„Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“: Volker Braun stellt sich den Zeitläuften

„Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“: Volker Braun stellt sich den Zeitläuften

Der große deutsche Dichter Volker Braun bringt kurz vor seinem 85. Geburtstag ein Buch heraus, das die deutsche Geschichte und Gegenwart weise durchleuchtet. 

Im Wind der Zeiten: Volker Braun, hier bei einer Open-Air-Lesung der Sächsischen Akademie der Künste
Im Wind der Zeiten: Volker Braun, hier bei einer Open-Air-Lesung der Sächsischen Akademie der KünsteImago

Wie findet man eine Sprache für den Zustand der Welt? Und kann Dichtung noch eine Utopie besingen, wenn „das Gespenst verschwunden ist, das in Europa umging“? Zu solchen Fragen führt das neue Buch von Volker Braun. Es gibt sogar Antworten, etwa, dass das Klima selbst keine Krise kennt, sondern es eine menschengemachte ist: „Die Erderwärmung ist die Kapitalismuskrise.“ Einmal tritt der gerade verstorbene Peter Sodann auf, ruft auf dem Handy an. Er beschwert sich, alle würden „mit ihren Gehirnen“ schweigen und sagt: „Ich sammle diese Gehirne.“ Das ist eine Anspielung auf seine Bibliothek der entsorgten Bücher aus der DDR.

Es sind drei Texte in diesem Buch enthalten, jeder trägt im Titel das Wort „Versuch“. Nichts Endgültiges wird hier also vorgestellt, sondern es entfalten sich Denkprozesse, es schleichen sich Gedichtzeilen von Kollegen ein, Gesprächsfetzen auch. Als literarisches Genre ist der Versuch ein Essay, eine abwägende Betrachtung. Der Klappentext ordnet diese drei ein als poetologisch, philosophisch und biografisch. „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“, der Titel des dritten Textes, steht für das ganze Buch.

Der großrussische Haltsmaul erwacht

Versuche – über die Jukebox, den geglückten Tag, den Pilznarren etwa – publizierte Peter Handke über Jahrzehnte hinweg in Büchern. Volker Braun veröffentlicht also drei auf einmal, auf rund hundert assoziationsreichen Seiten. Und er bezieht sich selber mit ein: „Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen“ lautet der erste, der einerseits Weltzusammenhänge geografisch zu fassen versucht, andererseits die Strategien befragt, darüber zu schreiben. Ausgehend von einer „Rede zur Poesie“ des argentinischen Dichters Sergio Raimondi in Berlin blickt Volker Braun über die Ozeane und Kontinente.

Fast alles, was er hier über Gesellschaft sagt, findet seine Entsprechung bei Poeten. Name um Name fällt und führt nach Chile oder China oder in die Leipziger Tieflandsbucht. In Zarskoje Selo südlich von Sankt Petersburg begegnet ihm Sergej Sawaljow, der das Trauma des Dichters eine „historische Erinnerung“ nennt. Er spreche aus seinem Ort heraus, schreibt Volker Braun über ihn, „das heißt aus der Geschichte“. Und damit zieht er eine Verbindungslinie vom Zarismus über die Blockade der deutschen Wehrmacht zur stalinistischen Vertreibung.

Die Gegenwart des Jahres 2022 nötigt den Autor, einen Nachtrag an diesen Versuch zu hängen. Wie „der großrussische Haltsmaul erwacht und in der Ukraine Geschichte diktiert“, schreibt er, „das fährt wie ein Brandsatz in meinen Text“. Beim Anblick der Fernsehbilder mit den „hergewehten, vielleicht sibirischen Rekruten“ rotiert der Essayist Volker Braun noch einmal von Marx zu Hegel und zurück: „Das Denken scheint stillzustehn.“ Aber sein Gehirn schweigt eben nicht.

Im Liquidrom zu Berlin

Danach nimmt sich der „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“ geradezu heiter aus. Dieser Abschnitt führt einerseits durch die Stadt Berlin und in die Live-Atmosphäre von Videochats. Auch wenn das schreibende Ich im Tiergarten Handy und Orientierung verliert, ist es doch bereit, sich selbst ironisch zu betrachten. Erst recht im Liquidrom, das mit ulkigen Wortspielen eingeführt wird, als „teures Lokal, wo man flüssig sein muss“ als „Wärmestube“ und „Waschsalon“. Der Erzähler trifft auf die Klimakleberin Sophie, redet in Zitaten mit ihr, dabei vom Wasserdunst zu Berührungen verführt. Als sie auf die Staatsgewalt und deren Forderungen zu sprechen kommt, drängt er sie in Brecht’schem Duktus zu verantwortlichem Handeln: „Zahle den Zaster, lasst euch bestrafen. Tauche nicht ab, sei da!“

Dieser zweite Teil des Buches ist nicht nur von der Stimmung, auch von der Form her der leichteste. Volker Braun wechselt vom realistischen Erzählen in eine Traumsequenz, probiert dann verschiedene Dialogformen durch. Interessant ist, wie sich das direkte Sprechen und das via Monitor unterscheiden. Zwar beobachtet das Ich sich beide Male auch selbst, scheint aber die Online-Distanz zu genießen, weil es zeitweise verschwinden kann.

„Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ nun, der dritte Abschnitt, entpuppt sich als autobiografischer Essay auf knapp dreißig Seiten. Neben einem Hilbig-Satz ist dem Text ein Goethe-Zitat vorangestellt: „Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat.“ Das kann man natürlich als eine fragwürdige Einschränkung abtun, doch wenn man dann liest, wie die hier nur „er“ genannte Person wiederholt durch politische und heute historische Vorgänge aus der Bahn gerissen wurde, erweist sich Volker Braun hier als Zeitzeuge ersten Ranges. Einzelne Wendungen sind am Ende noch durch Fußnoten beglaubigt.

Die Dresdener Bombennächte

Am 7. Mai 1939 ist er in Dresden geboren, sah als Kind den glutroten Himmel der Bombennächte vom Februar 1945: „Seine Lehrstelle war eine Brandstätte, inmitten ein mythischer Rost aus Eisenbahnschwellen, auf den die Toten gebettet worden waren, angeloderte Gestalten, um endgültig verbrannt zu werden.“ Der Essay ist in Abschnitte unterteilt, biografisch-thematisch, jedoch nicht chronologisch. Nach der „Urszene“ in Dresden kommt er auf die „Gewalt der Liebe“ als Antipode zur 1989er-Losung „Keine Gewalt“. Der „Mann von fünfzig Jahren“ erlebt sie im Wende-Herbst, während er sich „politisiert bis in die Fingerspitzen“ fühlt.

In diesem Text blitzen viele historische Momente auf wie die legendäre Lesung junger Dichter im Jahr 1962 auf Einladung von Stephan Hermlin, die jenen den Posten in der Akademie der Künste der DDR kostete. Einmal fasst Braun den Strudel der politischen Gewalt der DDR-Jahre in einem knappen Satz: „Und das 11. Plenum kam, und der Einmarsch in Prag, und das Kriegsrecht in Polen, der Wind blies ihm ins Gesicht, er stellte sich eben so.“ Die Frage, ob er das Land hätte verlassen sollen, das klingt hier durch, hat er sich oft gestellt. Was nicht heißt, dass ihn die Gegenwart zufrieden macht. „Ja, früher hätte man die Welt verlassen, die Zelte abbrechen können. Jetzt gibt es keine Anderwelt mehr, wir sind im Überall.“ Das jedoch zeigen die beiden anderen Essays: Der Dichter Volker Braun stellt sich dem verwirrenden Überall und bringt eine Ordnung der Gedanken hinein. Sein Gehirn schweigt nicht, es weckt andere auf.

Volker Braun: Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben. Suhrkamp, Berlin 2024. 104 Seiten, 20 Euro