„Das Schwein muss gekillt werden!“ Es war mehr als Pennälergeschwätz, das der Oberschüler Sebastian Haffner über diesen Politiker gehört hatte. Es war die Meinung, die im Jahr 1922 ein erheblicher Teil der Deutschen über ihren Außenminister vertrat. Andere wiederum vergötterten Walther Rathenau und waren außer sich, als sie am 24. Juni 1922 vom Mord an dem Mann erfuhren, der dabei gewesen war, ihnen wieder Zuversicht zu schenken. Manche Historiker glauben bis heute, er hätte mehr für das Ansehen der Republik als Staatsform tun können als jeder, der ihm bis 1933 nachfolgte.
Historische Größe besitzt, wer als Persönlichkeit letzte Liebe und letzten Hass der Zeitgenossen auf sich zieht. 1919 entwickelte der Soziologe Max Weber sein Konzept des „Charismatischen Herrschers“ – und es ist, als ob Rathenau dafür Pate gestanden hätte: Der Staatsmann in Diensten der liberalen DDP verfügte über eine Anziehungskraft, die nicht nur auf erlerntem Fachwissen, Tüchtigkeit und Bescheidenheit fußte. Nein, der Außenminister des Jahres 1922 vereinte in sich Gegensätze, die niemand vereinen kann.
Als gläubiger Jude war er auch selbst noch stramm nationaler Deutscher, als im Ersten Weltkrieg der Antisemitismus stark zunahm. Er war ein Kaufmann mit einem lyrischen Herzen. Er war ein Liberaler, dessen Planwirtschaft in Kriegszeiten noch NS-Rüstungsminister Albert Speer kopierte. Er glaubte bis 1918 an einen „Siegfrieden“ für Deutschland und empfahl noch im November, die Kämpfe fortzusetzen, wirkte danach völlig selbstverständlich als Politiker der Republik und handelte Verträge wie den von Rapallo aus, der die Beziehung zur Sowjetunion normalisieren sollte.
Wer wissen will, wie das ging, der liest heute am besten seine Reden und Essays. Bei aller Klarheit des Begriffs, bei aller Kunst des sauberen Satzbaus, lauert hinter jeder Formulierung die Verführung, den Leser glauben zu machen, dass die unsichtbare Welt der Seele und des Geistes vielleicht doch realer sei als alles, was Menschen sehen und hören. Doch was bei rechten Autoren von Oswald Spengler bis Ernst Jünger nur allzu oft in plumpes Geraune umschlug, spricht bei Rathenau auch heute noch Menschen an, die es ungern unter Goethe, Thomas Mann und Kafka machen.
So ist es wahrscheinlich, dass Rechtsextremisten ihn schon deshalb verteufelten, weil sie ihn beneideten. Grausam ist der Gedanke, wie einfach es Rathenau ihnen machte, ihn zu töten: Für seinen Weg zur Arbeit in Berlin-Mitte verzichtete er auf Personenschutz, er setzte sich einfach in seinen offenen Wagen. Am 24. Juni 1922 überholte ihn ein Mercedes mit drei jungen Männern an Bord im Grunewald, sie eröffneten das Feuer.
Die Fähigkeiten, über die die drei Täter verfügen mussten, um auf diese Art Geschichte zu schreiben, standen in einem geradezu grotesken Missverhältnis zu denen des Außenministers: Sie mussten ein Auto fahren und Maschinenpistolen bedienen können. Ihre Namen verdienen deshalb hier keine Erwähnung.
Es folgte eine Trauer und Anteilnahme, wie es sie für einen Liberalen in der Weimarer Republik nie mehr geben sollte. Im Reichstag sprach der erschütterte Kanzler Joseph Wirth, ein Angehöriger der katholischen Zentrumspartei, davon, dass der Feind rechts stehe – eine Einsicht, der bald niemand mehr folgen sollte.
Beim Anblick der Trauerzüge auf den Straßen der Hauptstadt überkam Sebastian Haffner der Gedanke, dass dies der Augenblick für eine wahrhaft demokratische Revolution hätte sein können, hätte ein Anführer mit dem Charisma Rathenaus zu den Menschen gesprochen.
Doch alles blieb preußisch geordnet. Der nächste Mann, der den letzten Hass und die letzte Liebe der Massen auf sich zog, hieß Adolf Hitler.
Sie wollen Geschichte auch hören? „Attentäter“ ist die erste Staffel des WELT-History-Podcasts.
Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.