Knapp anderthalb Stunden dauerte die Fahrt bis ins Mediencenter zu Doha. Den Trip hätte sich Hansi Flick sicher gern erspart. Doch der Bundestrainer hatte im Vorfeld der WM sein „Okay“ für ein Teamquartier gegeben, das weit außerhalb der katarischen Metropole liegt, in der alle restlichen Mannschaften residieren.
Auf der langen Fahrt zur obligatorischen Pressekonferenz am Tag vor einem Spiel bot sich Flick allerdings die Gelegenheit, über das eine oder andere nachzudenken, steht doch für ihn am Sonntag das bislang wichtigste Spiel in seiner noch jungen Karriere als Bundestrainer an: im zweiten Gruppenspiel trifft Deutschland am Abend auf Spanien (20 Uhr, ZDF und MagentaTV). Eine Niederlage könnte nach dem 1:2 im Auftaktmatch gegen Japan bereits das vorzeitige Aus bei der WM bedeuten.
Es wäre das zweite Mal in Folge, das die einst so große Fußball-Nation bereits nach der Vorrunde heimfahren müsste. 2018 in Russland war nach zwei Pleiten gegen Mexiko (0:1) und Südkorea (0:2) sowie einem Sieg gegen Schweden (2:1) das frühe Aus besiegelt.
„Wir werden eine Mannschaft sehen, die weiß, um was es geht und die alles dafür tun wird, sich am letzten Spieltag die Tür für das Achtelfinale offen zu lassen“, sagte Flick auf der Pressekonferenz. Obwohl vom Weltverband Fifa erwünscht, erschien kein deutscher Spieler, einzig Flick äußerte sich; möglicherweise droht dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) deshalb eine Strafe. Flick begründete die Abwesenheit eines Spielers damit, dass man dem Spieler die An- und Abreise ersparen und stattdessen eine ruhige Vorbereitung auf das Abschlusstraining am Abend ermöglichen wollte. „Ich habe gesagt, ich mache das allein.“
Einsatz von Sané ist fraglich
„Gegen Spanien kommt es darauf an, da zu sein. Wir freuen uns auf das Spiel“, ergänzte Flick: „Wir haben einen Plan und hoffen, dass er aufgeht.“ Ob der zuletzt angeschlagene Leroy Sané, 26, dabei sein kann, ist offen. Über die Startelf wolle er „noch mal schlafen“, so Flick.
Trotz des 7:0-Statements im ersten Spiel gegen Costa Rica warnte Luis Enrique, der Nationaltrainer Spaniens, davor, das Spiel gegen die deutsche Elf auf die leichte Schulter zu nehmen. Deutschland habe vier WM-Titel gewonnen, so Enrique: „Wenn man auf das Shirt der Deutschen schaut, sieht man vier Sterne. Deutschland ist stark und hat viele gute Spieler. Es wird ein herausforderndes Spiel für uns. Es spielen zwei Mannschaften gegeneinander, die gern den Ball haben und gern attackieren. Aber wir sind überzeugt, dass wir sie schlagen können.“ Genau das vermittelte auch Dani Olmo, der am Samstag nach seinem Trainer auf der Pressekonferenz sprach. Der Offensivspieler von Bundesligist RB Leipzig sagte: „Deutschland hat viel Qualität. Wir dürfen die Mannschaft nicht unterschätzen.“
Aus deutscher Sicht ist es ein „Alles-oder-nichts-Spiel“, eine Partie also, in dem viel auf dem Spiel steht – und eine Begegnung, für die, so haben es nicht wenige Fußballer schon gesagt, man Fußball spielt. Im Juli des vergangenen Jahres hatte Hansi Flick als elfter Bundestrainer in der Geschichte des deutschen Fußballs das Nationalteam übernommen. Er war auf Joachim Löw gefolgt, der das Amt zuvor 15 Jahre innehatte.
Mit sieben Siegen in sieben Spielen schloss Flick das Jahr 2021 ab – und mit einer Torquote von 31:2. Es war Balsam für die geschundene deutsche Fußballseele. Auch wenn die Gegner nur Liechtenstein, Armenien oder Island hießen. Als dann die ersten großen Kaliber kamen, lief es schon nicht mehr ganz so gut. Da war plötzlich zu sehen, dass Flick kein Wunderheiler ist und Probleme nicht mal eben einfach so beheben kann.
Es geht auch um Flicks Ansehen
Auf ein 2:0 gegen Israel im März folgten vier Unentschieden gegen die Niederlande, Italien, England und Ungarn. Alle Partien endeten 1:1. Kurz vor der Sommerpause gab es dann zwar ein 5:2 gegen Italien, dennoch wirkte die deutsche Mannschaft in sich nie wirklich stabil und so dominant, wie sie das einst mal war. Deutlich wurde das beim Spiel Ende September in London gegen England. Da führte die deutsche Elf bereits 2:0 und hatte den Gegner im Griff, ehe der Gastgeber die Partie drehte und 3:2 in Führung ging. Am Ende sorgte Kai Havertz noch für das 3:3.
Das Spiel gegen Japan am vergangenen Mittwoch erinnerte ein wenig daran. Wieder einmal fiel auf: Sobald der Gegner etwas ändert, den Druck erhöht, früher presst, umstellt und energischer spielt, gerät die deutsche Elf ins Wanken. Es ist schon erschreckend, wie dann zwar noch relativ junge, aber schon sehr erfahrene Spieler aus dem Tritt kommen, verunsichert wirken und keine Lösungen wissen, mit der neuen Situation auf dem Platz umzugehen. Als die Japaner in Führung gegangen waren, blieben noch sieben Minuten in der regulären Spielzeit, um das Ergebnis zu korrigieren – zudem gab es noch sieben Minuten Nachspielzeit. Doch nicht einmal mit Standards wurde die DFB-Auswahl gefährlich. Zwei Ecken blieben ungenutzt.
Gegen Spanien darf sich die deutsche Mannschaft das nicht erlauben. Zu viel steht auf dem Spiel. Für die Fußball-Nation an sich, für den Bundestrainer – und auch für viele Spieler. Klar, ein 19 Jahre alter Star wie Jamal Musiala hatte seine Zukunft noch vor sich, auch viele andere Profis dürften noch das eine oder andere Länderspiel in ihrer Karriere machen. Aber da sind eben auch Weltmeister wie Manuel Neuer (36 Jahre) oder Thomas Müller (33) für die es möglicherweise die letzte Chance war, noch einmal nach einem Titel mit dem Nationalteam zu greifen. Es geht um Oliver Bierhoff, dem Direktor Nationalmannschaften, für den es die zweite WM-Blamage wäre. Es geht auch um Bernd Neuendorf, den DFB-Präsidenten, dem es nicht gelungen war, im Vorfeld des Turniers das Thema in Bezug auf das Tragen der „One-Love“-Binde zu klären. Stattdessen überlagerte die Diskussion darüber die ersten WM-Tage – und es geht auch um Hansi Flick.
Der Coach ist sehr beliebt. Bei den Spielern, in der Öffentlichkeit. Doch sein Ansehen würde ob eines frühen Scheiterns in Katar leiden. Sein Zauber steht auf dem Spiel.
Noch aber bietet sich ja die Gelegenheit, die Kurve bei der laufenden WM zu bekommen. Vielleicht dient der Blick auf vergangene Weltmeisterschaften als gutes Omen: die deutsche Nationalmannschaft hat bei ihren bislang 19 WM-Teilnahmen noch nie zwei Spiele in Folge verloren.