Schlüsselwörter

1 Kurzbiografie

Jürgen Habermas ist einer der einflussreichsten Intellektuellen der Bundesrepublik Deutschland – sowohl national als auch international (Corchia et al. 2019). 1929 geboren ist er, wie die Bundesrepublik selbst, ein Kind des Nationalsozialsozialismus, in dessen Herrschaftszeit ein Großteil seiner Kindheit und Jugend fielen, sowie ein „Produkt der Reeducation“, als das er (1981c, S. 513) sich ironisch selbst bezeichnet (Wiggershaus 2004, S. 7–17; Müller Doohm 2008, S. 11–16). Dieser Vorgeschichte entsprechend ist sein Wirken von den ersten Veröffentlichungen bis heute darauf gerichtet, Demokratie und Menschenwürde gegen autoritäre Bedrohungen zu verteidigen. Dies tut er nicht, indem er Nationalsozialismus und Totalitarismus ins Zentrum seiner Arbeit stellt. Vielmehr ist sein Denken durch das Bestreben geprägt, den normativen Kern der Demokratie theoretisch zu rekonstruieren und publizistisch zu verteidigen. Diesen Kern verortet er in den befreienden und rationalisierenden Potenzialen öffentlicher Kommunikation und Argumentation (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 1–3).

Habermas wuchs im Bergischen Land auf und studierte von 1949 bis 1954 in Göttingen, Zürich und Bonn, hauptsächlich Philosophie. 1954 wurde er in Bonn von Erich Rothacker und Oskar Becker mit einer Arbeit über den Schelling’schen Idealismus promoviert (Wiggershaus 2004, S. 18–37; Müller Doohm 2008, S. 17–23). Schon in dieser Zeit fand er erstmals breitere Beachtung als öffentlicher Intellektueller, als er Martin Heiddegger in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für dessen Haltung zum Nationalsozialismus kritisierte (Müller Doohm 2008, S. 21–22; Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 3). Ebenfalls in der Bonner Zeit lernte er Karl-Otto Apel kennen, mit dem gemeinsam er später das Konzept kommunikativer Rationalität und die darauf aufbauende Diskursethik entwickelte (Wiggershaus 2004, S. 26–27; Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 10).

Nach seiner Promotion arbeitete er als Journalist und traf im Rahmen dieser Tätigkeit Theodor W. Adorno, der Habermas ans Frankfurter Institut für Sozialforschung holte und dort zu seinem Assistenten machte (Wiggershaus 2004, S. 35–41). In dieser Zeit nahm Habermas neben sozialphilosophischen zunehmend auch empirisch-sozialwissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse auf. 1961 habilitierte er sich mit der Arbeit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) – dies musste aufgrund eines Konflikts mit dem Frankfurter Institutsdirektor Max Horkheimer in Marburg bei Wolfgang Abendroth geschehen. Noch im selben Jahr wurde Habermas außerordentlicher Professor an der Universität Heidelberg und drei Jahre später – als Horkheimers Nachfolger – ordentlicher Professor in Frankfurt (Wiggershaus 2004, S. 38–71; Müller Doohm 2008, S. 23–31).

In den 1960ern brachte sich Habermas in den „Positivismusstreit“ der deutschen Soziologie ein. Seine unter anderem in diesem Streit entwickelten Positionen zu Erkenntniskritik und Wissenschaftstheorie sind in „Erkenntnis und Interesse“ (1968) ausgeführt. Am Ende des Jahrzehnts diskutierte Habermas intensiv mit Vertreter*innen der Studierendenbewegung. Diese rezipierten Habermas’ Texte, jedoch bestanden auch erhebliche Konflikte, insbesondere in Hinblick auf Klassenanalyse und Aktionsformen. Inhaltlich prägend für Habermas’ Werk war die Kooperation mit seinem damaligen Assistenten Claus Offe (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 6–7; Wiggershaus 2004, S. 71–97; Müller Doohm 2008, S. 31–39).

1971 wechselte Habermas als Ko-Direktor ans Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Zur selben Zeit nahm er die folgenreichste Umstellung seines Theorieprogramms vor: Er vollzog einen linguistic turn und versucht seither, die kritische Theorie der Gesellschaft kommunikationstheoretisch zu begründen (Lafont 2009). Um diese Begründung auszuarbeiten, begab sich Habermas in intensive Diskussionen in sprachphilosophischen und kommunikationstheoretischen Kontexten. In Hinblick auf die Soziologie begann das Jahrzehnt für ihn mit einem erneuten Theorie- und Methodenstreit, dieses Mal mit Niklas Luhmann, dessen Systemtheorie Habermas als technokratisch kritisierte (Wiggershaus 2004, S. 98–117; Müller Doohm 2008, S. 39–45). Die Diskussionen und Arbeiten der 1970er bilden die Grundlage für sein gesellschaftstheoretisches Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981a, b, im Folgenden TkH).

1983 kehrte Habermas nach Frankfurt zurück, wo er Professor für Sozial- und Geschichtsphilosophie wurde und bis zu seiner Emeritierung 1994 blieb (Wiggershaus 2004, S. 71–97; Müller Doohm 2008, S. 31–94). Theoretisch verschob er seinen Fokus nun hin zu Fragen der praktischen Philosophie – sein politisch-theoretisches und rechtsphilosophisches Hauptwerk „Faktizität und Geltung“ (1992) erschien Anfang der 1990er. Als öffentlicher Intellektueller brachte er sich weiterhin in prägende Kontroversen ein. Die gilt in besonders prominenter Weise für den 1986 und 1987 geführten „Historikerstreit“ über das geschichtspolitische Selbstverständnis der Bundesrepublik (Wiggershaus 2004, S. 122–123; Müller-Doohm 2008, S. 48–49).

Bis zuletzt bleibt Habermas aktiv als Theoretiker und politischer Intellektueller, insbesondere auf den Themenfeldern Globalisierung, Nationalismus, Internationalisierung des Rechts, Krieg und Frieden, europäische Integration, Religionspolitik, Bioethik und – in seinem wohl letzten monumentalen Werk – Philosophiegeschichte (Habermas 2019; Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 9–14; Müller-Doohm 2008, S. 54–64; Wiggershaus 2004, S. 131–139).

2 Inhalt des Textes

Das Habermas’sche Projekt insgesamt und die TkH im Besonderen können als Versuch einer kritisch-theoretischen Ehrenrettung von Moderne und Aufklärung verstanden werden. Das aufklärerische Ideal einer Vernunft, die es nicht nur erlaubt, theoretisch mit universalistischem Anspruch zu ergründen, was wahr ist, sondern die auch praktisch dazu beiträgt, die Gesellschaft so einzurichten, dass ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung möglich wird, war im 20. Jahrhundert in vielfältiger Weise unter Druck geraten: historisch durch die Erfahrungen von Kolonialismus und Dekolonisierung sowie durch Nationalsozialismus und Stalinismus, philosophisch durch kritische Theorie, Systemtheorie sowie verschiedene Vernunftkritiken in der Tradition Nietzsches. Habermas’ Arbeiten zielen darauf, die Idee von Aufklärung und Vernunft zu retten, weil er darin die einzig mögliche Grundlage für Demokratie und Selbstbestimmung sieht. Kritisch-theoretisch ist diese Ehrenrettung, weil er die Katastrophen der Moderne weder ignoriert noch als notwendige Reibungsverluste abtut. Vielmehr erklärt er sie als Folgen einer einseitigen Rationalisierung. In der real existierenden Moderne seien zwar die Potenziale der auf Naturbeherrschung zielenden technisch-instrumentellen Rationalität weitgehend realisiert worden, die über technisch-instrumentelle Fragen hinaus auf eine freie und selbstbestimmte Gesellschaft zielenden Potenziale von Rationalität dagegen nicht (Strecker 2009a, S. 220; Iser und Strecker 2012, S. 10–15). Damit nimmt Habermas ein Motiv der kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Herbert Marcuses auf. Allerdings haben diese die Möglichkeit eines weitergehenden, nicht bloß instrumentellen Begriffs von Rationalität zwar immer wieder behauptet, aber nie positiv ausbuchstabiert. Dies zu erreichen, ist Habermas angetreten (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 5; Lafont 2009, S. 176).

2.1 Kommunikative Rationalität

Stark vereinfachend lässt sich Habermas’ Argumentation in dem zwei Bände und knapp 1200 Seiten umfassenden Werk als Abfolge von vier Argumentationsschritten fassen (s. z. B. Strecker 2009a). Der erste Schritt besteht in der Darlegung eines Vernunftbegriffs, der weder kulturell relativ noch bloß instrumentell ist (Strecker 2009a, S. 222). Diesen findet Habermas in der Struktur der kommunikativen Praxis, deren Kern das Erheben von kritisierbaren Geltungsansprüchen sei. Wer spreche, erhebe damit stets implizite oder explizite Geltungsansprüche. Habermas unterscheidet drei Geltungsansprüche, denen jeweils eine eigene „Welt“ entspricht: propositionale Wahrheitsansprüche beziehen sich auf Sachverhalte der objektiven Welt („Das Licht der Ampel ist rot.“); normative Richtigkeitsansprüche beziehen sich auf das Gelten oder die Legitimität von Regeln in der intersubjektiven bzw. sozialen Welt („Es ist falsch, bei Rot über eine Ampel zu gehen.“); expressive Wahrhaftigkeitsansprüche beziehen sich auf die subjektive Welt, also die inneren Zustände des sprechenden Subjekts („Hier rumzustehen, nervt mich.“). Wenn jemand solche Geltungsansprüche erhebe, könnten diese von anderen akzeptiert oder hinterfragt und kritisiert werden. Letzteres impliziere die Möglichkeit eines klärenden Diskurses. Wer sich an Kommunikation beteilige, müsse diese Möglichkeit von Behauptung, Kritik und Rechtfertigung stets voraussetzen – ganz unabhängig von kulturellem Hintergrund oder anderen Partikularitäten. In dieser universellen, in die Sprache eingelassenen Struktur verortet Habermas Rationalität: Je freier Geltungsansprüche formuliert, kritisiert und gerechtfertigt werden könnten, desto rationaler seien die Verhältnisse (Habermas 1981a, S. 25–44, 114–151; Lafont 2009, S. 177–180; Iser und Strecker 2012, S. 68–80).

2.2 Kommunikatives Handeln

Im zweiten Schritt zeigt Habermas, dass kommunikative Rationalität einen festen Platz in der sozialen Praxis hat, wofür er eine Theorie bzw. eine Typologie sozialen Handelns formuliert (Strecker 2009a, S. 223–225). Er unterscheidet zwei Handlungsorientierungen bzw. zwei Typen sozialen Handelns. Auf der einen Seite steht das erfolgsorientierte, strategische Handeln, auf der anderen das verständigungsorientierte, kommunikative Handeln. Erfolgsorientiertes Handeln zielt darauf, einen bestimmten Effekt zu erzielen – sei es, indem man mit einem Hammer auf einen Nagel schlägt, damit dieser in der Wand befestigt ist, sei es, indem man eine andere Person anspricht, um bei dieser eine bestimmte von vornherein als Erfolg definierte Handlung anzustoßen (z. B. durch höfliche Frage, Befehl, Überredung oder Manipulation). Verständigungsorientiertes Handeln zielt dagegen darauf, mit dem Gegenüber in ergebnisoffener Aushandlung einen Konsens zu erzielen, ohne dass ein spezifisches Ziel als Erfolg definiert wäre. Solche Aushandlungen können wiederum auf Zustände der äußeren Welt („Ist die Ampel rot?“), auf Normen („Wäre es richtig, bei Rot über die Kreuzung zu gehen?“) oder auf innere Zustände („Bist Du wirklich genervt davon hier herumzustehen?“) zielen – wobei die im letzten Punkt angesprochene subjektive Welt nur für je eine Person direkt zugänglich und deshalb schwerer zu diskutieren ist (Habermas 1981a, S. 367–452; Iser und Strecker 2012, S. 80–88).

Habermas spricht dem kommunikativen Handeln Priorität zu: Verständigung wohne „der menschlichen Sprache“ nicht nur als Möglichkeit, sondern „als Telos […] inne“ (Habermas 1981a, S. 387), sei also ihre Bestimmung. Strategisches Handeln betrachtet er dagegen als „parasitär“ (Habermas 1981a, 388). Gemeint ist, dass zwar die Möglichkeit bestehe, Sprache zu rein instrumentellen Zwecken einzusetzen. Dieser strategische Sprachgebrauch müsse jedoch immer Strukturen der Verständigung voraussetzen. Das Umgekehrte gelte nicht (Lafont 2009, S. 179; Strecker 2009a, S. 224).

2.3 Kommunikativ rationalisierte Lebenswelten und selbstgesteuerte Subsysteme

Im dritten Schritt seiner Argumentation legt Habermas dar, welche Rolle kommunikative Rationalität und kommunikatives Handeln in der Gesellschaft und ihrer Entwicklung spielen (Strecker 2009a, S. 225).

Dafür betrachtet er Gesellschaft zunächst aus der Teilnehmendenperspektive, also so, wie sie den Mitgliedern der Gesellschaft selbst erscheint: als Lebenswelt, in der sie handeln. Kommunikatives Handeln könne nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern sei auf Kontextbedingungen angewiesen. Habermas nennt drei Komponenten der Lebenswelt: erstens Kultur, verstanden als der Schatz geteilten Wissens über die Welt; zweitens GesellschaftFootnote 1, verstanden als die Summe der sozialen Normen; drittens Persönlichkeit, verstanden als die Kompetenzen und Dispositionen der Subjekte. Im Regelfalle bilde die Lebenswelt die Grundlage von kommunikativem Handeln, verbleibe aber selbst im Hintergrund. Jedoch könnten Aspekte der Lebenswelt auch Gegenstand von Kommunikation und Kritik werden. Durch solche kommunikative Kritik könne die Lebenswelt in allen Bereichen verändert und rationalisiert werden (Habermas 1981b, S. 107–228).

Eine Perspektive, die Gesellschaft ausschließlich als Lebenswelt betrachtete, sei jedoch einseitig und außerstande, gesellschaftliche Dynamiken zu erfassen – zudem könne eine allein durch Kommunikation integrierte Gesellschaft aufgrund der hohen Dissensrisiken kaum stabil sein. Daher sei es notwendig, Gesellschaft auch aus der Beobachtendenperspektive zu betrachten. Dann erscheine sie nicht als Lebenswelt, in der Subjekte handeln, sondern als ein System, das sich selbst und die eigenen materiellen Grundlagen selbst reproduzieren muss. Die Mechanismen dieser Selbstreproduktion, wie sie aus der Beobachtendenperspektive erkannt werden könnten, seien für die Subjekte aus ihrer Teilnehmendenperspektive oftmals intransparent. Mehr noch: Die Selbsterhaltungsanforderungen setzten der Lebensweltrationalisierung Grenzen. Diese könne immer nur so weit voranschreiten, dass es die materielle Reproduktion nicht gefährde (Habermas 1981b, S. 168–181, 217–228, 279).

Basierend darauf entwirft Habermas ein Verständnis sozialer Evolution, in welcher der Übergang zur Moderne einen Durchbruch der Lebensweltrationalisierung ermögliche. Moderne Gesellschaften zeichneten sich dadurch aus, dass die materielle Reproduktion hier durch zwei Subsysteme organisiert sei. Das ökonomische Subsystem der kapitalistischen Wirtschaft und das politische Subsystem von modernem Staat, Recht und Verwaltung. Die Handlungskoordination werde in der modernen Ökonomie durch Marktmechanismen und das Medium Geld, in der modernen Politik durch Rechtsnormen, Weisungsbefugnis und das Medium Macht erreicht. Indem die Subsysteme die materielle Reproduktion auf diese Weise hocheffektiv organisierten und die lebensweltliche Kommunikation von dieser Aufgabe entlasteten, ermöglichten sie ein nie da gewesenes Maß der Lebensweltrationalisierung. Dabei zeichneten sich moderne Lebenswelten durch eine Differenzierung verschiedener Sphären (z. B. Wissenschaft, Kunst etc.) aus, in denen der Austausch von Geltungsansprüchen zugleich auf einen bestimmten Bereich begrenzt und innerhalb dieses Bereiches entgrenzt werde (Habermas 1981b, S. 229–293)

2.4 Verdrängte Kommunikation als Pathologie

Damit sind alle Grundlagen für den vierten Schritt gelegt, in dem Habermas seine Zeit- und Krisendiagnose formuliert, die aus einer Verschiebung des Verhältnisses von Subsystemen und Lebenswelt resultiere. Subsysteme, in denen strategisches Handeln dominiere, seien besonders gut geeignet, die materielle Reproduktion zu organisieren. Die symbolische Reproduktion könne dagegen nur pathologiefrei gewährleistet werden, wenn sie lebensweltlich-kommunikativ vonstattengehe. Jedoch erwiesen sich die Subsysteme als expansiv: ihre Regulationsmechanismen (Markt, Geld, Recht und administrative Macht) drängen in immer mehr vormals lebensweltlich integrierte Bereiche (Familie, politische Öffentlichkeit, Bildungssystem) ein. Kommunikatives Handeln werde aus diesen Bereichen verdrängt und durch strategisches Handeln ersetzt. Dies verursache Pathologien und beschädige die Fähigkeit der Gesellschaft, Sinn zu generieren. Diese Probleme würden zwar durchaus wahrgenommen – gegen einzelne Phänomene richte sich der Widerstand sozialer Bewegungen. Jedoch seien die Subjekte außerstande, Ursache, Ausmaß und Zusammenhang dieser Probleme zu erfassen und einen wirksamen Widerstand gegen die Lebensweltkolonialisierung zu organisieren, solange sie in ihrer lebensweltorientierten Teilnehmendenperspektive verblieben. Dies sei nur durch eine Hinzuziehung der nicht intuitiven sozialwissenschaftlichen Perspektiven möglich (Habermas 1981b, S. 449–54; Strecker 2009a, S. 227–231; Iser und Strecker 2012, S. 108–118).

3 Bezug zum Gesamtwerk des Autors

Habermas’ Gesamtwerk ist umfangreich und vielfältig, aber in all seinen Phasen doch von einem Leitmotiv geprägt. Dieses besteht darin, dass er einerseits das rationalisierende und befreiende Potenzial der Kommunikation betont und andererseits darlegt, dass die Realisierung dieses Potenzials durch die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gehemmt sei (Iser und Strecker 2012, S. 10–15). Was sich im Laufe von Habermas’ Gesamtwerk deutlich verschiebt, ist die Art, auf die er beide Seiten fasst und ihr Verhältnis beschreibt. Tendenziell wird sein Blick auf die Verhältnisse dabei zunehmend optimistischer (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 8–9). Dies lässt sich anhand der Argumentation in drei von Habermas’ wichtigsten Werken darlegen.

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) ist durch eine ideologiekritische Perspektive geprägt. Aus dieser betrachtet Habermas die politische Öffentlichkeit als Ideologie: Die von liberalen Philosoph*innen vertretene These, der zufolge der freie Austausch von Argumenten in der politischen Öffentlichkeit rationalisierende und befreiende Potenziale berge, sei zwar wohlbegründet. Die Einbettung dieser Idee sowie der Öffentlichkeit selbst in kapitalistische Verhältnisse führe aber notwendig zu ihrer Unterminierung und zur weitgehenden Nicht-Realisierung ihrer Potenziale – in Früh- und Spätkapitalismus auf je eigene Art (Iser und Strecker 2012, S. 58–63; Fraser 2009).

In der 19 Jahre später erschienenen TkH ist der Blick auf die herrschenden Verhältnisse bereits deutlich optimistischer. Wie eben skizziert, geht Habermas nun davon aus, dass die beiden Subsysteme – kapitalistische Ökonomie und moderner Staat – durch ihre effiziente Organisation der materiellen Reproduktion einen nie da gewesenen Grad der Lebensweltrationalisierung ermöglicht hätten. Zum Problem werden diese Institutionen erst, wenn sie „kolonialistisch“ auf die lebensweltlichen Sphären der symbolischen Reproduktion übergriffen und dort Kommunikation verdrängten.

Nach der Veröffentlichung der TkH und der anschließenden Rückkehr nach Frankfurt in den 1980ern verschiebt sich Habermas’ Fokus auf die Entwicklung einer diskursethisch begründeten praktischen Philosophie. Im kritischen Austausch mit Apel entwickelte er ein diskursethisches Programm (Kettner 2009). Dabei nutzt er das auch in der TkH vertretene Konzept kommunikativer Rationalität als Grundlage, um eine Ethik zu formulieren. Diese ähnelt der kantischen Ethik; weil die Grundlage jedoch kommunikationstheoretisch ist, treten an die Stelle des kategorischen Imperativs das Diskursprinzip D und der Universalisierungsgrundsatz U. Diese besagen, dass eine Norm gültig sei, wenn ihr alle betroffenen Personen in einem nach bestimmten Maßgaben strukturierten diskursiven Verfahren zustimmen könnten (Forst 2009; Biebricher 2005, S. 153–206). Dieses Programm baut er in seinem politisch-theoretischen Hauptwerk „Faktizität und Geltung“ (1992) zu einer Diskurstheorie des Rechts und einer deliberativen Demokratietheorie aus (Möllers 2009; Iser & Strecker 2012, S. 118–133; Biebricher 2005, S. 259–290). Hier zeigt sich, dass sein Blick auf die herrschenden Verhältnisse nochmals optimistischer geworden ist. Denn dieses Werk hat die Form einer rationalen Rekonstruktion, in der Habermas die Konstitution liberaler Demokratien in der Sprache seiner eigenen normativen Theorie begründend nachvollzieht. Die so theoretisierte politische Ordnung steht in dieser Konzeption zwar immer noch vor Problemen, jedoch formuliert Habermas hier weder eine grundlegende Ideologiekritik noch eine allgemeine Krisendiagnose. Auch im Detail zeigt sich der gewachsene Optimismus: War Verrechtlichung in der TkH noch ein Beispiel für eine pathologische Kolonialisierung der Lebenswelt, erscheint das Recht nun eher als Ausdruck oder Kondensat kommunikativer Rationalität.

Das heißt nicht, dass Habermas seit den 1980ern „unkritisch“ geworden wäre. In seinen stärker gegenstandsbezogenen und politischen Schriften erhebt er weiterhin kritisch Einspruch und diagnostiziert Krisen. Dies findet aber nun eher außerhalb seiner systematisch-theoretischen Werke statt (Müller-Doohm 2008, S. 54–64; Wiggershaus 2004, S. 131–139).

Weil Habermas seit der TkH keine systematischen gesellschaftstheoretischen Texte mehr veröffentlicht hat, bleibt diese gewissermaßen bis heute die „gültige“ Version seiner Gesellschaftstheorie. Seine späteren politisch-theoretischen Schriften sind bei allen Änderungen in Perspektive und Details immer noch auf der Grundlage dieser Theorie formuliert. So hebt das 2012 veröffentlichte, die Rolle von Religion in demokratischen Verfassungsstaaten diskutierende Buch Nachmetaphysisches Denken II mit einer Darstellung der „Lebenswelt als Raum der Gründe“ (2012, S. 8) an, die im Wesentlichen seinen Darlegungen aus den frühen 1980ern entspricht. Was sich in diesen späten Schriften verändert, ist die Einschätzung der Rolle von Religion: In den frühen 1980ern war Habermas’ Perspektive noch säkularisierungstheoretisch, im 21. Jahrhundert spricht er von einer „postsäkularen Gesellschaft“ (Habermas 2012, S. 308), um auf die fortgesetzte Relevanz von Religion zu verweisen, der er Positives abzugewinnen weiß.

Zu erwähnen ist noch eine Weiterentwicklung der Theorie kommunikativer Rationalität, die Habermas in „Wahrheit und Rechtfertigung“ (2003) vorlegt. Hier revidiert er einige der Überlegungen aus der TkH, z. B. indem er nun zusätzlich zur Kategorie des verständigungsorientierten Handelns noch die des einverständnisorientierten Handelns einführt (Lafont 2009).

4 Wirkungsgeschichte und Kritik

Die Wirkungsgeschichte der TkH beginnt schon vor ihrer Veröffentlichung, nämlich mit intensiven Diskussionen diverser Vorarbeiten im Laufe der 1970er-Jahre. Die Ergebnisse dieser Diskussionen in Soziologie, Philosophie und Kommunikationstheorie wurden von Habermas in seinem Hauptwerk verarbeitet, die Reaktionen auf dessen Veröffentlichung sind teils schlicht Fortsetzungen der älteren Diskussionen (Strecker 2009a) – und in den 40 Jahren seitdem werden sie in stets neuen Runden fortgeführt. Im Folgenden gehe ich zunächst auf die Kritiken an verschiedenen Aspekten der TkH (Rationalitätstheorie, Handlungstheorie, Gesellschaftstheorie) ein, anschließend diskutiere ich die spezifisch kommunikationswissenschaftliche Rezeption und schließlich das Potenzial des Habermas’schen Ansatzes für die Erforschung von Digitalisierungsprozessen.

Der Darstellung der eigentlichen Diskussionen ist vorwegzuschicken, dass beträchtliche Teile der Habermasrezeption auf Missverständnissen basieren. Einige sind so verbreitet, dass sie hier zu erwähnen sind. Sie finden sich sowohl bei polemischen Kritiker*innen als auch bei manchen, die sich affirmativ auf seine Texte beziehen. Das lässt sich insbesondere an der Konzeption kommunikativer Rationalität darlegen. Einige missverstehen Habermas so, als enthalte sein Werk ein moralisches Gebot, möglichst häufig möglichst herrschaftsfrei zu kommunizieren und verständigungsorientiert zu handeln, weil dies ethisch gut sei und zu den besten Ergebnissen führe. Dies geschieht teils affirmativ, wenn z. B. Pädagog*innen mit (zweifelhafter) Referenz auf Habermas Konzepte herrschaftsfreier Erziehung entwerfen (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 10); es geschieht aber auch polemisch, wenn Kritiker*innen Habermas aufgrund seiner vermeintlichen Naivität der Lächerlichkeit preisgeben wollen. Jedoch formuliert Habermas nirgends ein Gebot, verständigungsorientiert zu handeln; die Diskursethik ist keine Ethik für den guten Diskurs, sondern eine durch kommunikationstheoretische Überlegungen begründete Ethik. Wieder andere versuchen, Habermas gegen solche Missverständnisse zu retten, indem sie behaupten, herrschaftsfreie Kommunikation diene bei Habermas nur als regulatives Ideal, das zwar nie erreicht werden, aber dennoch der Orientierung dienen könne. Auch dies ist jedoch ein Missverständnis, weil Habermas in seinen „reifen“ Texten Verständigungsorientierung und kommunikative Rationalität gar nicht als Ideale betrachtet. Vielmehr will er aufzeigen, dass Menschen schlichtweg nicht anders können, als diese Rationalität in ihrem alltäglichen Handeln vorauszusetzen. Es handelt es sich nicht um ein Ideal oder eine Richtschnur, sondern um eine in die soziale Realität eingelassene unhintergehbare normative Struktur (Lafont 2009).

Jedoch sind freilich nicht alle Kritiken auf Missverständnisse zurückzuführen. Viele beruhen auf begründet abweichenden Positionen oder auf klar erkennbaren Leerstellen und Problemen in Habermas’ Werk.

Eine Gruppe von Kritiken bezieht sich auf die Interpretationen anderer Autor*innen, die Habermas im Laufe des Buches vorlegt (z. B. Aboulafia 2017). Denn mehr noch als viele andere seiner Werke besteht die TkH aus einer Reihe von kritischen Lektüren anderer Theorien, die Habermas jeweils in Hinblick auf seine Fragestellung rekonstruiert und kritisiert, um dann das, was nach der Kritik übrig bleibt, in seine eigene Theorie zu verbauen (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 4). Spezialist*innen für die jeweiligen Theorien zeigen sich oftmals nicht einverstanden mit Habermas’ Lesarten. Dies liegt teils daran, dass seine Interpretationen zwar dem Anspruch nach immanente Kritiken sind, letztlich aber doch auf seine eigenen Fragen zugeschnitten bleiben, sodass sie dem Ansinnen der behandelten Autor*innen nicht immer gerecht werden. Habermas’ Kritiker*innen können oft zeigen, dass seine Interpretationen nur bedingt als verlässliche Rekonstuktionen der jeweiligen Werke geeignet sind. Das sagt jedoch wenig über die Validität der Theorie, die Habermas auf dieser Grundlage formuliert.

Am intensivsten diskutiert wurden die philosophischen und rationalitätstheoretischen Aspekte der TkH (Strecker 2009a, S. 221–223; Lafont 2009, S. 186; Iser und Strecker 2012, S. 179–183). Diese Kritik nimmt viele Formen an, derer hier vier genannt seien: Erstens wird kritisiert, dass Habermas den Vernunftbegriff zwar ganz richtig in der Kommunikation gründe, die normativen Implikationen aber eher noch unterschätze – dies tut insbesondere Apel, der diese Konzepte im Austausch mit Habermas entwickelt hat, ihnen aber stärkeren, transzendentalen Stellenwert einräumt (Apel 1973a, b; Kettner 2009); zweitens, dass Habermas normative Konstruktion einige keinesfalls selbstverständliche Bedingungen kommunikativen Handelns übersehe, nämlich insbesondere die wechselseitige Anerkennung der Subjekte, weshalb einer Theorie der kommunikativen Rationalität eine Theorie der Anerkennung vorausgehen müsse (Honneth 1994); drittens, dass ein normativ anspruchsvoller Vernunftbegriff zwar möglich und notwendig sei, dieser aber nicht in der Kommunikation, sondern – ganz traditionell – in den Subjekten und ihrem Bewusstsein verankert werden müsse (Schnädelbach 1992); viertens schließlich, dass Habermas’ Rationalismus wie jeder Rationalismus unhaltbar sei – mit kommunikationstheoretischen Mitteln lasse sich ebensowenig wie mit anderen ein Vernunftbegriff konstruieren, für den man universalistische Ansprüche anmelden und dem man die Lasten normativer Begründung aufbürden könne (z. B. Rorty 1996). Habermas hat seinen Vernunftbegriff im Wesentlichen gegen diese Kritiken verteidigt (z. B. Habermas 2017), ohne damit alle Kritiker*innen überzeugen zu können. Mit dieser Position hat er schulbildend gewirkt, sodass es z. B. in Philosophie und politischer Theorie heute zahlreiche „Habermasianer*innen“ gibt, die verschiedene Varianten seiner Position vertreten – sowohl in Deutschland als auch international (Corchia et al. 2019). Auf vielen Feldern bildet sein Werk eine Referenzgröße, zu der man sich – sei es positiv oder negativ – verhalten „muss“.

Die Kritiken der Handlungstheorie zielen unter anderem auf die Frage, ob die Unterscheidung zwischen strategischem und verständigungsorientiertem Handeln überhaupt als Grundlage einer Typologie sozialen Handelns geeignet ist, sowie auf Habermas’ These vom verständigungsorientierten Handeln als Originalmodus der Sprache (Iser und Strecker 2012, S. 179–183; Strecker 2009a, S. 224–225).

Als Gesellschaftstheorie von System und Lebenswelt wurde die TkH weniger einflussreich denn als Rationalitätstheorie – dies gilt sowohl für die Kritik als auch für die affirmative Rezeption (Strecker 2009a, S. 231). Einzelne Aspekte der Theorie wurden jedoch zumindest in den Jahren unmittelbar nach der Veröffentlichung intensiv diskutiert. Drei Kritikpunkte lassen sich anhand feministischer Kritiken (Meehan 1995) darlegen: Erstens verweisen (nicht nur) feministische Kritiker*innen darauf, dass Habermas’ Blick auf die Lebenswelt allzu harmonisierend sei (Fraser 1996). Diese erscheine in seiner Darstellung als ein Raum von Freiheit und Kommunikation; tatsächlich sei sie jedoch in hohem Maße durch Macht, Ausschlüsse und Gewalt geprägt. Dies gelte insbesondere für die von Habermas der Lebenswelt zugerechneten Sphäre der Familie, die aus feministischer Perspektive als zentraler Ort männlicher Herrschaft gilt. Habermas’ Verteidigung gegen diesen Vorwurf fiel zunächst knapperweise so aus, dass er sich der Vermachtung der Lebenswelt sehr wohl bewusst sei und sie nicht in Abrede stelle, es in der TkH aber um anderes gehe (Habermas 1984, S. 372; Strecker 2009a, S. 227–229).

Zweitens problematisieren (nicht nur feministische) Kritiker*innen die Art und Weise, auf die Habermas die Grenze zwischen System und Lebenswelt zieht. Nach seinem Modell sind die selbstorganisierten Subsysteme bestens geeignet die materielle Reproduktion (z. B. die Produktion von Autos) zu organisieren, die symbolische Reproduktion (z. B. die Erziehung von Kindern) könne dagegen nur durch kommunikatives Handeln in lebensweltlichen Zusammenhängen pathologiefrei gewährleistet werden und sei gefährdet, sobald Systemmedien in die entsprechenden Sphären eindrängen. Fast alles an diesen Festlegungen ist fragwürdig: Ist die Erziehung von Kindern nicht auch materiell? Ist die Produktion von Autos nicht auch symbolisch? Wird Kindererziehung wirklich schlechter oder gar pathologisch, wenn sie rechtlich geregelt in staatlich verwalteten oder kommerziell betriebenen Einrichtungen vonstattengeht? Lässt sich die moderne Kleinfamilie als Teil einer Lebenswelt fassen, die sich kommunikativ rationalisieren konnte, weil die materielle Reproduktion durch die Subsysteme so gut funktioniert? Indem feministische Kritik (z. B. Fraser 1996) diese und weitere Probleme anspricht, verweist sie zugleich auf ein breiteres Grundproblem in Habermas’ Umgang mit System und Lebenswelt. Er führt ihren Unterschied zunächst als Resultat zweier unterschiedlicher Perspektiven auf Gesellschaft ein: aus der Teilnehmendenperspektive erscheine sie als Lebenswelt, aus der Beobachtendenperspektive als System. Später im Buch werden daraus dann unterschiedliche Sphären, denen auch noch unterschiedliche Funktionen zugeordnet werden (Strecker 2009a, S. 227; Schnädelbach 2017).

Drittens melden (nicht nur feministische) Kritiker*innen daran anknüpfend Zweifel an der Rolle an, die Habermas den neuen sozialen Bewegungen zukommen lässt (Cohen 1996). Deren Projekt sei kein ungerichteter Widerstand gegen das Eindringen der Systemmedien Recht und Geld in moderne Lebenswelten. Im Gegenteil stritten einige dieser sozialen Bewegungen gerade für eine Mobilisierung des Rechts, um informelle Macht- und Gewaltverhältnisse in der Privatsphäre einzuhegen.

Aber nicht nur für die Konzeptionalisierung der Lebenswelt und ihres Verhältnisses zu den Subsystemen, auch für die Darstellung des politisch-ökonomischen Systems wurde Habermas kritisiert. Dies taten insbesondere linke bzw. marxistische Kritiker*innen, die argumentieren, dass man die kapitalistische Ökonomie verharmlose, wenn man sie als neutrales Funktionssystem erfasse (Strecker 2009a, S. 226–227). Dadurch werde sowohl der Aspekt der Klassenherrschaft als auch die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus ausgeblendet. Habermas’ lakonisch-ironische Erwiderung: „Geben wir doch unserem marxistischen Herzen einen Stoß: er war ganz erfolgreich, der Kapitalismus, wenigstens im Bereich der materiellen Reproduktion, und ist es immer noch“ (Habermas 1985, S. 194). Habermas’ Perspektive auf politische Ökonomie war stark durch den keynesianischen Steuerungs-Optimismus der 1960er- und 1970er-Jahre geprägt, mit dem der Glaube verbunden war, ökonomische Krisen könnten durch staatliche Maßnahmen effektiv verhindert werden. Entsprechend vertrat er schon in den 1970ern die These, dass gesellschaftliche Krisen nunmehr eher als politische Krisen – z. B. Legitimationskrisen – aufträten (Habermas 1973). Wie Wolfgang Streeck (2013) nach der Großen Rezession 2008/2009 argumentierte, erwies sich dieser Optimismus als verfrüht – und unterschätzt die Gegenwehr des Kapitals als Klasse.

Obwohl das ganze Buch auf die Zeitdiagnose von der Kolonialisierung der Lebenswelt hin zuläuft, hat gerade diese wenig Langzeitwirkung entfaltet – wenngleich sie als Schlagwort eine gewisse Verbreitung gefunden hat. In der kritisch-theoretischen Tradition, in welcher Habermas sich bewegt, ist es naheliegend, die Probleme der Zeit in durch eine Dominanz instrumenteller Rationalität verursachten Phänomenen der Verdinglichung und Entfremdung zu suchen (Strecker 2009a, S. 227–228). Jedoch scheint Habermas’ Darstellung dieser Problematik als Lebensweltkolonialisierung nicht gut zu Problemwahrnehmungen innerhalb der Gesellschaft zu passen. Dies steht zwar in gewissem Maße im Einklang mit den Argumenten dieser Theorie – schließlich soll sich die Lebensweltkolonialisierung gerade dadurch auszeichnen, dass sie hinter dem Rücken der Subjekte vonstattengeht und für diese unsichtbar ist. Jedoch kommt man auch in voller Kenntnis von Habermas’ Theorie und mit dem Blick der soziologischen Beobachtung nicht umhin festzustellen, dass sich die prägenden Umbrüche und Krisen der letzten Jahrzehnte nur sehr bedingt als Lebensweltkolonialisierung fassen lassen. Einige der Transformationen und Krisen waren deutlich politisch (Zuspitzung des Ost-West-Konflikts und Friedensbewegung, Zusammenbruch des Ostblocks, 9/11 und War on Terror), einige deutlich ökonomisch (Globalisierung, Neoliberalisierung, Finanzkrise und Große Rezession), einige in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen verortet (Klimakrise, Covid-19-Pandemie). Zwar stehen dem auch Prozesse gegenüber, die sich als Lebensweltkolonialisierung beschreiben lassen – dies gilt insbesondere für die zunehmende Organisierung immer neuer Lebensbereiche nach Marktlogiken (Brunkhorst und Müller-Doohm 2009, S. 11), die sich entgegen der Stoßrichtung der Habermas’schen Kritik verschärfte, nachdem der Keynesianismus als leitende ökonomische Doktrin durch die Neoklassik abgelöst wurde (Strecker 2009a, S. 231). Jedoch scheinen dies nicht die dominanten Krisen und Pathologien der Zeit zu sein – und zudem sind diese Prozesse den davon betroffenen Subjekten durchaus bewusst. Insgesamt scheint die von Habermas mit dem Begriff der Lebensweltkolonialisierung verbundene These einer verdrängten Kommunikation einfach zu überspitzt, um überzeugen zu können (Iser 2008, S. 137–151). Ein anderer Forschungsstrang versucht, dieses Problem zu umgehen, indem er einen in der TkH eher marginales Konzept aufgreift: Habermas spricht von der „Verständigungsform“. Damit bezeichnet er eine „systematische Einschränkung von Kommunikation“ (1981b, S. 278) in der Lebenswelt aufgrund des Verhältnisses zwischen System und Lebenswelt. Darauf basierend lässt sich mit einem Ausdruck von Thomas McCarthy (1989) eine „Kritik der Verständigungsverhältnisse“ formulieren. Damit verbunden ist das Konzept der systematisch verzerrten Kommunikation, das einige Autor*innen auf verschiedene Gesellschaftsbereiche anzuwenden versuchen (Bohman 2000; Strecker 2009b; Biskamp 2016).

Zwar galt die TkH schon zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung als Klassiker der Philosophie, Kommunikationstheorie und Gesellschaftstheorie und wurde intensiv diskutiert. Fragt man aber nach an ihr orientierter empirischer Forschung, erweist sie sich als eher steril. Die Forschung, die an Habermas anknüpft, um gegenwärtige Veränderungen der politischen Öffentlichkeit zu analysieren, bezieht sich eher auf das 20 Jahre ältere „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962). Diese Frühschrift ist zwar in Hinblick auf philosophische Begründung und theoretische Struktur weitaus weniger dicht, gerade das trägt aber dazu bei, dass sie weniger sperrig ist. Zudem gab es hier einen neuen Rezeptionsschub, als das Buch 1989 – also deutlich nach der TkH, aber zu einer Zeit, als die Debatten um die Bedeutung der Zivilgesellschaft Fahrt aufnahmen erstmals in englischer Übersetzung erschien (Fraser 2009).

Eine weitere Art, die Wirkungsgeschichte der TkH zu fassen, besteht in einer Genealogie der kritischen Theorie der Gesellschaft. Einer gängigen Darstellung zufolge stellen Adorno, Horkheimer, Marcuse und Benjamin die erste Generation kritischer Theorie, während Habermas die dominierende Figur der zweiten Generation sei. Darauf folge eine dritte und manchen Konzeptionen zufolge ein vierte Generation, die das Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft weitertreibe. Zu diesen folgenden Generationen kritischer Theorie, die an Habermas anknüpfen, können zum Beispiel Seyla Benhabib, Nancy Fraser, Helmut Dubiel, Axel Honneth, Rainer Forst und Hartmut Rosa gezählt werden. Zwar knüpfen sie alle an Habermas’ Werk an – auch an die TkH. Jedoch werden die inhaltlichen Verbindungen sowohl zwischen den drei Generationen als auch innerhalb der dritten Generation immer loser, die Abgrenzungen gegen andere Traditionen der Gesellschaftskritik immer unschärfer, sodass der Stammbaum zerfasert und die Sinnhaftigkeit einer solchen genealogischen Perspektive zweifelhaft erscheint.

In der Kommunikationswissenschaft ist das Habermas’sche Werk feste Referenzgröße. Die größte Relevanz haben dabei die Kommunikationstheorie und Öffentlichkeitstheorie (Beck 2020, S. 39–41, 115–122; Krallmann und Ziemann 2006, S. 281–308; Wessler 2018). Weil Habermas den Diskursbegriff mitgeprägt hat, bildet er auch in den diskursanalytischen Ansätzen der Fachmethodologie eine stete Referenz – jedoch bleiben für die Forschungspraxis normativ weniger anspruchsvolle, eher an Foucault denn an Habermas orientierte Ansätze in der Überzahl (Fraas und Pentzold 2016; Meyen et al. 2019, S. 133–168). Obwohl die normative Aufladung der Habermas’schen Kategorien oftmals kritisiert oder zurückgewiesen wird, erweist gerade sie sich doch immer wieder als besonders anregend (Karmasin et al. 2013): An Habermas orientierte normative Reflexionen können einerseits evaluativ vollzogen werden, etwa um die Qualität medialer Debatten zu diskutieren und diesbezügliche Verfalls- oder Fortschrittsdiagnosen zu begründen. Andererseits können sie auch präskriptiv angelegt sein, etwa als Grundlage für die Ethik des journalistischen Arbeitens oder für die Forderung nach medienpolitischen Maßnahmen, die eine lebendigere, offenere, demokratischere Öffentlichkeit ermöglichen könnten. Insgesamt gelten auch in der Kommunikationswissenschaft die eben gemachten Einschränkungen in Hinblick auf den Stellenwert der TkH. Zwar wird diese zu Recht als Habermas’ kommunikationstheoretisches Hauptwerk betrachtet, jedoch bringt sie als theoretisches Paradigma kaum empirische Forschung hervor. Das ist angesichts der unbestreitbaren theoretischen Sperrigkeit nachvollziehbar, jedoch kann man es auch als Aufgabe und Ansporn betrachten: Gerade weil die TkH ein kommunikationstheoretisches Schlüsselwerk ist, das nur wenig empirische Forschung hervorgebracht hat, wären an ihr orientiere empirische Arbeiten umso verdienstvoller.

Entsprechende Ansätze gibt es durchaus. Insbesondere ist das Konzept der „verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit“ zu nennen, das Roland Burkart und Sabine Probst (1991) Anfang der 1990er anhand der empirischen Beforschung eines Konflikts zwischen Politik und Zivilgesellschaft um den Bau einer Mülldeponie in Niederösterreich entwarfen. Dabei nutzen die beiden die Habermas’sche Konzeption von Geltungsansprüchen und ihrer Infragestellung, um den Aushandlungsprozess zu analysieren, und entwerfen basierend darauf ein normatives Konzept. Verlangt wird, dass PR-Arbeit in einer demokratischen Gesellschaft nicht rein instrumentell und nicht bloß durch Massenmedien erfolgen dürfe, sondern auch verständigungsorientiert erfolgen müsse – gemeint ist, dass sie gerade im Konfliktfall den direkten „Dialog mit den jeweiligen Tellöffentlichkelten“ (166) suchen solle. Gerade diese nicht-instrumentelle Herangehensweise könne dann wiederum zu einer friedlichen Konfliktbearbeitung und einer in diesem Sinne erfolgreichen Kommunikation führen. Auch wenn der Umgang mit einigen von Habermas’ Begriffen etwas großzügig ist und die Verständigungsorientierung nicht zuletzt aufgrund ihres instrumentellen Nutzens empfohlen wird, handelt es sich doch um eine ausgesprochen produktive Adaption der TkH in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung. Hartmut Wessler (2018) hat in jüngerer Zeit einen neuerlichen Aufschlag zu einer fachlichen Aktualisierung des Habermas’schen Werkes gegeben. In seinem dezidiert für ein kommunikations- und medienwissenschaftliches Fachpublikum verfassten Buch Habermas and the Media arbeitet er heraus, wie sich Habermas’ Blick auf die Medien im Laufe seines Wirkens entwickelte sowie welche normativen und empirischen Perspektiven sich daraus eröffnen.

Ein vielversprechendes Feld, um das Habermas’sche Werk zu aktualisieren, bildet die digitalisierte Kommunikation – nicht ausschließlich, aber insbesondere die in sozialen Medien. Wiederum wird hier vor allem der im Strukturwandelbuch entworfene Öffentlichkeitsbegriff aufgegriffen. So nutzen von Beginn der Digitalisierungsdebatten bis heute diverse Autor*innen die nahe liegenden Wendungen vom „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Binder und Oelkers 2006) oder „digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Bedford-Strohm et al. 2019). Die von Habermas entworfene Historiografie eines Wandels von einer hochbürgerlich-exklusiv-diskursiven Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert hin zu einer kulturindustriell-massenmedialen Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert schreit geradezu danach, durch die Diagnose einer im 21. Jahrhundert erneut strukturgewandelten, nunmehr digitalisierten Öffentlichkeit fortgeschrieben zu werden. Wie in der Digitalisierungsdiskussion insgesamt überwogen zunächst optimistische Einschätzungen, die das demokratisch-partizipative Potenzial der Digitalisierung hervorhoben, dann aber zunehmend pessimistischen Einschätzungen über Fragmentierung, Polarisierung, Kommerzialisierung und Entfremdung weichen mussten. Die Debatten über soziale Medien bieten auch eine bislang wenig verfolgte Möglichkeit, die zeitdiagnostische Pointe der TkH aufzugreifen und die These von der Lebensweltkolonialisierung durch System-Imperative mit 40 Jahren Verspätung zu retten: Große Teile lebensweltlicher Interaktionen – sowohl solche der Privatsphäre als auch solche der politischen Öffentlichkeit – spielen sich mittlerweile in den sozialen Medien ab. Dort sind die Interaktionen aber – hinter dem Rücken der Kommunizierenden! – durch Algorithmen strukturiert, deren Zwecke durch die kommerziellen Interessen der jeweiligen Plattform und der dort Werbetreibenden definiert sind (Hilgerloh-Nuske 2020).