Geschichte von Wut und Liebe
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Geschichte von Wut und Liebe

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»Es macht einem klar, was auf dem Spiel steht, wenn wir es nicht schaffen, unsere Demokratie zu schützen«, sagt die Rosbacher Autorin Maja Nielsen im Rückblick auf die Missstände in der ehemaligen DDR. Dort spielt ihr aktueller Roman »Der Tunnelbauer«. © Sabine Bornemann

Am Ende des Tunnels gibt es kaum Sauerstoff. Ein Streichholz würde sofort erlöschen. Auf dem Rücken liegend, stechen sie Spaten in den Lehm und graben einen Tunnel von Westberlin in den Osten. 160 Meter lang unter dem Todesstreifen hindurch. Die »Tunnelbauer« riskierten ihr Leben - und das nicht nur einmal.

Er konnte das Unrecht nicht mehr länger ertragen. Und die Sehnsucht nach seiner großen Liebe Christa. Joachim Neumann hat Tunnel unter dem Todesstreifen hindurch gegraben, um Menschen zur Flucht in den Westen zu helfen. Seine Geschichte hat die Rosbacher Autorin Maja Nielsen recherchiert und daraus ihren neuen Roman »Der Tunnelbauer« geschrieben. Über mutige Menschen, deren Geschichte festgehalten werden muss.

Wie sind Sie auf die Idee zu dem Buch »Der Tunnelbauer« gekommen?

Ich bin im Jahr 2022 mit meiner Schwiegertochter nach Berlin gefahren. Dort hatten wir eine Führung des Vereins »Berliner Unterwelten« gebucht, die zu den unterirdischen Fluchtwegen während der deutschen Teilung führte. Manche Leute sind damals durch die Kanalisation - also buchstäblich durch die Scheiße - in den Westen geschwommen. Andere unter Einsatz ihres Lebens durch die U-Bahn-Schächte gelaufen.

Wie war diese Führung für Sie?

Man zeigte uns die unterschiedlichen Fluchtwege. Zwölf Meter unter der Bernauer Straße standen wir vor einem der Freiheitstunnel und ich wusste gleich, dass das Thema Fluchttunnel gut geeignet ist, um ein Gefühl für die Zeit der deutschen Teilung zu vermitteln.

Können Sie das erklären?

Wenn man diese Fluchttunnel sieht, dann erfasst man das unendliche Leid, das die Teilung bedeutete. Und was Menschen damals dazu gebracht hat, durch enge, finstere Stollen, in denen teilweise auch noch Wasser stand, auf allen Vieren in den Westen zu kriechen.

Wären Sie derartige Wagnisse wie Tunnelbauer Joachim Neumann eingegangen?

Das lässt sich schwer sagen. Ich glaube, besondere Ereignisse können einen Menschen dazu bringen, das Beste aus sich herauszuholen. Oder eben auch das Schlechteste. Der Mauerbau war solch ein Ereignis. Es empörte die Menschen im Westen, dass ihre Landsleute im Osten wie in einem Gefängnis leben mussten. Und manche im Westen kämpften dann unter Einsatz ihres Lebens für die Freiheit ihrer Freunde. Und auch für die Freiheit von Menschen, die sie gar nicht kannten. Sie gaben angesichts eines übermächtigen Gegners einfach nicht klein bei.

Es ist fast unvorstellbar, wie die Zeit der deutschen Teilung war. Es verblasst. War es Ihnen deshalb ein Anliegen, die Geschichte der Tunnelbauer zu erzählen?

Ja, ich denke, 35 Jahre nach dem Mauerfall ist es wichtig, dass wir uns daran erinnern was früher war. Jetzt leben die Menschen noch, die die Zeit der deutschen Teilung erlebt haben und die der nachfolgenden Generation davon erzählen können. Die Gelegenheit, ihnen zuzuhören, sollten wir nicht verstreichen lassen.

Was können die Augenzeugenberichte den Menschen heute geben?

Die Berichte aus dem Alltag in der Diktatur können Jugendlichen ein Gefühl dafür vermitteln, dass es sich lohnt, für unsere freiheitliche Demokratie zu kämpfen. Denn das, was die Jugendlichen im Osten damals erlebt haben, will wohl niemand.

Der Staat als beängstigende Übermacht?

Ja, dass sich der Staat in alle Belange des täglichen Lebens einmischt. Dass er einem vorschreibt, welche Musik man hören darf, welche Bücher man lesen darf, welchen Beruf man ergreifen darf, ob man reisen darf und wohin.

Das führt vor Augen, wie wichtig Demokratie ist.

Die Tatsache, dass Menschen damals willkürlich für nichts und wieder nichts zu entsetzlich langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, macht einem klar, was auf dem Spiel steht, wenn wir es nicht schaffen, unsere Demokratie zu schützen.

Haben Sie Herrn Neumann direkt angesprochen, um das Projekt zu realisieren?

Joachim Neumann arbeitet für die Stiftung Berliner Mauer als Zeitzeuge. Die Stiftung stellte auf meinen Wunsch hin den Kontakt zu ihm her, und beim Kennenlerngespräch stimmte gleich die Chemie zwischen uns. So kam es zur Zusammenarbeit an dem Buch.

War das von Anfang an als Jugendroman geplant?

Alle meine Bücher sind so geschrieben, dass sie für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen interessant sind. Ich würde mich freuen, wenn zu meiner Lesung in der Wasserburg in Rosbach alle Generationen kämen. Und die etwas Älteren ihre Erinnerungen an die Zeit der deutschen Teilung mit den Jüngeren teilen.

Neben Joachim - im Buch Achim - spielt Christa - Chris - eine wichtige Rolle. Konnten Sie mit Ihr persönlich sprechen?

Christa Neumann lebt leider nicht mehr. Vor etwa 20 Jahren ist sie verstorben. Aber ich habe mit ihrer besten Freundin gesprochen, mit ihrer Schwester und natürlich mit Joachim Neumann, der 40 Jahre mit ihr verheiratet war.

Die Szenen im Gefängnis oder bei Verhören sind sehr hart. Wie reagieren Jugendliche, wenn Sie aus dem Buch lesen?

Während der Lesungen ist es oft sehr, sehr still. Man merkt, dass die Zuhörer berührt sind von dieser außergewöhnlichen Geschichte, die das Leben geschrieben hat.

Achims Freunde stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Warum haben Sie diese Erzählperspektive gewählt?

Das ganz große Glück bei diesem Projekt war der Kontakt zu Joachim Neumann. Er hat ein unglaublich gutes Gedächtnis und konnte mir sehr lebendig vermitteln, wie es ihm und seinen Freunden damals erging. Was ihre Gefühle waren. Ich wollte möglichst nah an seinem Erleben dranbleiben. Denn dadurch erhält das Buch seine Kraft.

Wie ist das mit den anderen Jugendlichen aus dem Roman?

Ich konnte mit den verschiedenen Protagonisten persönlich sprechen: Zum Beispiel mit »Lampe«, der kurz nach dem Abitur in der DDR wegen einer Nichtigkeit zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Was ist Ihnen bei der Recherche oder beim Schreiben am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben?

Besonders eindrücklich war die Recherche in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Joachim Neumann hat mich begleitet, als wir in Berlin seine Stasi-Unterlagen einsahen. Er wurde von der Stasi als »Kopf einer kriminellen Menschenhändlerbande« bezeichnet.

Was hat Sie in der Behörde besonders berührt?

Die Strategie-Gespräche der Stasi haben mich besonders betroffen gemacht. Denn da saßen erwachsene Menschen zusammen und zerbrachen sich die Köpfe darüber, wie man unangepasste Jugendliche nach Strich und Faden fertigmacht. Wie gut, dass diese Zeit vorbei ist!

Sie lesen in Ihrer Heimat Rosbach. Was bedeutet das für Sie?

Ich lese inzwischen in ganz Europa. In Rosbach lese ich nur sehr selten. Ich freue mich von ganzem Herzen darauf, mein Buch dort vorzustellen. Ich hoffe, die Wasserburg wird voll.

Achims Motivation für sein Engagement als »Tunnelbauer« war die Liebe?

In der Tat. Die Geschichte des Tunnelbauers ist die Geschichte einer großen Liebe. Aber sie ist auch die Geschichte einer großen Wut. Das Fundament seines selbstlosen Engagements ist jedoch die Liebe.

Was lehrt uns Achims Geschichte?

Seine Lebensgeschichte lehrt uns, dass man in jeder noch so ausweglosen Situation etwas unternehmen kann, um schlussendlich alles zum Guten zu wenden. Man darf halt nicht aufgeben. Joachim Neumann hatte 40 glückliche Jahre mit der Frau, für die er sein Leben eingesetzt hat. So hat er am Ende über das Unrecht gesiegt.

Welche Rolle spielt in der Geschichte das Glück?

Ohne Glück geht gar nichts im Leben. Da kann man noch so clever sein. Diese Erfahrung hat wohl jeder von uns schon gemacht. Zum Glück war das Glück am Ende auf der Seite von Chris und Achim.

Den Mut der Tunnelbauer und vieler anderer Menschen kann man nur bewundern. Sind das Vorbilder für Jugendliche heute?

Unbedingt. Die Jugendlichen reagieren extrem positiv auf den Text. Viele staunen darüber, dass die Tunnelbauer sich für Menschen eingesetzt haben, die sie nicht einmal kannten. Die haben ihr Leben riskiert, um anderen den Weg in die Freiheit zu ermöglichen. Das macht sie für mich zu wahren Helden.

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koe_Tunnelbauer_260424_4c_1 © Sabine Bornemann

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