Auf die Minute genau hat niemand die Uhrzeit festgehalten. Es war zwischen 12.40 und 12.50 Uhr am Donnerstag, dem 20. Juli 1944, als eine Detonation die Lagebaracke im Führerhauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen erschütterte. Doch die Zielperson überlebte das Attentat: Adolf Hitler wurde von der Bombe, die Claus Schenk Graf von Stauffenberg gelegt hatte, nur leicht verletzt.
Das NS-Regime nahm an den Widerständlern grausam Rache. In Folge des misslungenen Staatsstreichs mussten mehr als 150 Menschen sterben – zu den Opfern zählte auch Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld. Noch in der Nacht zum 21. Juli wurde er in der Zentrale der Verschwörer festgenommen, dem Bendlerblock in Berlin-Tiergarten. In einem Schauprozess wurde er zum Tode verurteilt und am 8. September 1944 in Berlin Plötzensee hingerichtet.
Die Familien der Widerständler kamen in Sippenhaft. Die Frauen in Gefängnisse, die Kinder in ein Kinderheim nach Bad Sachsa – darunter auch Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld, geboren 1929. Er ist der älteste Sohn von Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld. Mit 15 Jahren musste er ertragen, dass sein Vater von den Nazis ermordet wurde. Inzwischen ist er einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen.
WELT: Woran sollte man sich in Deutschland am 20. Juli erinnern?
Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Daran, dass es Widerstand gegen das Regime gab und im Dritten Reich Menschen lebten, die die Reichsregierung stürzen und ein gerechtes Deutschland aufbauen wollten. Der 20. Juli sollte uns daran erinnern, sich keiner Diktatur kampflos zu ergeben, sondern selbst aktiv zu werden. Auch in Demokratien ist es wichtig, politisch aktiv zu sein. Wir alle tragen individuelle Verantwortung – wir müssen nichts widerspruchslos hinnehmen.
WELT: Am 20. Juli 1944 waren Sie 15 Jahre alt. Wie haben Sie den Tag in Erinnerung?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Es waren Sommerferien, ich genoss die Zeit zu Hause auf dem Land mit meiner Mutter und meinen Brüdern. Mein Vater arbeitete in Berlin und war nur selten zu Hause. Alles erschien ganz normal. Wir haben an diesem Tag keine Nachrichten gehört und hatten demnach keine Ahnung, was geschehen war.
WELT: Wann haben Sie von dem Attentat erfahren?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Am Tag darauf sollte eine Entenjagd stattfinden. Doch am Morgen sagte der Förster mir, die Leute aus der Umgebung hätten abgesagt – vor allem die aus der Partei. Sie hatten Arrest, weil befürchtet wurde, sie würden reden. Er erzählte mir dann von einem Attentat. Als ich nach Hause kam und es meiner Mutter erzählte, fiel sie quasi vor mir in Ohnmacht.
WELT: Was wussten Sie von dem Vorhaben Ihres Vaters?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Nichts. Meine Mutter wusste etwas, aber nicht viel. Mit uns Kindern hat sie nicht darüber gesprochen. Ich erinnere, wie sie zuallererst Seiten aus dem Gästebuch herausriss und vernichtete. Anfangs konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Erst später habe ich verstanden, warum sie das getan hat: In dem Buch standen natürlich viele Namen von Mitwissern und Beteiligten, die sie schützen wollte.
WELT: Was ist nach dem 20. Juli mit Ihnen passiert?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Am 7. August wurden wir verhaftet. Die Gestapo holte meine Mutter, meinen jüngsten Bruder Detlef, der erst sieben Wochen alt war, und die Kinderschwester ab. Mein jüngerer Bruder Christoph und ich wurden zum Bahnhof gebracht und mussten mit selbstbezahlten Fahrkarten in die nächste größere Stadt fahren. Dort holte uns die Gestapo ab und brachte ihn in ein Kinderlager und mich zu meiner Mutter ins Gefängnis.
WELT: Später kamen Sie dann in ein Kinderheim in Bad Sachsa (Harz) – gemeinsam mit anderen Kindern von Widerständlern. Haben Sie zu dieser Zeit gewusst, was passiert war?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Das war am 15. September – zu dem Zeitpunkt lebte mein Vater schon nicht mehr. In Bad Sachsa habe ich zum ersten Mal etwas geahnt, als ich die Stauffenberg-Kinder traf. Der Name war als einziger bekannt im Zusammenhang mit dem Attentat. Die Stauffenbergs wussten, dass ihr Vater erschossen worden war. Wir anderen hatten keine Ahnung, was mit unseren Vätern geschehen war.
WELT: Wann haben Sie von dem Tod Ihres Vaters erfahren?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Ich habe den Tod meines Vaters geträumt, ehe ich es wusste – den ganzen Prozess im Detail bis zu seiner Kleidung. Erst später erfuhr ich, dass es diesen Prozess tatsächlich vor dem Volksgerichtshof gegeben hatte. Als ich meine Mutter nach der Entlassung aus Bad Sachsa am 8. Oktober 1944 wiedersah, erzählte sie mir von seinem Tod, aber ich wusste ja bereits alles.
WELT: Haben Sie mit den anderen Kindern über Ihre Väter und den Widerstand gesprochen?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Nein. Wir haben miteinander gespielt, aber nicht über unsere Familien gesprochen. Das war verboten. In Bad Sachsa war alles streng geregelt. Wir lebten in verschiedenen Häusern auf dem Gelände und durften kaum untereinander zusammenkommen, auch nicht mit unseren Geschwistern. Wir bekamen neue Namen und sollten unsere alte Identität vergessen.
WELT: Welchen Namen haben Sie bekommen und was sollte das?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Auf dem Weg nach Bad Sachsa gab uns die Gestapo den Namen „Seifert“. Unseren Familiennamen sollten wir nicht mehr sagen. Der ursprüngliche Plan war, uns zur Adoption freizugeben oder von nazitreuen Familien umerziehen zu lassen. Wir sollten unsere „Verräterfamilien“ vergessen. Aber der Plan ging nicht auf. Wir bekamen die richtigen Namen der anderen schon nach kurzer Zeit heraus. Mein Bruder hatte eine alte Lederhose von mir an, in deren Klappe vorne unser Familienname eingestickt war. Da wir ihn nicht sagen durften, zeigte er den anderen Kindern einfach die Innenseite der Lederhose. So wusste jeder schnell, wer die anderen Kinder waren.
WELT: Wie können wir uns das Leben in Bad Sachsa vorstellen?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Es war ein Gefängnis mit Auslauf. Es gab acht Wohnhäuser auf dem Gelände. Insgesamt gab es Platz für 200 Kinder. Wir waren aber nur 46 Kinder im Alter bis 15 Jahre – alle mit Vätern aus dem Widerstand. Mädchen und Jungs wurden getrennt und nach Alter auf die verschiedenen Häuser aufgeteilt. Ich war der Älteste in Bad Sachsa.
WELT: Hatten Sie Kontakt zur Außenwelt, zu Ihrer Familie?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Wir durften das Heim nicht verlassen und hatten keinerlei Kontakt nach draußen. Bad Sachsa befand sich in einem Hochsicherheitsgebiet. In dieser Gegend im Harz sollte Hitlers „Wunderwaffe“ produziert werden, hieß es. Wir hätten nirgendwohin gehen können. Alles war bewacht und abgesperrt.
WELT: Nachdem Sie aus dem Kinderheim entlassen wurden, sind Sie noch einmal nach Bad Sachsa zurückgekehrt – um die Kinder zu sehen, die noch da waren. Warum haben Sie das gemacht?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: In meiner Zeit in Bad Sachsa hatte ich angefangen, den anderen Kindern die Haare zu schneiden. Wir waren alle seit dem 20. Juli, zum Teil auch einige schon früher, nicht mehr beim Friseur gewesen. Sie können sich also vorstellen, wie wir ausgesehen haben mussten – besonders die Jungs. Als ich Bad Sachsa verließ, kam ich wieder in die Schule nach Nordhausen – nicht weit von dem Heim entfernt. Die Heimleiterin Frau Köhler, eine walkürenhafte Narzisse, wollte mich erst nicht reinlassen. Dann habe ich sie aber davon überzeugt, dass ich den anderen wieder die Haare schneiden musste.
WELT: Ihr Vater ist bis zuletzt standhaft geblieben. Man sieht es in den Aufnahmen, die während der Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof gemacht wurden. Wie erklären Sie sich die innere Kraft Ihres Vaters?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Das ist wohl auf seine moralische Überzeugung und seinen christlichen Glauben zurückzuführen. Er war Zeuge, wie die SS im Wald von Sartowitz, unserem zweiten Betrieb in Westpreußen, nach dem Polenfeldzug im Oktober 1939 mehr als 1400 Menschen erschoss. Das bestätige ihn weiter in seiner Ablehnung gegen Hitler. In seinem Testament hat er verfügt, dass an dieser Stelle im Sartowitzer Wald ein hohes Eichenkreuz zum Gedenken der Opfer errichtet werden soll.
WELT: In seinem Abschiedsbrief hat Ihr Vater Ihre Mutter gebeten, die Kinder zu „christlichen Edelleuten“ zu erziehen. Welche Rolle spielt der christliche Glaube in Ihrer Familie?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Unsere Eltern haben uns Verantwortung für Mensch und Tier, Bescheidenheit und Rücksichtnahme vorgelebt. Diese christlichen Werte waren für beide von großer Bedeutung und sie hofften, dass wir diese Werte ebenfalls weitergeben würden. Der Glaube war eine Leitlinie, der man folgen konnte und sollte – und ist es bis heute für mich.
WELT: Derzeit erlebt die AfD einen Höhenflug. Laut aktuellen Umfragen ist sie teilweise zweitstärkste Kraft und erreicht in einigen Ländern sogar über 30 Prozent Zustimmung. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: Das Erstarken einer neuen rechtspopulistischen Gruppierung beunruhigt mich. Die etablierten Parteien müssen mit ihrer Politik jetzt so stark werden, dass keiner einen Grund sieht, AfD zu wählen. Doch mir scheint, als wüssten die anderen Parteien nicht, wie man mit der AfD umgehen soll. Ihnen fehlt eine klare Linie im Umgang – und es wird zu wenig getan, um die Populisten klein zu halten.
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