Putins Krieg ist das Comeback der Nato. Ex-Bundesverteidigungsminister de Maizière spricht mit ZDFheute über das Wiedererstarken des Bündnisses - und Fehler in der Vergangenheit.
ZDFheute: Sie leiteten 2020 eine Reflexionsgruppe zur Reform der Nato. In welchem Zustand war die Nato damals?
Thomas de Maizière: Die Nato war in einer tiefen Krise. Sie soll das politische Forum für die Sicherheitsfragen des Westens sein. Das war vor Putins Angriff nicht mehr der Fall. Es war sogar so, dass je schwieriger ein politisches Thema wurde, etwa mit der Türkei, umso weniger wurde es im Nato-Rahmen angesprochen.
Dadurch wurde sie in der Mitte, dem Westen und Süden von Europa irrelevant. Die Nato wurde mit freundlichem Desinteresse behandelt, als nützlich, aber nicht wichtig. Das hat sich fundamental verändert.
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ZDFheute: Was heißt das?
de Maizière: Putin hatte bei seinem Angriff geglaubt, der Westen sei zerstritten und würde nicht oder nicht entscheidend reagieren. Das war ein Fehlschluss.
Plötzlich ging es wieder um die Verteidigung der Freiheit. Plötzlich war klar, wofür es die Nato gibt.
ZDFheute: Die Nato führt keinen Krieg, aber Wladimir Putin sagt, sie zwinge ihn dazu. Er beruft sich auch auf den ehemaligen deutschen Außenminister Genscher. Demnach habe die Nato 1990 versichert, sich nicht nach Osten auszudehnen. Lieferte der Westen Putin eine Vorlage?
de Maizière: Es gibt kein Versprechen der Nato oder auch der Bundesregierung, die Nato nicht zu erweitern. Selbst wenn Genscher es gegeben hätte:
Russland hat selbst die neuen Realitäten anerkannt. Wir sind der Auffassung, dass ein freies Land sich in Freiheit entscheiden kann, ob es einem Verteidigungsbündnis freier Staaten angehören darf. Wir glauben nicht, dass ein russischer Staatschef ein Vetorecht hat.
Wenn Putin glaubt, dass freie Staaten ihn bedrohen, weil sie frei sind, dann können wir dieser Bedrohung nicht abhelfen.
ZDFheute: Hat die Nato Chancen verpasst, den Frieden zu stabilisieren?
de Maizière: Es gibt ja eine große Debatte darüber, ob es richtig war, die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgien 2008 zu verweigern. Einige sagen ja, das war ein Fehler. Wären zu dem Zeitpunkt die Ukraine und Georgien Mitglieder der Nato geworden, hätte es diesen Angriff nicht gegeben.
Ich halte das nicht für richtig. Vielleicht hätten wir dann noch einen größeren Krieg. Vor allen Dingen waren die Ukraine und Georgien zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht beitrittsreif. Es waren keine gefestigten Demokratien, also diesen Fehler gab es nicht.
ZDFheute: Wäre ein klares Nein oder Ja besser gewesen als dieser Schwebezustand?
de Maizière: Das ist vielleicht ein berechtigter Vorwurf an den Kompromiss. Der lautete ja: Nato-Mitgliedschaft jetzt nein, aber vielleicht später. Damit konnte Putin sein Narrativ entwickeln, dass die Ukraine über kurz oder lang doch Mitglied der Nato wird. Im Nachhinein war der Kompromiss falsch.
Aber zum damaligen Zeitpunkt hat es eine schwere Krise der Nato überwunden.
ZDFheute: Jetzt wollen Schweden und Finnland in die Nato - und die Türkei blockiert.
de Maizière: Die Nato ist nach ihrem Selbstverständnis ein Bündnis von Demokratien. Man kann Demokratien nur glaubwürdig verteidigen, wenn man selbst demokratisch ist. Die Türkei war immer ein schwieriger Partner. Trotzdem überwiegen geopolitische Argumente dafür, dass die Türkei in der Nato bleibt.
In unserem Bericht haben wir das diskutiert, aber davon abgeraten. Die Einstimmigkeit in Sicherheitsfragen ist auch das entscheidende Pfund der Nato.
ZDFheute: Ist die neue Stärke der Nato von Dauer? Was, wenn ein neuer Trump kommt?
de Maizière: Die Festigung der Nato muss gehalten werden. Wir brauchen dazu einen transatlantischen Präsidenten, der auch so denkt. Wenn dieser Krieg länger dauert und kein klares Ergebnis hat, dann geht man vielleicht wieder über in den alten Schlendrian. Ich hoffe, dass das nicht geschieht. Die USA können ihre Weltmachtrolle nur halten, wenn sie sich immer auch als europäische Macht verstehen.
Das Interview führten Gunnar Krüger und Thomas Bärsch für die ZDF-Doku "Das Comeback der Nato - wie Putins Krieg die Allianz verändert", ab Dienstag, 28.06.2022 in der ZDF-Mediathek.