • Interesse und Offenheit für technische Entwicklung und bewusste Nutzung der Möglichkeiten

Gut möglich, dass diese Vorschläge helfen, ein labiles Gleichgewicht auf schwankendem Boden zu erreichen – sicher ist es nicht.