Dieses Porträt der „jüngsten“ wichtigen Frau in der Naturheilkunde hat für mich eine besondere Bedeutung: Veronica Carstens hat mich maßgeblich geprägt, ich arbeite mittlerweile seit fast 30 Jahren für den Förderverein ihrer Stiftung. Sie war eine großartige, vorbildliche Frau: überzeugte Demokratin, unerschrocken, aufgeschlossen gegenüber allem Neuen und begeisterungsfähig. Trotz des hohen politischen Amtes, das ihr Mann bekleidete, blieb sie bescheiden. Ich bin stolz und glücklich, ihr Patenkind zu sein.

1 Bedeutung für die Naturheilkunde

Veronica Carstens (1923–2012) war promovierte Fachärztin für Innere Medizin und Ehefrau des Bundespräsidenten Prof.Dr. Karl Carstens. Während der gesamten Amtszeit ihres Mannes (1979–1984) und bis ins hohe Alter arbeitete sie als Ärztin.

Veronica Carstens hat sich den Brückenschlag von Schulmedizin und Naturheilkunde/Homöopathie zur Lebensaufgabe gemacht. Sie war die Pionierin einer integrativen Medizin. Ihrem Einsatz ist wesentlich zu verdanken, dass Naturheilkunde und Komplementärmedizin Eingang in viele Bereiche der Medizin gefunden haben und Homöopathie wie Naturheilkunde heute mehr und mehr Anerkennung finden. Sie nutzte ihre Position als „first lady“, um für eine integrative Medizin zu werben. Die von ihr und ihrem Mann Prof. Karl Carstens gegründete Karl und Veronica Carstens-Stiftung konnte bis heute seite ihrer Gründung 36 Millionen Euro für Wissenschaft und Forschung in über 1000 Projekten bereit stellen, darunter 150 Doktorarbeiten. Über 270 Ratgeber wurden in dem Verlag der Stiftung veröffentlicht. Der Förderverein zählte zu seinen besten Zeiten über 5000 Mitglieder. Die Carstens-Stiftung verfügte bis 2019 über eine umfangreiche Bibliothek und Datenbank im Bereich Naturheilkunde/Komplementärmedizin. Dass heute Studenten im Medizinstudium die Komplementärmedizin kennen lernen, geht wesentlich auf den unermüdlichen Einsatz von Veronica Carstens zurück, ebenso wie die Einrichtung von Arzneimittelkommissionen für „besondere Therapieverfahren“ oder die Erstattung komplementärmedizinischer Verfahren durch die Krankenkassen. Der Förderverein Natur und Medizin e. V. hat 23.000 Mitglieder, die sich in verschiedenen Foren auch untereinander über ihre Erfahrungen austauschen können.

2 Leben

Veronica Carstens, geborene Prior, wurde am 18. Juni 1923 in Bielefeld geboren, wo sie als als jüngstes von vier Kindern auch aufwuchs. Ihre Leidenschaft galt der Musik – sie spielte Geige – und der Medizin. 1942 begann sie ein Medizinstudium in Freiburg und arbeitete nach dem Physikum1944/1945 als Lazarettschwester für das Deutsche Rote Kreuz. 1944 heiratete sie den Juristen Karl Carstens, den sie ein Jahr zuvor auf der Hochzeit ihrer Schwester kennen gelernt hatte. Karl Carstens arbeitete nach dem Krieg zunächst als Rechtsanwalt, hatte seit 1960 verschiedene politische Ämter inne und war von 1979–1984 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Bekannt wurde das Ehepaar Carstens nicht zuletzt durch seine Wanderungen in ganz Deutschland (Abb. 9.1 und 9.2).

Abb. 9.1
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Karl Carstens, Veronica Carstens und ich bei meiner Konfirmation, Foto privat

Abb. 9.2
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Veronica Carstens. Mit freundlicher Genehmigung der Carstens-Stiftung

1956 nahm Veronica Carstens ihr Medizinstudium wieder auf. Sie promovierte 1960 und absolvierte anschließend eine Facharztausbildung zur Internistin. In Meckenheim bei Bonn eröffnete sie eine internistische Praxis, die sie auch während der Amtszeit ihres Mannes als Bundespräsident fortführte. Von 1979–1984 war sie Schirmherrin des Müttergenesungswerkes, von 1979–1989 die erste Schirmherrin der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft.

3 Heilkunde

Die frühen 1980er-Jahre waren geprägt von erbitterten Kontroversen zwischen den Vertretern der so genannten „Schulmedizin“ und der „Alternativmedizin“. So interessant viele Ansätze aus dem alternativen Spektrum waren, so wenig geprüft waren sie weithin. Veronica Carstens beklagte bereits in den Anfangsjahren ihrer ärztlichen Tätigkeit den tiefen Graben zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde. Nach ihrer Auffassung war der Hauptgrund dafür eine mangelnde wissenschaftliche Durchdringung der Naturheilkunde. Um diesen Zustand zu ändern, gründete sie 1982 gemeinsam mit ihrem Mann, dessen Idee die Stiftungsgründung war, die Karl und Veronica Carstens-Stiftung. Das Ziel der Stiftung war und ist bis heute, Naturheilkunde, Komplementärmedizin und Homöopathie wissenschaftlich zu erforschen, den Nachwuchs zu fördern und auf diesem Wege eine Integration der Naturheilkunde in Forschung und Lehre der Hochschule aber auch die ärztliche Praxis zu ermöglichen. Die Stiftung war zunächst als rein private Initiative zur Regelung des Nachlasses gedacht, da die Ehe kinderlos blieb.

Womit das Ehepaar Carstens nicht im mindesten gerechnet hatte: Als die Nachricht der Stiftungsgründung an die Öffentlichkeit drang, war die Resonanz so groß, dass viele Tausende dieses Anliegen unterstützen wollten. 1983 wurde dafür die Fördergemeinschaft Natur und Medizin e. V. gegründet. Die Menschen, die ihr beitraten, wollten einerseits die Idee einer integrativen Medizin mit dem „Besten von Beidem“, wie Veronica Carstens es sagte, fördern. Daneben suchten viele von ihnen seriöse Antworten auf gesundheitliche Fragen: Was gibt es noch an Möglichkeiten, neben oder zusätzlich zur konventionellen Medizin? Was ist von dieser oder jener Therapie zu halten? Was kann ich selber tun? Die Tatsache, dass die Carstens-Stiftung bis heute unabhängig von Politik und Wirtschaft fördern kann, trägt sicherlich dazu bei, dass die Fördermitglieder Stiftung und Verein als verlässliche Ansprechpartner sehen und sich im Dschungel der komplementärmedizinischen Angebote hier gerne informieren und beraten lassen – gerade auch im Hinblick auf umstrittene Verfahren oder komplexe Krankheitsbilder. Dies geschieht durch die Mitgliederzeitschrift, regelmäßig erscheinende und zum Teil exklusive Ratgeber, Gesundheitstage, aber auch persönliche Beratung und individuelle Recherche.

Nicht zuletzt durch ihre öffentlichen Auftritte fand das Anliegen von Veronica Carstens ein für sie selbst unerwartet großes Echo in der Bevölkerung. Nur zwei Jahre später wurde 1983 der Förderverein Natur und Medizin e. V. gegründet, dem schnell über 50.000 Mitglieder beitraten. Dank der Mitgliederbeiträge und Spenden wurde die Carstens-Stiftung über die Jahre zum größten Geldgeber der Forschungsförderung im Bereich Komplementärmedizin in Europa. Bis heute hat sie über 37 Millionen Euro für die Forschungsfördern bereitgestellt, damit mehr Mittel als das Bundesforschungsministerium oder die Europäische Union. Zu den außergewöhnlichen Projekten gehören mehrere Hochschulambulanzen für Naturheilkunde, so an der Frauen-Universitätsklinik in Heidelberg, der Universitätsklinik Freiburg oder dem Klinikum Jena, außerdem die Bewilligung einer Stiftungsprofessur an der Charité zur Erforschung der Komplementärmedizin Die Stiftung verfügt heute über Europas größte Bibliothek und Datenbank im Bereich Komplementärmedizin, sie bietet Mitgliedern und Journalisten von Wirtschaft und Politik unabhängige Informationen.

Über Jahrzehnte setzte sich Veronica Carstens unermüdlich mit Vortragsreisen und öffentlichen Auftritten, zahlreichen Briefen und persönlichen Gesprächen für ein sinnvolles Miteinander von Schulmedizin und Naturheilkunde ein, auch wenn dies – insbesondere in den ersten Jahren – schärfste Angriffe mit sich mit sich brachte. Sie nutzte ihre Kontakte, um auf die Berechtigung der Naturheilkunde aufmerksam zu machen und politische Entscheidungen mit zu beeinflussen. In Gesprächen mit Politikern, unzähligen Petitionen und Korrespondenzen mit Entscheidungsträgern trat sie für die Anerkennung der Naturheilkunde ein. Auch die Mitglieder des Fördervereins rief die überzeugte Demokratin stets zu auf, die jedem Bürger gegebenen Möglichkeiten der politischen Arbeit zu nutzen. In besonderem Maße setzte sie sich nach der Maueröffnung für eine Verbreitung der Naturheilkunde in der Öffentlichkeit, aber auch in Lehre und Forschung in den neuen Bundesländern ein.

Neben der beruflichen und akademischen Förderung im Rahmen der Carstens-Stiftung legte Veronica Carstens großen Wert auf den persönlichen Kontakt und den gemeinsamen, offenen Austausch. Der Kreis der von der Stiftung geförderten Projektleiter und Doktoranden wie auch der Förderverein Natur und Medizin wurde für Veronica Carstens zur zweiten Familie. So verfolgte sie mit Interesse die Lebenswege der Einzelnen über Jahrzehnte und suchte immer wieder das persönliche Gespräch. Neuen und unkonventionellen Strömungen in der Medizin stand sie vorurteilsfrei und aufgeschlossen gegenüber. Neben der Praxistätigkeit beantwortete sie bis 2006 alle Anfragen von Mitgliedern des Fördervereins persönlich, widmete sich dieser umfangreichen Korrespondenz von jährlich mehreren hundert Briefen mit großer Hingabe. In ihrer Praxis aber auch im Rahmen ihrer Vortragsveranstaltungen nahm sie sich Zeit für jeden, der ihren Rat suchte. Insbesondere ihre Fähigkeit, zuzuhören, ihre ehrliche Anteilnahme am persönlichen Schicksal, ihre besondere Gabe, Hoffnung zu stiften und Mut zu machen und ihr tiefer Glaube halfen unzähligen Menschen über persönliche Krisen hinweg. Stets forderte sie die dazu auf, sich nicht dem Schicksal zu ergeben, sondern selbst aktiv zu werden.

Bis zum Ende ihres Lebens war Veronica Carstens eine passionierte Ärztin. Auch nach Aufgabe ihrer Praxis 2006 fühlte und dachte sie als Ärztin und war immer um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen besorgt.

Veronica Carstens blieb trotz des hohen politischen Amtes, das ihr Mann bekleidete, stets bescheiden. Sie war der festen Überzeugung, dass jeder Mensch eine Aufgabe in sich trägt und wählte für ihre Autobiographie ganz bewusst den Titel „Dein Weg wird dich finden“. Gerne zitierte sie Victor Frankl, der sagte: „der Mensch ist nicht auf Glück, sondern auf Sinn ausgelegt.“ Die überzeugte Christin war durch ein tiefes Gottvertrauen geprägt, das ihr bis zum Schluss Kraft und Zuversicht gab.

4 Schriften (Auswahl)

Carstens V (2003): Dein Ziel wird Dich finden. Lebenserinnerung. Natur und Medizin e. V., Essen.

Carstens V (2006): Ausgewählte Reden und Schriften. Natur und Medizin e. V., Essen.

Diese Bücher sind antiquarisch erhältlich. Andere Bücher und Broschüren von Veronica Carstens finden sich im shop bei www.naturundmedizin.de

5 Infos für heute

Der von Veronica Carstens gegründete Förderverein Natur und Medizin e. V. hat als satzungsgemäße Aufgabe die Unterstützung der Stiftungsarbeit, die vor über dreißig Jahren mit einer Vision begann: „Der Arzt und die Ärztin der Zukunft sollen zwei Sprachen sprechen, die der Schulmedizin und die der Naturheilkunde und Homöopathie. Sie sollen im Einzelfall entscheiden können, welche Methode die besten Heilungschancen für den Patienten bietet.“ (Veronica Carstens) Er ist auch heute noch ein wichtiger Ansprechpartner für Naturheilkunde und Homöopathie. In einer regelmäßigen Mitgliederzeitschrift, Ratgebern und auf Gesundheitstagen informiert er über die Möglichkeiten und Grenzen von Homöopathie und Naturheilkunde im Sinne einer Integrativen Medizin – und zwar völlig unabhängig und mit einem großen Expertennetzwerk aus Wissenschaftlern und Ärzten zusammensetzt. Im Gegensatz zu anderen Einrichtungen in diesem Sektor wird hier über die komplette Spannbreite der Komplementärmedizin informiert und beraten. Hinzuweisen ist auf zwei eigene Buchreihen von mir und Kollegen im Verlag der Stiftung, dem KVC-Verlag. Zum einen handelt es sich um eine Reihe, die krankheitsbezogen konventionelle und komplementärmedizinische Strategien darstellt wie auch Selbsthilfemöglichkeiten. Die unterschiedlichsten Indikationen wurden hier bereits behandelt: von Bluthochdruck und Rheuma über Depressionen, Wechseljahresbeschwerden, Schmerzen allgemein, Schlafstörungen etc. Die andere wichtige Reihe behandelt „Naturheilkunde für Zuhause“, mit Bänden zu Heilpflanzentees, Gewürzen, vollwertiger vegetarischer Ernährung, ayurvedischer Ernährung, Wickeln und Auflagen, Küchenkräutern, Hausmitteln aus aller Welt, Gymnastik für Senioren etc. Da Veronica Carstens und Natur und Medizin e. V. die Selbsthilfe auch bei schwachen finanziellen Ressourcen wichtig war, wurde vom Verein für die Fördermitglieder auch ein Bändchen mit gesundheitsfördernden Maßnahmen und Selbsthilfestrategien, die nichts oder wenig kosten und sich auch im Sinne der Nachhaltigkeit auf Ressourcen wie Atem, Körper, im Haushalt und in der Küche vorrätigen Utensilien etc. konzentrieren herausgegeben. (Gesundheit gut & günstig). Fördermitglieder können im Mitgliederbereich auf alle Mitgliederzeitschriften zurückgreifen und sich untereinander austauschen und vernetzen. Dieser Service wird bei den vielen Detailfragen, die es im Bereich der Integrativen Medizin als einem außerordentlich komplexen Thema gibt, gerne in Anspruch genommen.

Gerade in der heutigen Zeit, in der insbesondere die Homöopathie einer starken Kritik ausgesetzt ist, obwohl Studien die Wirksamkeit zweifelsfrei belegt haben und die Erfahrung vieler Ärzte zur Homöopathie als unterstützende Therapie bei schweren oder chronischen Erkrankungen positiv ist, ist eine Organisation wie die Carstens-Stiftung wichtiger denn je, so dass ich hiermit dazu auffordern möchte, dem Förderverein beizutreten.