Die Enttäuschung muss groß gewesen sein. Fast ein Jahr lang hatten SED-Funktionäre, Leiter von verstaatlichten Betrieben und SED-Journalisten nachgedacht, wie sie den 60. Geburtstag von Generalsekretär Walter Ulbricht am 30. Juni 1953 feiern sollen. Vorgesehen sind Straßen- und Betriebsumbenennungen, geplante Jubelartikel werden gleich listenweise zusammengefasst, zwei Sammelbände mit Ulbrichts Reden über die Aufgaben einer sozialistischen Gewerkschaft und drei zur „Geschichte der Arbeiterbewegung“ produziert. Ein Defa-Film über „Ulbricht beim Wiederaufbau“ entsteht, eine Biografie aus der Feder von Johannes R. Becher, außerdem eine Büste und ein Porträt. Zahlreiche Festveranstaltungen von SED-Organisationen wie der Gewerkschaft FDGB oder dem Kulturbund sind geplant. 176 Blatt mit vielen konkreten Vorhaben umfasst die Akte aus Ulbrichts Büro, die heute im Bundesarchiv liegt.
Und dann das: Drei Wochen vor dem großen Tag vereinbart das SED-Politbüro, das Programm zu reduzieren und viele Veranstaltungen „zu annullieren“: Das Becher-Manuskript soll vorerst nicht erscheinen, die Rede-Bände zunächst nicht ausgeliefert werden. Der Film werde zunächst nur dem „gesamten Politbüro, einschließlich des Genossen Ulbricht natürlich“, vorgeführt, nicht aber in die DDR-Kinos kommen.
Fernschreiben gehen in alle Teile der DDR, mit dem nur mühsam höflich verpackten Befehl, Umbenennungen von Straßen, Stadien und Betrieben zu unterlassen. Gelegentlich fügt Otto Schön vom Sekretariat des SED-Zentralkomitees eine Begründung hinzu: „Aus grundsätzlichen Erwägungen heraus soll keinerlei Namensverleihungen von lebenden Persönlichkeiten erfolgen.“
Absage vor dem Volksaufstand
Den Beschluss fasst das Politbüro am 9. Juni 1953, gut eine Woche vor dem Volksaufstand gegen die SED-Diktatur. Er folgt nicht besserer Einsicht, sondern einer klaren Weisung aus Moskau. Schlagartig muss Ulbrichts Partei ihren Kurs ändern. Der zuletzt forcierte „Aufbau des Sozialismus“ wird abrupt gestoppt, die Interessen der Menschen sollen wieder in den Vordergrund rücken. Ausdrücklich gibt die nach Stalins Tod kollektive Staats- und Parteiführung der Sowjetunion die Anweisung, fortan jeden Personenkult zu vermeiden.
Doch den Aufstand von mehr als einer Million Menschen in der gesamten DDR können weder der „neue Kurs“ noch das Zusammenstreichen der Ulbricht-Feiern verhindern. „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht Volkes Wille!“, skandieren am 17. Juni 1953 empörte Demonstranten in mehr als 700 Städten und Dörfern Ostdeutschlands.
„Spitzbart“ – damit ist Ulbricht gemeint, „Bauch“ zielt auf den korpulenten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck und „Brille“ auf den ehemaligen Sozialdemokraten Otto Grotewohl, nunmehr offiziell Ministerpräsident und SED-Vorsitzender. Doch die DDR-Bürger wissen ganz genau, wer der eigentlich mächtige Mann ist: Walter Ulbricht, der Schneidersohn und gelernte Möbeltischler mit dem sächselnden Singsang.
Am Jubeltag fällt die Huldigung vergleichsweise bescheiden aus. Erst auf der fünften Seite der Parteizeitung „Neues Deutschland“ findet sich am 30. Juni ein dreispaltiger „Glückwunsch des Politbüros“. Geplant gewesen waren große Artikelserien mit bis zu 14 teilweise ganzseitigen Namensartikeln von SED-Spitzenfunktionären, außerdem der Glückwunsch des Zentralkomitees „an der Spitze“ aller Parteizeitungen, also auf der Titelseite.
Machtvolle Gegner
Vielleicht ist sogar Walter Ulbricht selbst enttäuscht. Andererseits hat er an seinem 60. Geburtstag wichtigere Sorgen. Denn zwei Wochen nach der Niederschlagung des Volksaufstandes durch sowjetische Panzer steckt er mitten in einem existenziellen Machtkampf. Zum ersten Mal wankt seine Position als eigentlicher Machthaber in der DDR. Mit dem Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ Rudolf Herrnstadt und dem Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser hat er im engsten Führungszirkel der SED zwei machtvolle Gegner.
Beide sind überzeugte Kommunisten – aber beide stören sich an dem zugleich äußerst bürokratischen wie autoritären Herrschaftsstil, den Ulbricht mittels des „Sekretariats des ZK der SED“ etabliert hat. Zaisser gilt als der wichtigste Vertraute Moskaus in der DDR, während Herrnstadt als wortmächtiger Intellektueller eine gewisse Unabhängigkeit genießt.
Statt also seinen runden Geburtstag genießen zu können, steht Walter Ulbricht am 30. Juni 1953 mit dem Rücken zur Wand. Allerdings ist das keine neue Erfahrung für ihn. Wiederholt hat er schon brenzlige Situationen überstanden, meist durch geschicktes Taktieren und vorsichtiges Ausloten der Machtverhältnisse, um sie sich dann zunutze zu machen.
Leben eines Berufsrevolutionärs
1893 in Leipzig geboren, wuchs er in einer sozialdemokratischen Familie auf. Als junger Mann begeisterte er sich für den linken, den ideologischen Flügel der SPD um den Reichstagsabgeordneten Karl Liebknecht. Bald nach Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Ulbricht einberufen. Doch er hatte als Gefreiter in einer Troßeinheit an der südlichen Ostfront Glück und geriet nicht in die verlustreichen Schlachten im Westen.
Als er im Frühjahr 1918 doch noch dorthin verlegt werden sollte, desertierte er. Der 24-Jährige wurde zwar gefasst, hatte jedoch abermals Glück: Er kam aber mit zwei Monaten Gefängnis vergleichsweise glimpflich davon. Bei seiner anschließenden Verwendung in der Etappe im besetzten Belgien agitierte er gegen den Krieg, sollte vor ein Militärgericht gestellt werden – und konnte erneut flüchten.
Zurück in Deutschland, entschied sich Walter Ulbricht, künftig ein Leben als Berufsrevolutionär zu führen. Er war zwar kein guter Redner, aber ein ausgesprochen fähiger Organisator, der ein feines Gespür für Macht entwickelte. Ideologisch kam er nicht hinaus über den „Schmalspurmarxismus“ (so die Ulbricht-Biografin Carola Stern), den er während seiner Lehrzeit kennengelernt hatte; allerdings ergänzt um die sehr praktischen, nämlich machtpolitischen Prinzipien des Leninismus’. Er machte bald Kariere – zunächst der sächsischen, bald auch in der nationalen KPD. Mit 35 Jahren zog er zum ersten Mal in den Reichstag ein, und zwei Jahre später übernahm er mit Rückendeckung der KPD-Spitze und aus Moskau die Leitung des wichtigen KPD-Bezirks Berlin-Brandenburg.
In dieser Funktion bekam er einen neuen Gegner: Joseph Goebbels, den NSDAP-Chef der Reichshauptstadt. Einmal, am 22. Januar 1931, traten die beiden im Saalbau Friedrichshain sogar direkt gegeneinander an. Beide hetzten gegen die Republik, gegen die Sozialdemokraten und gegen die jeweils andere extreme Partei; die Versammlung gipfelte in einer Saalschlacht. Beide Seiten behaupteten hinterher, rhetorisch die Oberhand behalten zu haben.
Goebbels reklamierte den Sieg für die NSDAP mit den Worten: „Ulbricht redet zur Diskussion und verzapft einen gräulichen Mist. Ich soll am Ende reden. Die KPD antwortet mit Krach und wird dann blutig herausgeschlagen. Großes Tohuwabohu.“ Die „Rote Fahne“ dagegen, das Kampfblatt der deutschen Kommunisten, bewertete den Ausgang so: „Unser Sieg! – Goebbels’ Niederlage! Der Führer der Berliner Kommunisten, Genosse Ulbricht, schlägt Goebbels im Saalbau Friedrichshain.“ Für die Morgenpost stand die brutale Schlägerei im Mittelpunkt des Interesses, mit mindestens drei Schwer- und vielen Leichtverletzten.
Kooperation mit den Nazis
Trotz solcher Konfrontationen bewies Ulbricht mehrfach erstaunliche Kooperationsbereitschaft mit den Nazis – etwa beim BVG-Streik Anfang November 1932 oder nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939. Dessen Abschluss hatte ihn ebenso überrascht wie alle anderen deutschen Kommunisten, doch er vertrat bedingungslos die Parteilinie. Zuerst bei einem UdSSR-Besuch 1937 und dann im dauerhaften Exil im Moskauer Hotel „Lux“ hatte er gelernt, dass Anpassung die einzige Chance war, als Funktionär im Stalinismus zu überleben: Den willkürlichen Verhaftungen durch den Geheimdienst NKWD konnte nur entgehen, wer sich ohne jedes Zögern an die Seite des Machthabers stellte; idealerweise sah man seine mitunter sprunghaften Kurswechsel vorher und stellte sich darauf ein. In der Sowjetunion wurde Walter Ulbricht endgültig zum überzeugten Stalinisten.
Der Sowjetherrscher zeigte sich zufrieden mit dem Organisationstalent seines deutschen Gefolgsmanns, beispielsweise als Propagandist hinter der Front oder im kommunistisch gelenkten „Nationalkomitee Freies Deutschland“. Konsequenterweise übernahm Ulbricht in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs eine entscheidende Funktion: Als Vorauskommando der Moskauer Exilanten sollte er zusammen mit neun anderen KP-Funktionären und unter dem Schutz der Roten Armee eine Übergangsverwaltung in Berlin aufbauen. Am 30. April 1945 machte sich die „Gruppe Ulbricht“ auf den Weg in die teilweise noch umkämpfte Reichshauptstadt, am 2. Mai nahm sie ihre Arbeit auf. Schon auf ihrer ersten Station gab der Leiter das Grundprinzip der Arbeit aus. „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Eine Kaderpartei
Zunächst baute er die KPD als absolut an Moskauer Vorgaben orientierte Kaderpartei aus, dann formte er die durch Fusion mit der wieder gegründeten SPD entstandene SED zum Machtapparat für einen ostdeutschen Satellitenstaat um. Als Statthalter Stalins nahm Ulbricht die zentrale Position ein, gab sich aber offiziell mit Funktionen in der zweiten Reihe als Generalsekretär der Partei und stellvertretender Ministerpräsident zufrieden: Staatsoberhaupt wurde der von Zeitgenossen als mäßig intelligent beschriebene KPD-Mitbegründer Piek, Regierungschef Grotewohl.
Nach Stalins Tod am 5. März 1953 war Ulbrichts Stellung zeitweise gefährdet – wegen des Volksaufstandes und der internen Kritik durch Herrnstadt und Zaisser. Doch weil gleichzeitig Nikita Chruschtschow in Moskau einen Machtkampf gegen Geheimdienstchef Lawrenti Berija ausfocht und gewann, konnte die Sowjetunion weitere Aufregung in der DDR nicht brauchen. Der SED-Chef konnte seine Gegner absetzen und seine Macht konsolidieren.
Walter Ulbricht war am Ziel: Er hatte seinen eigenen Staat geschaffen, als Diktatur einer Kaderpartei, genau nach Stalins Vorbild. Dieses Konstrukt verteidigte er fortan, denn für selbstverständlich hielt er die Existenz der DDR nicht. Das unterschied seine Politik grundlegend von der seines Kronprinzen und späteren Nachfolgers Erich Honecker: Der 19 Jahre jüngere Kommunist aus dem Saarland machte sich um den Bestand der DDR keine größeren Sorgen mehr; er konzentrierte sich in seiner Herrschaftszeit eher darauf, die sozialen Ziele zu verwirklichen, die er als Jungfunktionär während der Weltwirtschaftskrise 1931/32 verinnerlicht hatte – zu einer Zeit, als Ulbricht schon längst nur noch mit dem Kampf um die politische Macht beschäftigt war.
Nachgeholte Feiern
Ende der 50er-Jahre aber harmonierten Ulbricht und Honecker reibungslos. Zum 65. Geburtstag 1958 des SED-Generalsekretärs wurde nachgeholt, was fünf Jahre zuvor abgesagt werden musste: Es gab seitenlange Huldigungen in allen DDR-Zeitungen und ganze Titelseiten mit Glückwunschtelegrammen. Die Biografie von Johannes R. Becher erschien, ein neuer Ulbricht-Film wurde gezeigt, außerdem gab es reihenweise Betriebsbenennungen nach dem Jubilar.
Nicht einmal der Mauerbau in Berlin 1961, konnte seine Machtposition noch erschüttern, und auch nicht seine Lüge, die zum geflügelten Wort wurde: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Tatsächlich stabilisierte die Grenzschließung die DDR sogar, allerdings auf Kosten der Lebenschancen von Millionen Ostdeutschen. Zu seinem 70. und zum 75. Geburtstag ließ sich Ulbricht wieder mit allem Aufwand feiern.
Doch gleichzeitig wurde der Apparatschik übermütig. Auf einmal wollte er mehr Eigenständigkeit gegen Moskau durchsetzen. Eine Zeit lang sah sich der neue Machthaber Leonid Breschnew das an, dann signalisierte er Aufgeschlossenheit gegenüber Honecker. Die eigentliche Intrige begann im Sommer 1970 und führte zu Ulbrichts Rücktritt aus „Gesundheitsgründen“ am 3. Mai 1971. Formal blieb er zwar Staatsratsvorsitzender, musste aber miterleben, wie immer mehr Betriebe und Institutionen seinen Namen ablegten: dafür sorgte Honecker persönlich.
Der zunehmend vergreisende Ulbricht hielt noch einige wenige Fernsehansprachen, doch beim Staatsbesuch von Breschnew im Frühjahr 1973 wurde er demonstrativ ignoriert. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt. Immerhin: Auf den Titelseiten der DDR-Zeitungen war er an seinem 80. und letzten Geburtstag vor genau 40 Jahren noch einmal groß präsent. Vier Wochen später, am 1. August 1973, starb Walter Ulbricht.