Interpretation | Tonio Kröger
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Interpretation

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Unsere detaillierte Interpretation befasst sich mit den Hauptthemen von Thomas Manns Novelle Tonio Kröger (1903) und beleuchtet das Werk aus verschiedenen Perspektiven heraus. Zunächst wird die Beziehung zwischen Tonio, Hans und Inge beschrieben. Die gesamte Erzählung dreht sich um Gegensätze, die für die zwiegespaltene Hauptfigur Tonio Kröger eine große Herausforderung darstellen. Die Kontraste zwischen Vater und Mutter, Nord und Süd, Bürgertum und Künstlertum werden in diesem Zusammenhang detailliert erläutert.

Die Enttäuschungen seiner Jugend durch sein soziales Außenseitertum und durch seine unerhörte Liebe haben den jungen Künstler Tonio Kröger in seinem Denken, seinem Schaffen und seinem Selbstverständnis stark geprägt. Als er sich als junger Erwachsener für den künstlerischen Werdegang entscheidet, gerät er mehr und mehr mit seiner bürgerlichen Prägung in Konflikt. Tonios Außenseitertum wird in Bezug auf seinen familiären Hintergrund, sein Aussehen und seinen Charakter und auf sein distanziertes und einsames Künstlertum gründlich geschildert.

Das zentrale Thema der Novelle, die Künstlerproblematik, wird anschließend untersucht. Tonio Kröger sucht selbst im Text die Antworten auf die Fragen „Was ist Kunst?“ und „Was ist ein Künstler?“. Im umfangreichen Kapitel 4 der Novelle erläutert Tonio der Malerin Lisaweta sein Kunstverständnis. Dieses Kapitel erweist sich sowohl sprachlich als auch inhaltlich als schwieriger als der Rest der Novelle. Tonios (Thomas Manns) Kunstauffassung ist komplex, deshalb haben wir sie hier für Dich aufgerollt und in verständlicher Weise sehr ausführlich dargestellt. Dazu haben wir viele anschauliche Beispiele und Zitate aus dem Text verwendet.

Die beiden letzten Abschnitte unserer umfassenden Interpretation beschäftigen sich mit Tonios Sexualität und Identität, die im Zentrum der Novelle stehen, und mit den verschiedenen Figurengruppen, den Blonden und Blauäugigen, den Brünetten und Braunäugigen und den Spiegelfiguren, welche in der Novelle eine symbolische Bedeutung haben.

 

Auszug aus dem Text: 

Tonio, Hans und Inge

Der Leser lernt Tonio Kröger kennen, als dieser 14 Jahre alt ist. An einem Wintertag geht er mit seinem Freund Hans Hansen spazieren. Insgeheim ist Tonio in Hans verliebt und buhlt um dessen Zuneigung und Aufmerksamkeit. Hans ist ein blonder, gutaussehender, maskuliner Jüngling, beliebt und erfolgreich, doch auch etwas naiv. Er verkörpert also das genaue Gegenteil von Tonio. Doch gerade darin liegt für Tonio der Reiz, denn nicht das Ähnliche, sondern das Gegensätzliche zieht ihn an. 

Hans mag Tonio zwar gut leiden, genießt auch dessen Zuneigung, doch für Tonio ist dies zu wenig und er leidet still darunter. Er bemerkt auch nicht (oder möchte es nicht wahrhaben), dass die beiden Jungen im Prinzip nichts Gemeinsames haben: „Wie gut sie einander verstanden! Wer wußte, – vielleicht brachte er ihn noch dazu, ebenfalls Verse zu schreiben?“ (S. 17). Noch während Tonio so denkt, sich also Gemeinsamkeiten mit Hans herbeisehnt, schwenkt er um, denn er wird sich seines inneren Wunsches bewusst, dass Hans so bleiben solle, wie er ist: „Nein, nein, das wollte er nicht! Hans sollte nicht werden, wie Tonio, sondern bleiben, wie er war, so hell und stark“ (S. 17), denn gerade sein Anderssein macht ihn für Tonio attraktiv.

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Vater und Mutter, Nord und Süd, Bürgertum und Künstlertum

Der Leser lernt Tonio Kröger kennen, als dieser 14 Jahre alt ist. An einem Wintertag geht er mit seinem Freund Hans Hansen spazieren. Insgeheim ist Tonio in Hans verliebt und buhlt um dessen Zuneigung und Aufmerksamkeit. Hans ist ein blonder, gutaussehender, maskuliner Jüngling, beliebt und erfolgreich, doch auch etwas naiv. Er verkörpert also das genaue Gegenteil von Tonio. Doch gerade darin liegt für Tonio der Reiz, denn nicht das Ähnliche, sondern das Gegensätzliche zieht ihn an. 

Hans mag Tonio zwar gut leiden, genießt auch dessen Zuneigung, doch für Tonio ist dies zu wenig und er leidet still darunter. Er bemerkt auch nicht (oder möchte es nicht wahrhaben), dass die beiden Jungen im Prinzip nichts Gemeinsames haben: „Wie gut sie einander verstanden! Wer wußte, – vielleicht brachte er ihn noch dazu, ebenfalls Verse zu schreiben?“ (S. 17). Noch während Tonio so denkt, sich also Gemeinsamkeiten mit Hans herbeisehnt, schwenkt er um, denn er wird sich seines inneren Wunsches bewusst, dass Hans so bleiben solle, wie er ist: „Nein, nein, das wollte er nicht! Hans sollte nicht werden, wie Tonio, sondern bleiben, wie er war, so hell und stark“ (S. 17), denn gerade sein Anderssein macht ihn für Tonio attraktiv.

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Tonios Außenseitertum

Familiäre Hintergrund, Aussehen und Charakter

Thomas Manns Novelle Tonio Kröger beginnt mit einem Ausschnitt aus Tonio Krögers Jugend in seiner Heimatstadt in Norddeutschland. Bei seinem Namen handelt es sich um eine ungewöhnliche Zusammensetzung aus südländischem Vornamen und nordischem Nachnamen, was darin begründet liegt, dass Tonios Vater ein norddeutscher Konsul ist, während seine Mutter aus dem Süden stammt. Durch sie ist Tonio Kröger mit zwei verschiedenen kulturellen Hintergründen verbunden. Auch sind seine Eltern sehr verschieden: Seine Mutter ist musikalisch und liederlich. Sein Vater ist dagegen ein Geschäftsmann und Ordnungsmensch.

Tonio Kröger sieht mit seiner braunen Haut, seinem braunen Haar und seinen braunen Augen anders aus als die anderen sportlichen und leistungsorientierten Jugendlichen in seiner Heimatstadt an der Ostsee. Tonios künstlerische Seite veranlasst ihn dazu, viel zu lesen, zu philosophieren und Gedichte zu schreiben. Als romantischer und verträumter Typus verliert er sich gerne in seinen literarischen Fantasiewelten, die ihm lieber sind als die Realität. All dies macht Tonio zu einem Außenseiter. Er erscheint seinen Mitmenschen trotz seiner bürgerlichen Herkunft als etwas Fremdartiges bzw. Befremdliches. 

Als eines Tages in der Schule öffentlich bekannt wird, dass Tonio Gedichte schreibt, schadet ihm dies gesellschaftlich. Diese künstlerische Betätigung stößt auf allgemeines Missfallen bei den Mitschülern und den Lehrern, was Tonio gut nachvollziehen kann, denn immer wieder dann, wenn er durch seine künstlerische Seite zu stark von der Norm abweicht, ruft ihn seine bürgerliche Moralvorstellung zur Ordnung. 

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Tonio Kröger und die Kunst

Was ist die Kunst und was der Künstler?

Eine bestimmte Definition von Kunst wird in der Erzählung nicht formuliert, aber angedeutet: „‚Dergleichen ist Gabe‘, sagen demütig die braven Leute, die unter der Wirkung eines Künstlers stehen, und weil heitere und erhabene Wirkungen nach ihrer gutmütigen Meinung ganz unbedingt auch heitere und erhabene Ursprünge haben müssen, so argwöhnt niemand, dass es sich hier vielleicht um eine äußerst schlimm bedingte, äußerst fragwürdige ‚Gabe‘ handelt...“ (S. 34). Hiermit ficht Tonio Kröger an, dass Kunst sich nur um eine vom Gott gegebene Gabe handelt, ohne jedoch zu versuchen, den Begriff genau abzugrenzen. 

In der Diskussion definiert sich Tonio mehrmals selbst als Künstler: „In uns Künstlern sieht es gründlich anders aus, als er mit seinem 'warmen Herzen' und 'ehrlichen Enthusiasmus' sich träumen mag.“ (S. 35); „Wir Künstler verachten niemand gründlicher als den Dilettanten, den Lebendigen, der glaubt, obendrein bei Gelegenheit einmal ein Künstler sein zu können.“ (S. 39). 

Tonio fragt sich selbst: „Aber was ist der Künstler?“ (S. 34) und ist sich bewusst, dass diese Frage sehr schwierig zu beantworten ist: „Vor keiner Frage hat die Bequemlichkeit und Erkenntnisträgheit der Menschheit sich zäher erwiesen als vor dieser“ (S. 34). Einen wirklichen Künstler, „einen vorbestimmten und verdammten“ (S. 33), erkenne man schon „mit geringem Scharfblick aus einer Menschenmasse“ (S. 33), denn er ist gezeichnet: „Das Gefühl der Separation und Unzugehörigkeit, des Erkannt- und Beobachtetseins, etwas zugleich Königliches und Verlegenes ist in seinem Gesicht“ (S. 33), erklärt Tonio Kröger. 

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Sexualität und Identität

Die ersten Verliebtheiten

Neben der sozialen und künstlerischen Identitätssuche Tonios kann man in der Novelle – wenn auch versteckt – Hinweise auf einen Zwiespalt in der sexuellen bzw. geschlechtlichen Identität der Hauptfigur finden. 

In seiner Jugend ist Tonio Kröger in seinen Mitschüler Hans Hansen verliebt. Dies könnte als jugendliche Schwärmerei abgetan werden, denn die Jungen sind gerade einmal 14 Jahre alt, es kommt, mit der Ausnahme einiger Berührungen (die jedoch symbolisch eine wichtige Rolle spielen), zu keinerlei physischen Annäherungen. Tonio bewundert Hans, weil dieser im Gegensatz zu ihm schön, maskulin und beliebt ist. 

Im zweiten Kapitel verliebt sich Tonio mit 16 in einer Tanzstunde in die schöne und lustige Inge. Diese zeichnet sich durch ähnliche Attribute wie Hans Hansen aus und ist in vielerlei Hinsicht dessen weibliches Spiegelbild. Tonios Anziehung kann hier wieder dadurch erklärt werden, dass er von der Gegensätzlichkeit zu ihr angezogen wird.

Der Wechsel des Geschlechts des Objekts der Liebe kann seinen Grund darin haben, dass Tonios sexuelle Identität in seiner frühen Jugend noch nicht gefestigt gewesen ist und sich weg von der Homo- hin zur Heterosexualität entwickelt hat. Die Beziehung mit Inge bleibt wortlos und unerwidert. Sie bleibt unsensibel, fern und fremd zu ihm. Wie mit Hans bleibt die Beziehung zu Inge von platonischer Art.

In Kapitel 2 geschieht es, dass Tonio beim Tanz versehentlich auf die Seite der Damen gerät, was vom Ballettmeister bloßstellend kommentiert wird: „Kröger ist unter die Damen geraten! En arrière, Fräulein Kröger, zurück, fi donc!“ (S. 21). Diese Bemerkung trifft ihn schwer. Diese Szene könnte darauf hindeuten, dass auch Tonios Geschlechteridentität ambivalent ist. Wahrscheinlich hat Tonio durch seine südländische Mutter einige Verhaltensmuster und Ansichten geerbt, die seine Mitschüler als weibisch/unmännlich beurteilen, z. B. seine Sensibilität und Verträumtheit, das Schreiben von Versen oder seine Musikalität. Vermutlich entwickelt er durch seinen handlungsfähigen Vater eine Bewunderung für Hans‘ Vitalität.

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Die verschiedenen Figurengruppen

Die Blonden und Blauäugigen

Die Hauptvertreter dieser Kategorie sind vor allem Hans Hansen und Ingeborg Holm. Die beiden Jugendlichen werden nacheinander von Tonio bewundert und geliebt: Sie verkörpern das Gegenteil von ihm, sind blond und blauäugig, schön und lebensfroh. Hans ist ein vitaler Tatmensch, der sich für Pferdebücher, Reiten und Sport interessiert. Die lustige Inge tanzt gerne. Sie interessieren sich nicht für Literatur.

Im Gegensatz zu der realen Kameradschaft mit Hans und zur Verliebtheit, die dieser zwar wahrnimmt, aber nicht erwidert, ist Tonios Beziehung zu Inge imaginär und fern. Tonio verliebt sich, als Inge „ein Wort, ein gleichgültiges Wort, auf eine gewisse Art betonte, wobei ein warmes Klingen in ihrer Stimme war, und ein Entzücken ergriff sein Herz, weit stärker als jenes, das er früher zuweilen empfunden hatte, wenn er Hans Hansen betrachtete, damals, als er noch ein kleiner, dummer Junge war“ (S. 17-18). Zwei Mal leidet Tonio unsäglich, weil seine Liebesgefühle nicht erwidert werden, und als er seine Heimatstadt verlässt, um in den Süden zu reisen, empfindet er keinen Schmerz dabei, denn “sein Herz [war] tot und ohne Liebe“ (S. 26). 

Als Tonio sich in Dänemark im Badeort Aalsgaard aufhält, sieht er beide Figuren in seiner Vision wieder und als er später einschläft, flüstert er: „zwei Namen in das Kissen hinein, diese paar keuschen, nordischen Silben, die ihm seine eigentliche und ursprüngliche Liebes-, Leides- und Glückesart, das Leben, das simple und innige Gefühl, die Heimat bezeichneten“ (S. 71). Hans und Inge stehen in Bezug zu anderen Leitmotiven der Novelle und versinnbildlichen Norden und Heimat, aber auch Leben und Leid.

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