Ein Obdachloser ist in der U-Bahn get�tet worden. Drei Jugendliche waren an der Tat beteiligt. Die Eltern sind ratlos. Wie sollen sie mit dem Vorfall umgehen? Vertuschen oder zur Polizei gehen? Und was ist �berhaupt genau passiert? Der Fernsehfilm „Totgeschwiegen“ (ZDF / Studio.TV.Film) erz�hlt von f�nf Erwachsenen, die hin- und hergerissen sind zwischen der Liebe zum eigenen Kind und ihrem gesellschaftlichen Gewissen. Und die Kids? Empathie Fehlanzeige, aber sind sie deshalb gleich Monster? Der Zuschauer ist gefordert bei dem Film von Franziska Schlotterer & Ko-Autorin Gwendolyn Bellmann. Es ist unm�glich, sich bei dieser Geschichte entr�stet auf eine moralische Position zur�ckzuziehen und so zu tun, als ginge einen der Konflikt nichts an. Daf�r besitzt die Handlung nicht nur f�r Eltern ein zu hohes Identifikationspotenzial. Daf�r wirken die Charaktere zu sehr wie echte Menschen. Daf�r agieren die Schauspieler mit ihren alltagsnahen Dialogen viel zu realistisch. Und daf�r sind auch Dramaturgie & Filmsprache zu �berzeugend. Eines der Highlights des Jahres!
Foto: ZDF / Pausch & RascheAcht Menschen in einer Ausnahmesituation. Was haben wir da nur f�r Kinder herangezogen, wird sich der eine oder andere Erwachsene denken. Und was haben wir falsch gemacht? Dar�ber, wie man die Situation retten k�nnte, gehen die Ansichten auseinander. Oben: Laura Tonke, Mehdi Nebbou, Claudia Michelsen, Katharina Marie Schubert, Godehard Giese. Unten: David Al Rashed, Flora Li Thiemann, Lenius Jung
Ein Obdachloser ist in der U-Bahn get�tet worden. Drei Jugendliche waren an der Tat beteiligt. Als deren Eltern eher durch Zufall davon erfahren, sind sie erst einmal ratlos. Wie sollen sie mit dem Vorfall umgehen? Und was ist �berhaupt genau passiert? „Es war ein Unfall“, beteuert Fabian (Lenius Jung). Seine Mutter Brigitte (Katharina Marie Schubert) wei� als erste Bescheid; sie hat ihren Jungen anhand seiner Jacke in den Nachrichten erkannt. Au�er einem �berwachungsvideo, in dem die drei von hinten zu sehen sind, hat die Polizei offenbar nichts in der Hand. Brigitte und ihr Mann Volker (Godehard Giese) w�rden deshalb eine Vertuschungsstrategie bevorzugen. Jean (Mehdi Nebbou), der Ziehvater von Mira (Flora Li Thiemann), sieht das v�llig anders; f�r ihn ist eine Selbstanzeige mit der Beweisf�hrung, dass es ein Unfall war, der einzige gangbare Weg. Seine Frau Esther (Claudia Michelsen) ist z�gerlich, die Aussicht, dass ihre Tochter im Jugendknast enden k�nnte, l�sst sie dann aber auf Volkers Linie einschwenken. Die alleinerziehende Nele (Laura Tonke) erf�hrt als letzte, dass ihr Sohn Jakob (David Ali Rashed) in den „U-Bahn-Mord“ verstrickt ist. Sie braucht Zeit, um sich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Dann fasst sie einen einsamen Entschluss.
Foto: ZDF / Hans-Joachim PfeifferSie wissen als erste Bescheid: "Wir lassen dich nicht h�ngen", verspricht Brigitte (Katharina Marie Schubert) ihrem Sohn. Ihr Mann Volker (Godehard Giese), Patent-Anwalt, malt dagegen schwarz: "Das ist K�rperverletzung mit Todesfolge. Wenn die an einen Richter geraten, der ihnen Absicht unterstellt oder auch nur eine Inkaufnahme, dann kommen die f�r mindestens 2 bis 3 Jahre in den Jugendknast."
Acht Menschen in einer Ausnahmesituation. Der ZDF-Fernsehfilm „Totgeschwiegen“ erz�hlt von f�nf Erwachsenen,� die hin- und hergerissen sind zwischen der Liebe zum eigenen Kind und dem, was man gesellschaftliches Gewissen nennen k�nnte. Diese Wahrheit �ber das eigene Fleisch und Blut, die pl�tzlich alle Gewissheiten ersch�ttert, nagt an den f�nf Erwachsenen. „Ich habe mich noch nie in meinem ganzen Leben so hilflos gef�hlt“, muss Frauen�rztin Esther erkennen. Und dann muss sie auch noch �u�erungen wie „Du wei�t gar nicht, wie eklig der Typ war, ich bin froh, dass er tot ist“ aus dem Munde ihrer Tochter h�ren. Selbst der sonst so aufger�umt wirkende, die anderen mit seinen Arumenten �berzeugende Patentanwalt Volker hat Momente, in denen er nicht wei�, wo ihm der Kopf steht. Und so steckt er auf der Zielgeraden des Films den Sohn ins Internat. Er selbst geht ins Hotel. Auch er kapituliert also vor dieser sich versch�rfenden Krise – und vor seiner Ehe. Indirekt macht er damit seine Frau und ihre, wie er sagt, „Affenliebe“ zu ihrem Sohn f�r die immer verfahrenere Situation verantwortlich. Denn irgendwann kommt heraus: Es war kein ungl�cklicher Schubser, der den Tod des Obdachlosen herbeif�hrte, es war ein Messer im Spiel, und einer dieser gerade mal 15-J�hrigen hat zugestochen. Die drei decken sich gegenseitig, jeder will es gewesen sein. Und dann bewahrheitet sich das, was eine Mutter fr�h prophezeite: „Die halten doch den Druck gar nicht aus.“ M�gen die Jugendlichen auch schweigen, den Vorfall zu ihren Gunsten sch�nreden und scheint Empathie so gar nicht ihr Ding zu sein: Monster sind sie nicht. Sie sind Kinder ihrer Eltern, sind Kinder dieser Gesellschaft, und sie sind lernf�hig.�
Foto: ZDF / Christiane Pausch"Ich bin froh, dass der Typ tot ist." Sie machen auf empathielos & cool, doch die Ereignisse des Abends werden die drei 15J�hrigen einholen. Thiemann, Jung, Rashed
Der Zuschauer ist gefordert bei dem Film von Franziska Schlotterer und Ko-Autorin Gwendolyn Bellmann. Es ist unm�glich, sich bei dieser Geschichte entr�stet auf eine moralische Position zur�ckzuziehen und so zu tun, als ginge einen der Konflikt nichts an. Daf�r besitzt die Handlung nicht nur f�r Eltern ein viel zu hohes Identifikationspotenzial. Daf�r wirken die Charaktere zu sehr wie echte Menschen. Daf�r agieren die Schauspieler mit ihren alltagsnahen Dialogen viel zu realistisch. Nicht jede Haltung der f�nf Erwachsenen ist gutzuhei�en, verstehen aber kann man sie als Zuschauer durchaus. Sympathien weckt besonders Nele. Ausgerechnet sie, die �berforderte alleinerziehende Mutter nimmt sich die Zeit daf�r, zu dem toten Obdachlosen zu recherchieren – und sie sucht sogar Kontakt zu dessen Ex-Frau. Auch wie sie ihrem Sohn Jakob, zu dem sie als Frau ohne Lebenspartner eine sehr innige Beziehung pflegt, unmissverst�ndlich deutlich macht, was er und seine Freunde da angestellt haben („In dem Moment, in dem Ihr ihm das Messer in den R�cken gerammt habt und ihn habt sterben lassen, habt Ihr entschieden, dass sein Leben jetzt vorbei ist.“), und sie ihn trotz alledem liebevoll in den Arm nimmt, das zeugt von einer hohen Menschlichkeit. Esther hingegen versucht, so etwas wie soziale Verantwortung bei Mira zu wecken, indem sie ihr ehrenamtliche Arbeit in einem Pflegeheim aufs Auge dr�ckt. Als das nicht fruchtet, geht es zum Therapeuten. Esther bem�ht sich, aber offenbar zu sp�t. Miras Verh�ltnis zu Ziehvater und Hausmann Jean war – wie man beil�ufig erf�hrt – immer schon sehr viel besser als das zu ihrer Mutter. Doch Jean hat sich nach Esthers eigenm�chtiger Entscheidung f�r den Vertuschungskurs von seiner Frau getrennt. F�r Mira ist das eine weitere Katastrophe…
Soundtrack: Michael Andrews ("Mad World"), Paolo Nutini ("Iron Sky")
Foto: ZDF / Hans-Joachim PfeifferKonspiratives Treffen der Eltern. Volker: "Als Eltern sind wir keinesfalls verpflichtet, gegen unsere Kinder auszusagen." Brigitte: "Es war doch ein Unfall." Esther: "Die halten doch den Druck gar nicht aus; irgendwann verplappert sich einer." Vage einigt man sich darauf, den Vorfall zu vertuschen. Das erh�ht die Spannung (auch) innerhalb der Familien und f�hrt zu Zerw�rfnissen. Sowohl f�r alle Charaktere als auch f�r deren Interaktionen, Texte & Dialogwechsel gilt: absolut stimmig und alltagsnah. Und deshalb f�llt es schwer, als Zuschauer die Haltung der Eltern, ihre Vertuschung, als kriminell abzutun. Das ist ganz im Sinne des Konzepts: "Die Auseinandersetzung mit den Figuren hat uns gezwungen, uns selbst als Eltern den Spiegel vorzuhalten und uns immer wieder zu fragen: Wie w�rden wir uns verhalten?" (Franziska Schlotterer)
Das andere Paar, Volker und Brigitte, sind im �brigen auch keine Unmenschen. Sie f�hren ein anderes leben, sie ticken anders, und sie sind in ihrer Beziehung wenig offen miteinander. Dass sie die Tat der Kinder unter den Teppich kehren, das entspricht ihren L�sungsstrategien. Schon die Autorinnen machen aus ihm nicht den unsympathischen, kalten Technokraten und aus ihr nicht nur die gest�rte Mutterglucke, und die Schauspieler Godehard Giese und Katharina Marie Schubert sorgen schlie�lich daf�r, dass man auch mit den beiden mitf�hlen kann, ja, dass sie zumindest bemitleidenswert sind. Kein Zuschauer m�chte in deren Haut stecken. Die gelegentlich vorgelebte fehlende Empathie einiger Charaktere kann man der Rezeptionsebene auf jeden Fall nicht vorwerfen. Die Haltung, die der Zuschauer zu den Jugendlichen einnehmen d�rfte, ist dagegen distanzierter und weniger emotional gepr�gt. Daf�r machen die drei einfach zu sehr auf cool, sind zu verstockt und zeigen zu wenig Mitgef�hl mit dem Toten. „Dass die Jugendlichen auch f�r den Zuschauer ein R�tsel bleiben“, das fand Laura Tonke, die Darstellerin der Nele, besonders interessant. Dieser Verzicht auf simple Psychologisierung und kausale Erkl�rungen geh�rt fraglos zu den St�rken des Films.
Foto: ZDF / Hans-Joachim PfeifferSich die Realit�t so hinbiegen, damit die eigene bevorzugte Entscheidung als richtig erkannt werden kann. Hin- und hergerissen: Esther (Claudia Michelsen). Auch der rationale Patentanwalt Volker (Godehard Giese) hat Momente, in denen er keine Antwort parat hat. "Lass uns morgen noch mal sprechen – ich wei� jetzt gar nicht." W�hrend die Gesellschaft (das Gesetz) auch die Seite des Opfers ausreichend ber�cksichtigen muss, kommt sie in den �berlegungen der Eltern zun�chst nicht vor.
Aber was ist eigentlich nicht bemerkenswert an diesem Fernsehfilm?! Es stimmt einfach alles. Sorgt die Auswahl des gesellschaftlich relevanten Themas bei einem Fernsehkritiker nur f�r einen kleinen Bonus, wiegt dagegen umso mehr, dass Franziska Schlotterer und Gwendolyn Bellmann dramaturgisch alles richtig gemacht haben: Das beginnt mit der Entscheidung, die Tat der Jugendlichen auf die (Handlungs-)Ebene der Erwachsenen zu projizieren, setzt sich fort im sehr effektiven multiperspektivischen Konzept und endet noch lange nicht im Verzicht auf die sonst �blichen Anleihen beim Krimigenre. Die Ermittlungen der Kripo bleiben ein Intermezzo zur Halbzeit des Films. Die Geschichte mit ihren f�nf stimmigen erwachsenen Charakteren und den drei jugendlichen Fragezeichen ist so intensiv, bei den drei Familien ist so viel Dampf im Beziehungskessel, dass es keiner Krimimuster bedarf, um den Druck auf die Figuren zu erh�hen. Solche Momente w�rden sicherlich die Konzentration und die Dynamik dieser vorz�glich austarierten, interdependenten Gruppen-Kommunikation nur st�ren.
Foto: ZDF / Christiane PauschPerspektivwechsel. Durch die Figur Nele (Laura Tonke) wird auch dem Opfer ein St�ck weit eine Identit�t gegeben. Bevor sie sich entscheidet, muss sie Abstand gewinnen, und sie will etwas �ber den Toten erfahren. Das tut der Geschichte gut.
Auch Narration und Filmsprache sind passgenau aufeinander abgestimmt. Die Autorinnen legen ein dichtes, engmaschiges Erz�hlnetz aus kurzen, markanten Szenen �ber die 90 Filmminuten, aus dem es f�r den Zuschauer kein Entrinnen gibt. Warum soll er es besser haben als die Charaktere, die sich – au�er der alleinerziehenden Mutter – alle nur um sich selbst und ihre gehobene Mittelschichtexistenz drehen. Information folgt auf Information, die Dialoge besitzen gro�e Klarheit und Transparenz, und der selten sichtbare Himmel �ber Berlin h�ngt f�r den Zuschauer bald voller Fragen: Werden sich alle Erwachsenen an die vage Schweigeverabredung halten? Werden alle, auch die Kids, dem inneren Druck standhalten? Wenn nicht, wer wird wohl als erster einknicken? Wer ist das schw�chste Glied in der Kette? Hinzu kommt ein elliptischer Erz�hlstil von Regisseurin Schlotterer, bei dem in der Regel so sp�t wie m�glich in die Szenen reingegangen wird – wodurch das Erz�hlte zunehmende Wucht und Dynamik bekommt. So entsteht ein nie endender Spannungsfluss, den man mit Bauch und Kopf gleicherma�en intensiv wahrnehmen kann. Angesichts dieses nachhaltigen Ausnahme-Dramas muss man sich fragen, weshalb eine so vorz�gliche Regisseurin (und Autorin) wie Franziska Schlotterer seit ihrem gro�artigen, viel beachteten Erstling „Ende der Schonzeit“ bis zu „Totgeschwiegen“ keinen weiteren Spielfilm mehr gedreht hat?!
Foto: ZDF / Christiane PauschHaare ab, in der Hoffnung, dass sich etwas �ndert. Esther (Michelsen) kommt nicht ran an ihre Tochter. "Du interessierst dich erst seit dieser Sache f�r mich. Das ist doch total pervers." Mira (Flora Li Thiemann) hat da wahrscheinlich nicht ganz unrecht.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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