FormalPara Zusammenfassung

Dieses Kapitel behandelt die Art und Weise, wie man sich mit angemessenem Zweifel dem Thema Religion und Glaube nähert. Gehe ich im Glauben auf oder gehe ich im Glauben unter? Dabei ist es gut, erst mal ein paar naiv-dumme Fragen zu stellen. Was ist eigentlich Wirklichkeit – und was ist (religiöse) Wahrheit? Gibt es die wahre Religion? Was kann man schon von Gott (oder Göttern) wissen? Es geht dabei um die Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben: Glaubst du noch oder weißt du schon?

„Nur wenige wissen,

wie viel man wissen muss,

um zu wissen,

wie wenig man weiß.“

(Werner Heisenberg, Physiker)

Keine Frage: Es gibt die Wirklichkeit – aber können wir sie wirklich erkennen? Oder genauer – was davon können wir erkennen? Was können wir wirklich wissen? Und was müssen wir glauben? Was ist für uns wahr? Und: Wie viel Illusionen braucht der Mensch? Diese Fragen betreffen nicht nur die Religionen, sondern unsere gesamte Einstellung zur Realität, zur Wirklichkeit.

„Die Wirklichkeit,

die Wirklichkeit

trägt wirklich ein Forellenkleid

Und dreht sich stumm

und dreht sich stumm

Nach and’ren Wirklichkeiten um.“

(André Heller)

1 Wirklichkeit(en)

Aber was ist wirklich? Von der Wortbedeutung könnte man banal sagen: Wirklich ist das, was wirkt. Philosophisch gesehen wird die Wirklichkeit als das „An-sich-Seiende“, das „eigentliche Sein“, das „in Raum und Zeit Seiende“, das „Objektive“ angesehen. Kurz gesagt ist es erst mal all das, was an Sachverhalten direkt sinnlich wahrnehmbar ist. Die Dinge existieren allerdings auch unabhängig von unserer Anschauung: Der Mond ist auch da, wenn keiner hinschaut.

Fangen wir mit den Basics an: Wir nehmen die Welt vorrangig über unsere Sinnesorgane wahr (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) – idealerweise ganzheitlich und ungeteilt. Es geht also darum, die Außenwelt mit unseren Sinnesorganen (und natürlich auch über das, was wir Menschen an technischen Gerätschaften als Erweiterung unserer Sinne entwickelt haben) wahrzunehmen. Diese Erlebnisse einzusortieren und zu bewerten, ist unsere Aufgabe. Wir sollten in der Lage dazu sein, davon innere Vorstellungen zu bilden, uns daran zu erinnern und sie mit anderen Erfahrungen zu verknüpfen, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und die passenden Handlungen folgen zu lassen. All das ist hochkomplex.

Noch komplizierter wird es, wenn es um Religionen geht, da es sich hier um etwas nicht direkt Sichtbares dreht: Gott und Götter sind nun mal unsichtbar. Denn dabei geht es nicht nur um Wissen, sondern eben auch um Glauben. „Glaubst du noch – oder weißt du schon?“, formuliert die atheistisch orientierte Giordano-Bruno-Stiftung. Aber was weiß man schon mit absolut unzweifelhafter Gewissheit? Und auch dazu gibt es verschiedene Sichtweisen.

Im Konstruktivismus wird z. B. davon ausgegangen, dass jede Wirklichkeit konstruiert ist. Für Konstruktivisten gibt es also keine objektive Wirklichkeit, sondern sie wird immer durch den Beobachter einer Situation oder eines Zustandes konstruiert. Die Frage ist also nicht, ob du lügst, sondern ob dir die anderen glauben.

Der bekannte Systemische Therapeut Paul Watzlawick meinte, dass die Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Er hält die Vorstellung, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, für eine problematische Selbsttäuschung. Und da es für Watzlawick viele subjektive Wirklichkeiten gibt, glaubt er: „Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist.“

„Wenn ein Philosoph mir eine Frage beantwortet,

verstehe ich oft meine Frage nicht mehr.“

Um etwas im Hier und Jetzt als gegenwärtig und wirklich erleben zu können, müssen wir Erinnerung (also Vergangenheit) und Erwartung (also Zukunft) so miteinander verschmelzen, dass die aktuelle Wahrnehmung und (Be-)Deutung zur eigenen Position wird. Denn alle Menschen brauchen und haben (mehr oder weniger bewusst) ein Welterklärungssystem, sei es biologistisch, naturalistisch, philosophisch, esoterisch oder religiös.

In den Sozialwissenschaften wird der Wirklichkeitsbegriff verwendet, um zu bezeichnen, was von Menschen für wahr und wirklich gehalten wird und woran die Menschen glauben und ihr Handeln ausrichten. Und dabei gibt es viel Meinung, aber wenig Ahnung und Wissen.

„Es gibt die Wirklichkeit, und an ihr ist nicht zu rütteln.

Wahrheiten aber,

nämlich in Worten ausgedrückte Meinungen über das Wirkliche,

gibt es unzählige.

Und jede ist ebenso richtig, wie sie falsch ist.“

(Hermann Hesse)

Dabei werden die Begriffe Wirklichkeit und Wahrheit im allgemeinen Sprachgebrauch oft synonym verwendet, obwohl sie sich doch sehr unterscheiden können: Die Wirklichkeit weist auf etwas hin, was wirksam ist, während die Wahrheit versucht, die Wirklichkeit zu erkennen und zu interpretieren.

2 Drei Wahrheiten

Zusammengefasst kann man drei Arten von Wahrheiten unterscheiden:

  1. 1.

    Subjektive Wahrheiten: Das, was ich persönlich für wahr halte.

  2. 2.

    Objektive Wahrheiten: Das, was objektiv sichtbar oder erkennbar und nachweisbar ist (z. B. mit Kameras oder anderen Instrumenten).

  3. 3.

    Interpersonale Wahrheiten: Das, worauf sich eine Gruppe (z. B. eine Religionsgemeinschaft) geeinigt hat, dass es wahr ist/sei.

Institutionalisierte Religion tut oft so, als wäre sie objektive Wahrheit. Dabei kann man Religionen am ehesten als interpersonale Wahrheiten ansehen. Für Ungläubige sind Religionen vielleicht Illusion. Für Gläubige sind sie (inter-)personale Wahrheit – und damit (zumindest vordergründig) hilfreich und nützlich. Denn man muss an Vorstellungen glauben, damit sie (positiv) wirken. Sie können nämlich auch als Illusionen schädlich sein – aber dazu später mehr.

Wahrheiten – so scheint es – gibt es viele und sie sind subjektiv, interpersonal und nur selten objektiv. Einfach weil da immer die persönliche Interpretation und die subjektive Bedeutungsgebung mitspielen. – Und Wahrheiten sind verderblich. Manche sprechen gar von einer „Wahrheitsillusion“: Was heute als wahr gilt, ist morgen vielleicht schon Illusion. Wie schrieb doch Friedrich Nietzsche: „Die Wahrheit ist eine Illusion, ohne die eine gewisse Spezies nicht überleben könnte.“

„Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen,

ehe die Wahrheit die Schuhe anzieht.“

(Mark Twain)

Wenn jemand die Wahrheit sucht, darf er nicht darüber erschrocken sein, wenn er sie findet. Denn Religionen sind voller erfundener Wahrheiten. Allerdings scheint es auch Wahrheiten zu geben, die sich mit wissenschaftlichen Mitteln nicht beweisen lassen und die trotzdem wahr sind: Menschliche Erkenntnis ist eben immer nur Stückwerk. Denn der Mensch weiß im Grunde wenig, glaubt aber, das, was er weiß, sei die Wahrheit und das gebe ihm das Recht, anderen Vorschriften zu machen und sie – im Extremfall – umzubringen, wenn sie sich seiner Sichtweise, seinem Glauben, nicht anschließen.

Problematisch wird es also, wenn die Erkenntnis dem Glauben untergeordnet wird und durch Glauben verbogen wird, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“: „Die Erde ist der Mittelpunkt des Universums.“ So ist es nicht ungefährlich, wenn der Kirchenlehrer Thomas von Aquin verkündet: „Die Philosophie ist die Magd des Glaubens.“ Vulgo: Der Glaube ist wichtiger als das Wissen.

Schon ein paar Jahrhunderte vorher soll der Apostel Paulus gesagt haben: „Glaube ist ein Ärgernis der Vernunft.“ Allerdings darf der Glaube nicht der Vernunft widersprechen. Denn Verstand und Wille sind zwar gute Diener, aber sie sind schlechte Herren. Man kann also sagen: Glaube ist auf der rationalen Ebene nur begrenzt erklärbar.

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“, lässt Goethe den Faust in seinem berühmten religionskritischen Theaterstück sagen. Denn im Gegensatz zur Religion geht die Philosophie von der Gleichberechtigung von Gut und Böse aus. Also – ziehe immer in Erwägung, dass du dich irren könntest.

"Glücklich kann sich der fühlen,

der langfristig in der Lage ist

zu glauben, er versteht die Welt."

Zum Nachdenken Findest du die Wahrheit, die dich glücklich macht?

So gibt es die unterschiedlichsten religiösen – mitunter auch absurden – Wahrheiten, die wir uns immer mal wieder ansehen werden. Hier ist z. B. eine:

James Usher (1581–1656), hoch angesehener irisch-anglikanischer Theologe, Erzbischof von Armagh und Primas von Irland, errechnete aus den Lebensdaten der biblischen Gestalten, dass Gott die Erschaffung der Welt genau am 23. Oktober 4004 (v. Chr.) morgens um 8 Uhr beendet hat. Kann das wahr sein?

Ketzereinwurf Was sollen wir glauben? Und wo fängt der Quatsch an? Sollen wir wirklich all das glauben, was irgendwelchen Menschen (die später vielleicht als Propheten oder gar als Götter bezeichnet wurden) vor langer Zeit in ihren Fantasien oder Fieberträumen begegnet ist? Und was in den sogenannten „heiligen Büchern“ als „ewige Wahrheiten“ verkündet wurde?

3 Der Mensch – ein symbolisierendes Wesen

Der Mensch ist ein sich ständig wandelndes Subjekt. Wie in diversen neueren psychologischen Studien belegt ist, ist/hat er beileibe kein so festes „Ich“, sondern er verändert sich ständig: Heute ist er erfolgreich, morgen scheitert er. Mal ist er ein strahlender Held, mal ist er eine tragische Figur. Mal ist er traurig, mal wütend oder freudig erregt, mal ist er nur einfach komisch. Er ist ein Wanderer zwischen seinen Gefühlszuständen. Manchmal ist er auch Beobachter, unbeteiligter „Zeuge“ dessen, was er tut und was ihm passiert. Und (fast) immer ist er so identifiziert mit dieser Position, dass er denkt: Genauso bin ich, das ist mein Kern.

„Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ war vor ein paar Jahren ein philosophischer Bestseller von Richard David Precht, in dem es genau um die Fragen des Kerns der Persönlichkeit, der Selbsterkenntnis und des Selbstbildes ging. Wer (oder was) ist das eigentlich, was etwas wahrnimmt? Gibt es vielleicht doch diesen gleichbleibenden Kern der Identität, den man in manchen Religionen als die Seele bezeichnet? In der tiefenpsychologischen Psychotherapie unterscheidet man denn auch zwischen „Ich“ und „Selbst“, wobei das Selbst als eine Art Kern der Persönlichkeit angesehen wird …

Bei unserem Erleben ist vor allem zu unterscheiden zwischen dem, was man konkret wahrnimmt, und der Art und Weise, wie wir es interpretieren. Und unsere Interpretation passiert häufig in Worten und Zeichen, also Symbolen. Der Mensch ist ein „animal symbolicum“, ein symbolisierendes Tier, das sich die Welt durch Symbole (eben Worte + Zeichen) zugänglich macht, sagt der Philosoph Ernst Cassirer. Heißt konkret: Wir leben und denken vor allem in Worten und Symbolen. Und gerade die Religionen sind eine Ansammlung von Symbolen und Worten. Und Worte schaffen Welten – nicht nur religiöse.

Wie wichtig Worte sein können, zeigt sich z. B. selbst in ganz einfachen Begriffen, die vollständig andere Assoziationen hervorrufen. Testen Sie selbst:

Zum Nachdenken Welche unterschiedlichen Assoziationen und Gefühle haben Sie bei den Begriffen:

  • Religionslos oder religionsfrei?

  • Selbstmord oder Freitod?

4 Was sind Religionen?

„Glauben bedeutet

den Verstand zu verlieren,

um Gott zu gewinnen.“

(Sören Kierkegaard)

Auf der soziologischen Ebene ist Religion ein kulturell vermitteltes Regelwerk, das in einer Gesellschaft vorgibt, was richtig und was falsch ist. So gesehen kann man Religionen – oberflächlich gesehen – als Denkmodelle bezeichnen, nach denen Menschen (mehr oder weniger bewusst) ihr Leben ausrichten.

Es ist ja noch nicht so lange her, dass die Kirche den Menschen vorgeschrieben hat, wie sie den Menschen, die Welt und den Kosmos gefälligst zu sehen haben: Nur der Christenmensch lebt richtig und die Erde ist der Mittelpunkt des Weltalls, um die sich der gesamte Kosmos dreht. Galileo Galilei, der das ganz anders sah, musste abschwören, sonst wäre er auf dem Scheiterhaufen gelandet. Trotzdem sagte er: „Ich fühle mich nicht dem Glauben verpflichtet, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Verstand ausgestattet hat, von uns verlangt, dieselben nicht zu benutzen“ (Galileo Galilei, 1564–1642).

Und in diesem Konflikt stehen wir alle – mehr oder weniger bewusst: Wir sollen die Welt in einer bestimmten Art und Weise sehen und interpretieren, die uns die Religionen vorgeben, obwohl wir sie vielleicht selbst ganz anders interpretieren würden. Das ist eine (wenn auch eher nicht ganz so wichtige) Ursache dafür, dass sich immer mehr Menschen von ihren religiösen Anschauungen lösen.

Vor 50 Jahren gehörten noch 96 % der Bevölkerung einer Kirche an. Damals lag der Anteil der Personen, die keiner Kirche angehörten, also gerade mal bei 4 %. Im Jahr 2023 waren daraus schon 40 % geworden, die aus der Kirche ausgetreten waren. Wenn es so weitergeht, landen wir bei dem, was die Giordano-Bruno-Stiftung das „Säkulare Jahrzehnt“ nennt: Irgendwann wird dann die Mehrheit der Deutschen „konfessionsfrei“ (nicht konfessionslos) sein.

Das ist denn auch das Ziel des „Zentralrates der Konfessionsfreien“, einem Zusammenschluss von mehreren säkularen Verbänden, die das Ziel haben, die Interessen und Rechte der Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, zu vertreten. Denn, obwohl wir offiziell ein säkularer Staat sind, haben die beiden großen Kirchen bis heute einen immensen Einfluss auf viele politische Entscheidungen: Ob es um Schwangerschaftsabbruch, Freitod, Ethikunterricht (statt Religionsunterricht) oder kirchliches Sonderarbeitsrecht geht – überall machen die beiden großen Kirchen (mehr oder weniger verdeckt) ihren Einfluss geltend.

5 Religionsdefinitionen

Es gibt eine Vielzahl von Versuchen, den Begriff Religion zu definieren. Von der Wortbedeutung her geht das Wort Religion zurück auf die lateinischen Begriffe „religare“ (verbinden, abstammen) oder „relegere“ (wieder lesen, überdenken, die Pflichten gewissenhaft befolgen) oder „religere“ (erneut wählen). Oft wird unter Religion so etwas wie „Rückbindung“ und (Ur-)Vertrauen verstanden.

Für viele ist Religion der Glaube an eine übernatürliche Macht (hierzulande meist Gott oder Allah). Manche verstehen unter Religion auch „Gottesverehrung“ oder gar „Gottesfurcht“.

Dabei sind Religionen nicht nur überdauernde Narrative, also Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Für manche sind sie die Basis ihrer Identität. Was man sagen kann: Wie ich Religion einschätze und welche Bedeutung sie für mich hat, hängt in einem hohen Maße davon ab, aus welchem Standpunkt ich Religion betrachte.

Ungläubige Menschen gehen davon aus, dass Glaube nur dann eine wirkliche Leistung ist, wenn man etwas glaubt, was ziemlich unwahrscheinlich oder gar unsinnig ist. Im Islam heißt es dazu: „Vertraue auf Allah – aber binde Deinem Kamel die Füße.“

Aber was genau ist denn nun Religion? Wie zeigt sie sich? Manifestiert sich Religion vor allem in bestimmten offensichtlichen Ritualen (Gottesdiensten, Gebeten, Gesängen, Meditationen) oder in bestimmten sakralen Gebäuden (Kirchen, Tempeln, Synagogen, Moscheen)? Ist sie das, was von religiösen Amtsträgern (Priestern, Bischöfen, Mullahs, Gurus …) vertreten und verkündet wird? Oder ist Religion doch nur etwas hoch Subjektives, das jeder nur für sich selbst entwickelt und dann daran glaubt?

Zum Nachdenken Was ist für Sie eine glaubwürdige Religion? Woran machen Sie es fest? Welche Bedeutung hat sie für Ihr Leben? Was macht Religion mit Ihnen? Wo, wie und in welchen Verrichtungen zeigt sie sich? Was daran ist positiv – und was daran ist problematisch?

„Religionen sind wie Leuchtwürmer,

sie bedürfen der Dunkelheit,

um zu leuchten.“

(Arthur Schopenhauer)

Exkurs: Folgende Erzählung beschreibt in einer Allegorie die Unterschiede zwischen „echter Religion“ und einem Glauben, der auf Traditionen, Mythen und Verlogenheiten fußt. Sie wird dem Gründer des Bektaschi-Sufi-Ordens Hadschi Bektasch (1209–1271) zugeschrieben.

Die Geschichte vom Heiligengrab

Vor langer Zeit lebte einmal der Sohn eines hochgeachteten Verwalters eines Heiligengrabes, das zu einem wahren Pilgerort für viele Gläubige geworden war. Er hätte eigentlich Nachfolger seines Vaters an dieser heiligen Pilgerstätte werden sollen und damit für sich ein gutes und bequemes Leben vor sich gehabt.

Als er aber zum Mann herangewachsen war, entschloss er sich, die Wahrheit und das Wissen selbst zu suchen – wo immer sie zu finden seien – selbst wenn „ich sie erst in China finde“.

Mit dem Segen seines Vaters sattelte er seinen Esel und zog in die Welt.

In den vielen Jahren seiner Wanderschaft kam er in verschiedene Städte und Länder: Er besuchte Kairo, Damaskus und Aleppo, durchwanderte Babylonien, das Zweistromland, die arabische Wüste, war in Samarkand und Buchara, traf mehrere Derwische und war in mehreren Tekkes der verschiedenen Sufi-Orden. Als er sich nach vielen Jahren auf dem Weg in Richtung Kaschmir und Tibet in den Höhen des Hindukusch-Gebirges befand, starb sein Esel, wegen der vielen Entbehrungen und weil die Luft dort oben so dünn war.

Da in den vielen Jahren und Jahrzehnten der Esel sein einziger Weggefährte gewesen war, der ihn überall begleitet hatte, war er sehr traurig. Schmerzgebeugt und mit gebrochenem Herzen begrub er seinen Gefährten unter einem einfachen Erdhügel. Still meditierend, über sich die hohen Berge und unter sich die ins Tal rauschenden Gebirgsbäche, verbrachte er an dieser Karawanenkreuzung der Gebirgsstraßen, die Zentralasien, Indien und China mit Persien, Turkmenistan und Usbekistan verbanden.

Schon bald bemerkten die Händler und Pilger den einsamen Mann, der abwechselnd immer wieder seinen Verlust beweinte und mit starrem Blick ins Tal hinunterblickte.

„Es muss sich wohl um das Grab eines Heiligen handeln“, tuschelten sie miteinander. „Wenn jemand, der wahrscheinlich selbst der Schüler eines Heiligen ist, so lange und über Wochen hin seinem Schmerz ausgeliefert ist und keine Linderung findet.“

Als nach einigen Monaten ein reicher Mann mit seiner Karawane vorbeikam, befahl dieser, an der Stelle eine Kuppel und eine Grabstätte zu errichten. Andere Pilger terrassierten die Berghänge und pflanzten Früchte, um davon den Unterhalt des Heiligengrabes zu bestreiten.

Nach einiger Zeit verbreitete sich die Bekanntheit dieses neuen Pilgerortes mit dem still trauernden Derwisch in der gesamten Region. Als der Vater davon hörte, machte er sich sogleich auf den Weg zu diesem neuen geheiligten Ort.

Als er dort eintraf, war er erstaunt, dass es sich um seinen Sohn handelte, und er fragte ihn, was denn passiert sei. Der Sohn erzählte ihm (hinter vorgehaltener Hand) die Geschichte und sagte: „Die Pilger sind so voller Glaube, Liebe und Hoffnung, dass ich sie nicht enttäuschen wollte, indem ich ihnen die Wahrheit mitteile.“

Da hob der Vater die Hände zum Himmel und sprach: „Mein Sohn, auch jene Grabstätte, an der Du aufgewachsen bist, ist auf die gleiche Weise entstanden, als mein Esel vor mehr als dreißig Jahren dort seinen Geist aufgab.“

6 Nutzen von Religion

Da wir Menschen sinnsuchende Geschöpfe sind, erheben uns Religionen über die biologische Einfachheit und sind Tröstungen für die alltäglichen Niederschläge des Lebens. Die Grundidee der meisten Religionen ist fast immer idealistisch. Ihr Ziel ist meistens, das Gute im Menschen zu entwickeln. Nur mit der Umsetzung hapert es allerdings nicht selten – einfach, weil es eben auch in vielen Religionsgemeinschaften nur allzu sehr „menschelt“.

Menschen projizieren in die Götter etwas, nach dem sie sich dann richten. Sie geben damit die Macht an etwas Größeres (Gott) ab, damit sie sich geborgen und sicher fühlen können. Gerade die Einfältigen haben einen Gott, der sie beschützt, denn heilige Einfalt widerspricht oft religiöser Vielfalt. Arno Backhaus, ein christlicher Liedermacher, der sich gern als „E-fun-gelist“ und „Missio-Narr“ bezeichnet, meint: „Gott spielt in meinem Leben keine Rolle. Er ist der Regisseur.“

„Religion ist ein Protest

gegen die Sinnlosigkeit des Geschehens.“

(Martin P. Nilsson, schwedischer Historiker)

Außerdem ist positiv an Religionen, dass sie Strukturen für die Unerklärlichkeiten des Lebens entwickeln, dass sie Hoffnung und Urvertrauen geben und das Gefühl vermitteln, dass nicht alles erklärbar ist (und auch nicht sein muss). Denn Religionen sind Welterklärungssysteme, die versuchen, über sichtbare Symbole und Worte das Unsichtbare zu erklären. Es gibt in ihnen so gut wie immer eine Macht größer als wir selbst (meistens Gott, o. Ä.). Sie sind Sinnsysteme, die Antworten auf die philosophischen Sinnfragen geben. Sie strukturieren damit unstrukturierte Situationen und helfen damit, Unbegreifliches verstehbar zu machen.

Zum Nachdenken Bis wohin geht die Hoffnung – und wann fängt die Illusion an?

„Wer ein ‚Warum‘ hat,

kann jedes ‚Wie‘ ertragen.“

(Friedrich Nietzsche)

Die Symbole, Bilder und Metaphern einer Religion dienen dazu, den Menschen verständlich zu machen, was eigentlich nicht (oder nur symbolisch und sehr schwer) in Worte zu fassen ist. Denn wie kann man bild-los und wort-los über etwas Unsichtbares kommunizieren?

Trotzdem: Die ethischen Prinzipien, die alle ernst zu nehmenden Religionen gemeinsam haben, sind hilfreich für das Zusammenleben der Menschen.

7 Beispiel: Buddhistische Prinzipien

Im Buddhismus gibt es z. B. die vier großen Wahrheiten, an denen Gläubige ihr Leben ausrichten sollen:

  1. 1.

    Leben ist gleich Leiden

  2. 2.

    Leiden entsteht durch Begierden

  3. 3.

    Begierden können überwunden werden

  4. 4.

    Der achtfache Weg zur Überwindung der Begierden ist:

    • Richtige Anschauung

    • Richtiges Wollen

    • Richtiges Reden

    • Richtiges Handeln

    • Richtiges Leben

    • Richtiges Streben

    • Richtiges Denken

    • Richtiges Sich-Versenken

Umgesetzt in den Lebensalltag, sehen diese Regeln („Silas“) des Buddhismus konkret folgendermaßen aus:

  • Ich will keinem lebenden Wesen Leid zuzufügen.

  • Ich bemühe mich, kein Wesen durch meine Rede zu verletzen.

  • Ich nehme nichts, was mir nicht gegeben wird.

  • Ich bemühe mich, kein Wesen in irgendeiner Weise zu missbrauchen oder ihm durch mein (sexuelles) Verhalten Leid anzutun.

  • Ich nehme keine berauschenden Mittel zu mir.

So weit die Theorie – die Umsetzung in die alltägliche Lebenspraxis ist bei den Buddhisten genauso schwierig wie bei den Christen, im Judentum oder im Islam.

Denn viele dieser ethischen Prinzipien findet man z. B. auch in den Zehn Geboten des Christentums oder in anderen religiösen Regelwerken wieder. Da, wo sich diese ethischen Prinzipien zwischen den Religionen unterscheiden, sind sie mehr oder weniger kulturell- und zeitgeistgeprägter Unsinn.

8 Problematische Seiten der Religion: Fromme Unmenschlichkeit

Religionen tun so, als seien sie knitterfreie Sinnsysteme. Durch ihre Dogmen haben sie zumeist statische Weltbilder, die sie nur manchmal dem Zeitgeist anpassen. So gesehen sind Religionen oft mumifizierte Wahrheiten. Vielfach wird heutzutage eher die Asche angebetet, anstatt dass das Feuer weitergetragen wird.

Sie sind auch darauf spezialisiert, den Idealismus ihrer Gläubigen auszubeuten und das Bedürfnis nach magischer Welterklärung zu befriedigen. Religion ist zwar nicht Magie. Aber unreflektierter Glaube kann zweifellos magische Sichtweisen produzieren.

Problematisch für die religiösen Weltbilder von der Stange kann sein, dass die Gläubigen v. a. über Angst gebunden werden (z. B. vor der Hölle), dass Dogmatismus, Extremismus, Fanatismus – und im schlimmsten Fall Terrorismus und Glaubenskrieg das Ergebnis sind. Denn die meisten Religionen bergen in sich die Gefahr, durch ihren Dogmatismus zum Fanatismus zu werden. Das kann auch zu dem führen, was man „fromme Unmenschlichkeit“ nennen könnte. Und dabei geht es nicht nur um den sexuellen Missbrauch von Kindern durch Kleriker. Man muss sich nur daran erinnern, was in christlichen Kinderheimen an Gemeinheiten durch Nonnen, Klosterbrüder, Priester und gläubiges Aufsichts- und Lehrpersonal angerichtet wurde.

Nicht selten wird durch die Frommen die Menschheit in Gläubige (Freund) und Ungläubige (Feind) unterteilt. Ihre Glaubensgewissheit führt dazu, dass die Dogmen nicht hinterfragt werden dürfen: Intrapsychisch halten sie sich (weil sie sich in einer Art „heiligem Krieg“ befinden) durch die Verbindung mit ihrem allmächtig geglaubten Gott (und weil sie glauben, Gottes Wille auszuführen) mitunter für unverwundbar. Diese Unverwundbarkeit der Einfältigen geht im schlimmsten Fall sogar einher mit einer Art Allmachtwahn. Sie geben sich selbst die religiöse Erlaubnis aufgrund ihres höheren Ziels, anderen Menschen Vorschriften zu machen, wie sie gefälligst zu leben haben, und wenn sie nicht gehorchen, sie im schlimmsten Fall einzukerkern oder gar abzuschlachten. Dabei verwechseln sie oft Glaubensinhalt und Urvertrauen: Je kleiner (oder verwirrter) der Geist, umso konkreter muss das Gottesbild sein.

Ketzereinwurf Religionen sind die tugendhaften Gespenster, die uns mit Illusionen locken und mit Angst terrorisieren.

Kritische Sichtweisen über Religion gibt es schon lange: „Religion ist gesellschaftlich sanktionierter Wahnsinn“, sagen manche Atheisten. Und „Religion ist Pathologie, nicht Theologie“, meinte schon vor 200 Jahren Ludwig Feuerbach – und: „Der Mensch ist nicht Gotteswerk, Gott ist Menschenwerk“ (mehr dazu siehe Kap. 6).

9 „Gottlose Priester?“

„Religion ist heilbar“, hat der ehemalige katholische Priester Josef Hochstrasser, der später zum reformierten Pfarrer in der Schweiz ordiniert wurde, sein Buch zu dem Thema Glaube betitelt. Unterzeile: „Aus der Sicht eines Agnostikers“. Kann so etwas funktionieren: ein Priester, der seinem Glauben ungläubig-fragend gegenübersteht?

Anscheinend Ja.

Dazu vielleicht eine subjektive Erfahrung aus meiner Psychotherapiepraxis:

Wenn ich an die diversen katholischen, evangelischen und sonst wie religiös gebundenen kirchlichen Funktionsträger denke, die ich im Laufe der vielen Jahre in Psychotherapie, Beratung oder Coaching hatte, ist der Anteil der agnostischen (oder gar atheistischen) Priester doch recht hoch, die an ihrem Glauben gezweifelt haben – und manchmal sogar an dem „traditionellen religiösen Geschwätz“ verzweifelt sind. Oft haben wir darüber gesprochen, wie sie mit der Diskrepanz umgehen, nach außen der Gemeinde gegenüber religiöse Wahrheiten zu verkünden, an die sie selbst nicht (mehr) geglaubt haben. Ein kirchlicher Funktionsträger sagte mir einmal: „Je weiter man oben in der mittleren Kirchenhierarchie kommt, umso größer ist der Anteil der Zweifler, der Ungläubigen und Zyniker. Was so mancher Oberhirte den Schafen predigt, glaubt er selbst gar nicht selten schon längst nicht mehr.“ Ergo: Das Personal glaubt noch an Gott. Die Herrschaft ist längst Nihilist.

Eine weitere kleine Szene, die ich in meinem direkten Umfeld bei zwei meiner Freunde beobachtet habe:

  • „Ich bete für dich“, sagt die Katholikin.

  • „Untersteh‘ dich“, antwortet der Atheist.

10 Unsichtbare Religion

Oder gibt es gar so etwas wie eine „unsichtbare Religion“, die sich in fluider Spiritualität zeigt und in der sich nichts anderes als ein „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Friedrich Schleiermacher) manifestiert?

Der österreichische Psychiater Victor Frankl schreibt in seinem Buch „Der unbewußte Gott“ über „die sich enthüllende unbewusste Gläubigkeit des Menschen“. Er nennt das den „unbekannten und unbewussten Gott“, den aber jeder Mensch in sich tragen soll, den es gilt, sich bewusst zu machen. Vielleicht hängt ja genau damit der Erfolg des lieben Gottes zusammen: nämlich, dass man ihn nicht sieht (mehr dazu siehe Kap. 6. Eine Macht, größer als wir selbst: Vorstellungen von Gott).

11 Glaube – was ist das?

„Glaube bedeutet,

an etwas zu glauben,

von dem man weiß,

dass es nicht wahr ist.“

(Mark Twain)

Was ist das eigentlich – Glaube? Der Begriff Glaube hat eine religiöse und eine alltägliche Dimension. Im Alltag verbirgt sich dahinter die grundsätzliche Bereitschaft, einen bestimmten Sachverhalt für wahr zu halten, den wir nicht geprüft haben oder nicht überprüfen konnten. Manche sprechen von dem „inneren Altar der Gewissheit“: Glaube ist also Gewissheit ohne Beweise. Für Gläubige ist keine Erklärung nötig. Allerdings – viele wissen gar nicht genau, was sie da eigentlich glauben (oder glauben sollen).

Wenn es gut läuft, ist der Glaube integrierte und synthetisierte Weltanschauung und damit hilfreich. Es wird problematisch, wenn der Glaube als gelebtes Introjekt in einer Person wie ein Pfahl im Fleisch vor sich hin eitert und nicht integriert werden kann, weil es in der persönlichen Lebensgeschichte eine Identifikation mit dem Aggressor gibt, die nur schwer aufzulösen ist. Umdenken ist dabei für viele schon schwierig – „Umglauben“ (also einen anderen Glauben finden) ist noch viel schwieriger.

Hinzu kommt: Die Übergänge zwischen Wissen, Glaube, Gläubigkeit und Leichtgläubigkeit sind fließend: „Glaubst Du noch – oder weißt Du schon?“ heißt ein Slogan der religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung (GBS). Zweifellos wird viel geglaubt, aber wenig gewusst. „Nachdenken statt nachbeten“ heißt deshalb der Tenor der GBS. Aber was können wir – außer Banalitäten – schon wirklich wissen? Deshalb könnte ein Ziel sein: mit klarem Kopf zu glauben. Glauben reduziert zwar Komplexität, aber ich kann darüber nachdenken und die eigene Position reflektieren und für mich begründen: Religiöse Einfalt kann also sehr wohl verknüpft werden mit wissenschaftlicher Vielfalt.

Ketzerfrage Gehe ich im Glauben auf oder gehe ich im Glauben unter?

Auf der religiösen Ebene bedeutet Glauben, dass von Gläubigen meist an eine transzendente Wirklichkeit geglaubt wird. In unserem Kulturkreis ist damit oft ein höheres Wesen (Gott, Allah, Jahwe) verbunden, in anderen fernöstlichen Kulturen geht damit einher der Glaube an eine eher unpersönliche Energie (Tao, Chi, Brahman …).

12 „faith“ und „believe“

Das deutsche Wort Glauben wird im Englischen mit zwei sehr unterschiedlichen Begriffen belegt. Es wird differenziert zwischen „faith“ und „believe“.

Unter faith wird Glauben im Sinne von allgemeinem Gottvertrauen als tragender und prägender Kraft des menschlichen Daseins verstanden. Man könnte auch sagen, es handelt sich um eine Art „Urvertrauen“, also eine Art Urgrund, der in allen sinnvollen Religionen in allen Kulturen zu allen Zeiten identisch ist. Wenn es gelingt, bis dahin durchzudringen, kann Religion heilsam sein.

„Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Ding

nährt die Seele mit der einzig wirklichen Freude

und ist aller Trauer ledig.“

(Baruch Spinoza)

Unter believe versteht man im Gegensatz zu faith die konkreten Glaubensinhalte und Glaubenssätze der einzelnen Religionen. Diese Glaubensinhalte sind in einem hohen Maße kulturell und durch den Zeitgeist bei der Entstehung geprägt und mehr oder weniger sinnvoll. Die Glaubensinhalte zwischen den verschiedenen Religionen sind sehr verschieden und sind der Hintergrund der vielen Religionskämpfe und Religionskriege. Oft beginnen diese nach dem Motto „Nur wir haben den richtigen Glauben und wir müssen euch missionieren. Zur Not mit Feuer und Schwert. Denn seid ihr nicht willig, so brauchen wir Gewalt“. Dadurch werden die Religionen im schlimmsten Fall zu Kampfbegriffen.

Ketzereinwurf

Der Glauben des Einzelnen kann gern sein Himmelreich sein. Die Welt ist schließlich groß genug, dass jeder auf seine eigene Weise darauf unrecht haben kann.

Seine subjektive Sicht will ihm keiner nehmen. Es wird erst dann zum Problem, wenn er seine subjektive Wahrheit zur einzigen, ewig gültigen religiösen Wahrheit erhebt und andere zwingt, diese Sichtweise zu übernehmen. Ansonsten drohen Folterkammer, Hexenhammer, Scheiterhaufen – oder zumindest soziale Ausgrenzung.

Diese Seite des Glaubens ist gegenüber Argumenten deshalb so resistent, weil sie zumeist ungeprüft übernommen wurden. Wenn man kritisch darüber nachdenken würde, könnte das gesamte Glaubenssystem ins Wanken geraten – und das würde eventuell mit einer hochgradigen persönlichen Verunsicherung einhergehen: Man kann gar nicht wissen, was man alles nicht weiß.

„So ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser,

dass er von der Hoffnung genarrt,

dem Tode in die Arme tanzt.“

(Arthur Schopenhauer)

Deshalb wird in allen Religionen auch immer wieder die Glaubensgewissheit beschworen: „Eine feste Burg ist unser Gott“, heißt es z. B. in einem Kirchenlied, das Martin Luther zugeschrieben wird.

Ketzereinwurf Glaubensgewissheit ist die hohe Kunst des gnädig gewährten Selbstbetrugs.

13 Nihilismus

„Alle Religionen beruhen auf einem mythischen

mehr oder weniger unsinnigen Grundgedanken.“

(Friedrich der Große)

Der 2021 gestorbene Professor für Philosophie an der Universität Münster, Werner Schneiders, schreibt in seinem Buch „Die Globalisierung des Nihilismus“ (Freiburg/München, 2019, Verlag Karl Alber):

„Auch die Religion ist keine feste Burg. Selbst bei einem nicht sehr wahrscheinlichen Sieg irgendeiner Religion oder auch der vereinten Religionen dieser Welt bleibt der Nihilismus im Grunde erhalten, denn er haust sogar im Herzen der Religion. Jede Religion hat bisher den Keim des Verderbens in sich getragen, der Zweifel nagt immer auch am eigenen Glauben. Kurz, der Nihilismus ist wahrscheinlich auch durch Religion nicht auszurotten, jedenfalls nicht durch irgendeinen salto mortale“ (S. 112 f.).

14 Serendipität

Neudeutsch nennt man es „Serendipität“, also Weisheit und intelligentes Glück, wenn man über eine Sache stolpert, die man gar nicht gesucht hat, die einen aber auf überraschende Weise weiterbringt.

„Ich finde alles, was mit Religion zusammenhängt, interessant.

Aber es irritiert mich, dass ansonsten intelligente Leute

sie so ernst nehmen.“

(Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis)

Der Anteil der denkenden Menschen, die nicht mehr die tradierten Sinnsysteme übernehmen können, leiden unter einer Art „metaphysischer Unzufriedenheit“. Und die nimmt anscheinend zu. Wer kein Sinnsystem von der Stange (wie sie Religionen bieten) übernehmen kann oder will, der muss sich sein Sinnsystem selbst zusammenbasteln oder zusammenklauben. Genau das ist immer noch in der Esoterikszene üblich: von hier ein bisschen Buddhismus, eine Prise Christentum, etwas Schamanismus und viel diffuse Esoterik – von Bachblüten und Astrologie über Edelsteintherapie und indianischer Schwitzhütte bis hin zu Trancetänzen und Kinesiologie. Gar nicht selten finden sich bei dieser Suche auch die Wünsche der alten Mystiker: „Es ist das Ziel aller, die mit Intelligenz begabt sind, Gott zu werden“, hat Hermes Trismegistos schon vor vielen Hundert Jahren bekannt gegeben. Aber diese Suche ist nicht ganz ungefährlich: „Wer höher steigt, als er sollte, fällt tiefer, als er wollte.“

Also wenn man nicht im esoterischen Glaubenssumpf versacken will, ist es gut, auch hier dem Zweifel Raum zu geben: „Misstraue der Idylle“, meinte André Heller. Auch wenn es gut ist, vertrauen zu können: Schalten Sie Ihren Verstand nicht aus.

Ketzereinwurf Auf kaum einem Gebiet gibt es so viel Betrug, Selbstbetrug und Scheinheiligkeit wie im Bereich der Religionen.

Obwohl keiner Gottes Plan kennt – müssen, sollen, dürfen wir das also glauben? Wie sagte doch der Kölner Kabarettist Jürgen Becker: „Religion ist, wenn man trotzdem stirbt.“