Thomas Brasch: Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte – CulturMag

Geschrieben am 4. September 2013 von für Bücher, Litmag

Thomas Brasch: Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte

Thomas Brasch_ DIe nennen das SchreiThomas Braschs zärtlicher Ziegelstein

– Gesamtausgaben nerven. Sie sind schwer, kleingedruckt und gerade im Lyrikbereich erschlagen sie einen. Thomas Braschs gesammelte Gedichte „Die nennen das Schrei“ sollte man sich trotzdem zulegen. Einmal wäre es schade, wenn die Gedichte des 2001 viel zu früh verstorbenen Dramatikers  vergessen würden. Zum anderen lässt  der von Martina Hanf und Kristin Schulz hervorragend recherchierte Anhang das enge Geflecht von persönlichen Beziehungen und  politischem Hintergrund entstehen, auf dem Braschs Gedichte über 40 Jahre  gewachsen sind. Von Jörn Borges.

Brasch, Kind kommunistischer Führungskader der DDR, begehrt gegen den Staat auf. Er wechselt zwischen Kadettenanstalt, Filmhochschule, Gefängnis und Bewährung in der Produktion, bevor er 1976 in die BRD übersiedelt, ohne seine DDR-Pass abzugeben. Brasch blieb Kind der DDR. Ähnlich wie seine Theaterstücke sind auch seine Gedichte stark von Brecht geprägt. Wie der Mann mit der Schiebermütze und der Zigarre nutzt auch Brasch den Kapitalismus, um diesen zu kritisieren. So  lässt Brasch sich von CSU-Mann Strauß den bayrischen Filmpreis verleihen, um sich dann in seiner  Rede bei der Filmhochschule der DDR zu bedanken. Wie Brecht ist auch Brasch ein großer Frauenverehrer.

In der Gesamtausgabe sind neben seinen bissig bösen politischen Gedichten auch seine zum Teil erst jetzt veröffentlichten Gedichte an Freundinnen ein großer Genuss. Nach Prosagedichten der frühen Jahre findet er mehr und mehr zum Reim, der seinen Versen die Leichtigkeit nicht nimmt, sondern ihrer Zärtlichkeit eine rumpelige Pointiertheit gibt. Mit 23 schreibt er „Anna, Du/ warmer Stein/leg dich in mein Kissen/ nimm von mir und nimm vom Wein/ morgen wirst du nichts mehr sein/ nur das musst du wissen“.

Rumpelige Pointiertheit

Liest man Braschs  Gedichte, streift man durch 40 Jahre deutsche Geschichte, begegnet der Öde der Werktätigen der DDR, der Konsumversessenheit der BRD und immer wieder der immer noch gültigen Kritik am absurden Kulturbetrieb („Selbstkritik 1“). Nach den Texten der frühen Jahre, wie etwa dem noch in der DDR veröffentlichten „Poesiealbum 9“, folgen die Texte aus „Kargo“, die Brasch größtenteils unter dem Eindruck der schönen neuen Welt der BRD nach seiner Übersiedlung verfasste. Neben einer Zusammenstellung von Fotos und Kurztexten finden sich immer wieder wie Momentaufnahmen wirkende Gedichte:  „23.30 MEZ/ Das kalte Licht verschwimmt/ zur Mauer übern Fluß./ die Hure flucht und krümmt/ sich unterm Kuss.“

Auch die Texte aus dem damals sehr erfolgreichen Band „Der schöne 27. September“ setzen sich ironisch mit dem Leben im Westen auseinander. Brasch fängt hier die Starre der Vorwendezeit der 80iger Jahre ein. Die 68er sind Establishment geworden. Brasch spottet über die enttäuschten Bob Dylan Fans: „Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.“ In „Widmung  für ein Haus“ beschreibt er, wie der nächste Krieg im Privaten schon lange Realität ist: „Vielleicht ist der 3. Krieg längst angebrochen/ aus dem nächsten Kapitel der Legende: / Er hat sich in die Mietwohnungen verkrochen:/ dort begräbt er zwischen steinerne Wände/ lebendige Liebespaare. Daß sie bis auf die Knochen/ einander bekriegen. Dass sie am Ende/ erschöpft SOS gegen die Wohnungstür pochen.“

Braschs produktivste  Zeit sind die 80er Jahre. Er schreibt für das Theater und dreht unter anderem den preisgekrönten Film „Engel aus Eisen“. Mit „Der Passagier“ setzt er filmisch neue Maßstäbe. Persönlich ist er zu diesem Zeitpunkt jedoch schon im Drogensumpf versunken („Der schnelle Schnee“). Er verliert sich in seinem letzten großen Projekt „Mädchenmörder Brunke“, bevor nach seinem körperlichen Zusammenbruch eine Herzoperation missglückt.

Thomas Brasch 1993

Viele unveröffentliche Gedichte

Wirklich neu an der Sammlung  von Martina Hanf und Kristin Schulz sind die vielen bisher noch unveröffentlichten Gedichte Braschs. Sie ließen sich so hervorragend recherchieren, da Brasch bereits vor seinem Tod seine sämtlichen Aufzeichnungen an das Archiv der Akademie der Künste übergeben hatte. Schade, dass man sich die hervorragenden Erklärungen zum Hintergrund und zur Entstehung der Gedichte so mühsam aus dem Anhang klauben muss. Sie hätten mit Jahreszahl der Gedichtentstehung auf die Seiten der Gedichte gehört.

Mit „Die nennen das Schrei“ ist trotzdem ein großer Wurf gelungen, gerade weil nicht nur das Bekannte zusammengestellt wurde. Wer auf Entdeckungsreise  gehen will, dem seien die zahlreichen Widmungsgedichte empfohlen, wie etwa das an die unbekannte Beatrice, das auch Braschs Leben zu spiegeln scheint:

ZU WACHSEIN IST; WAS DICH SO STERBEMÜDE MACHT

Dein Feuer ist es, was dich löscht, statt dich entfacht
Dein kaltes Trauern ist, was dich auslacht:
Was dich mal leben machte, hat dich umgebracht.“

Jörn Borges

Thomas Brasch: Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Martina Hanf und Kristin Schulz. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 1029 Seiten. 49,95 Euro. Foto Brasch: Marion Brasch, Creative Commons 2.0, Quelle.

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