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Literatur 125. Todestag

Der sexuelle Trieb war Theodor Storm Antrieb

Leitender Feuilletonredakteur
Der Schöpfer des „Schimmelreiters“: Theodor Storm (1817-1888) Der Schöpfer des „Schimmelreiters“: Theodor Storm (1817-1888)
Der Schöpfer des „Schimmelreiters“: Theodor Storm (1817-1888).
Quelle: picture-alliance / dpa
Die Pädophilie eines Schulklassikers: Zum 125. Todestag Theodor Storms ist eine neue Biografie erschienen. Sie lässt seine sexuelle Abweichung als geheimes Zentrum seines Werks erkennen.

„Heute, nur heute bin ich so schön; morgen, ach morgen, muss alles vergehen.“ Haben wir das noch im Ohr? Oder auch dies: „Herbst ist gekommen, Frühling ist weit – Gab es denn einmal selige Zeit?“ Und natürlich das: „Ich habe immer, immer dein gedacht. Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.“ Das alles und noch viel mehr von seiner eingängigen Wehmutslyrik gehörte einst zum Kernbestand unserer Literatur, gehört es für viele Landsleute noch immer. Zumindest wer heute älter als 50 ist, wuchs noch mit diesen Werken auf. Deutsche Sehnsucht, deutsches Gemüt und deutsche Innerlichkeit – das alles verbindet sich mit Theodor Storm, dessen Todestag sich am 4. Juli zum 125. Mal jährt.

Den letzten Romantiker hat man ihn genannt, und in der Tat: Mit Theodor Storm ging eine ganze Epoche künstlerischen Ausdrucks zu Ende. Eine Epoche, in der es noch möglich war, dass ein Schriftsteller seine produktive Kraft im Grunde in den Dienst von lediglich zwei Themen stellte, die er dann aber auch in allen Facetten gestaltete.

Gescheitertes Leben, gescheiterte Liebe: Darum drehte sich das kreative Zentrum seines Denkens, Fühlens, Schreibens. Immer wieder hat er sie bearbeitet. Völlig ungebrochen. Und ohne jemals bei rationalen Erklärungsversuchen seine Zuflucht zu suchen, sieht man einmal davon ab, dass er, ganz im Stil des späten, wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhunderts, gern auf die „Erbanlagen“ als „Schicksalsmacht“ verwies. Immer wieder kann Theodor Storm sagen, was er als Fazit ans Ende einer seiner berühmtesten Novellen stellte: „Es ist Alles doch umsonst gewesen.“

Verdikt vom Edelkitsch

Aber wie viel Zauber, wie viel verführerische Sangbarkeit liegt in diesem „Umsonst“! Thomas Mann, Storm als Norddeutscher wesensverwandt, hat diesbezüglich einmal vom „Griff an die Kehle“ gesprochen, denn wer Storms Gedichte liebt, der liebt sie, weil sie ihn aufschluchzen lassen. Wer wollte leugnen, dass es nicht immer edle Tränen sind, die Storm zum Fließen brachte. Seine Gefühlsbetontheit gleitet vor allem in seinen Prosatexten immer wieder ins Rührselige ab. Das ist nicht unbemerkt geblieben, und so haftet dem Dichter Theodor Storm bei vielen Lesern das Verdikt vom Edelkitsch an.

Man kann folglich heute wohl nur ein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Dichter haben. Und da macht Storms jüngster Biograf keine Ausnahme. Jochen Missfeldt, der nach langer Zeit einmal wieder im großen Stil das Leben des Theodor Storm erzählt, hat ein erfrischend kritisches Verhältnis zum Gegenstand seiner Bemühungen.

Zwar ist Missfeldt ein Landsmann, er wurde 1941 in Satrup geboren und lebt heute in Nordfriesland. Zwar schwört er seine Leser gleich auf den allerersten Seiten in langen, von Begeisterung befeuerten Passagen auf die landschaftlichen Besonderheiten einer Region ein, die mit ihren Halligen und Deichen, mit ihren tiefen Himmeln und dramatischen Wolkenbänken auch heute noch bezaubern kann. Aber das ist dann auch bereits alles, was der Autor an identifikatorischer Annäherung an das Objekt seiner Forschung aufbringt. Vielleicht auch deshalb, weil er selbst kein ganz unbedeutender Schriftsteller ist und nicht in den Ruf eines Storm-Verwandten kommen möchte? Begreiflich wäre es.

Kenntnis der norddeutschen Landschaft

Doch wie auch immer: Diese Darstellung profitiert sehr davon, dass Jochen Missfeldt Land und Leute, die Storms Umfeld abgaben, aus eigenem Erleben kennt. Eigentümlichkeit und Eigensinn des Schleswig-Holsteiners von der Westküste ist in vielen Fällen der Humus gewesen, auf dem ein unverwechselbares Werk entstand, siehe Hebbel, siehe Mommsen, siehe Klaus Groth. Auch bei ihnen war die Verbundenheit mit der Heimat groß.

Aber bei keinem ging sie wohl so weit wie bei Storm, der nach elf Jahren im „preußischen Exil“, wie er es nannte, mit fliegenden Fahnen 1864, nach dem siegreichen Krieg gegen Dänemark, nach Husum zurückkehrte. Hier und nach seiner Pensionierung aus dem Staatsdienst dann in Hademarschen pflegte er bis ans Lebensende seine antipreußischen Ressentiments, träumte weiterhin seinen unrealistischen Traum von einem freien, stolzen, unabhängigen Schleswig-Holstein.

Man hat vor allem nach 1968 Storms antipreußische Affekte seinem angeblich so ausgeprägten politischen Bewusstsein zugutehalten wollen. War er unter den Nazis für die „Blut-und-Boden-Dichtung“ vereinnahmt worden, so kramte man nun Storms kritische Äußerungen gegen Adel und Militär hervor. Auch dass sich Storm als Richter für die Abschaffung der Todesstrafe aussprach, wurde positiv vermerkt, jedoch unterschlagen, mit welchen Argumenten: Storm war gegen die Todesstrafe, weil er fand, man könne einem zivilisierten Menschen nicht zumuten, einen anderen abzuschlachten. Er hatte also Mitleid mit dem Henker, nicht etwa mit dem Delinquenten. Darauf muss man erst mal kommen! Insgesamt wird man jedenfalls wohl dem politischen Menschen Theodor Storm ganz gut gerecht, wenn man auch hier die „Friesenseele“ in Rechnung stellt, die Jochen Missfeldt so sehr an ihm betont.

Aristokratismus des Bildungsbürgers

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Und Storms Aristokratismus, wie Missfeldt es nennt. Es handelt sich dabei um den Aristokratismus des Bildungsbürgers. Er gab viel darauf, „von Familie“ zu sein. Er selber brachte es mit 25 Jahren zu einer eigenen Anwaltskanzlei. Seinen beruflichen Weg ging er vollkommen geradlinig und problemlos. Umso mehr schmerzte es ihn, dass seine drei Söhne sich so schwertaten, sich in die Arbeitsgesellschaft ihrer Zeit zu integrieren. Zu Anpassern hatte er sie aber auch nicht erzogen. Vielmehr hat er sie in seinem berühmt gewordenen Gedicht „Für meine Söhne“ dazu angehalten, jene stolze Unabhängigkeit im gesellschaftlichen Umgang an den Tag zu legen, die auch der Herr Papa für sich als passend in Anspruch nahm.

„Erfrischend wie Gewitter“ seien „zu Zeiten“, reimte er, „goldene Rücksichtslosigkeiten.“ Und ganz wichtig war Storm auch folgende Empfehlung: „Was du immer kannst zu werden,/ Arbeit scheue nicht und Wachen;/ Aber hüte deine Seele/ Vor dem Karriere-Machen.“ Auch hier sprach der Mann von Rang, der den sozialen Aufstieg nicht mehr nötig hatte. Sprach daraus vielleicht sogar der Absteiger?

Thomas Mann zumindest, der ja immer gern in anderen Dichtern sah, was ihn selbst ausmachte, hielt Theodor Storm für den klassischen „Vollender“, für einen Spätling der eigenen Sippe, in dem sich seriöse Bodenständigkeit vergeistigt und in eine künstlerische Potenz emporentwickelt, von der es im Grunde nur noch zum Absturz kommen kann. Dieser Sicht scheint sich Storms Biograf Missfeldt anzuschießen: „Am Ende seines Lebens schafft der Künstler Storm unter der Herrschaft seines Krebsleidens und angesichts der eigenen Familientragödie sein größtes, bedeutendstes Werk, den ,Schimmelreiter’: einen Roman vom Verfall und Untergang einer Familie.

Theodor Storm stirbt kurz nach der Vollendung seines großen Werks, und während seine Gedichte und Erzählungen sich unter den besten der deutschen Literatur behaupten, sinkt seine Familie, sinken Frau, Kinder und Kindeskinder, ins gesellschaftliche Mittelmaß hinab. Die Storms landen in Bedeutungslosigkeit und Entbehrung, in Verruf und Unglück.

Das Drama seiner Söhne

Storm hat unter den vielen Schicksalsschlägen in seiner Familie kolossal gelitten. Vor allem beschäftigte ihn das Drama seiner Söhne. Die Erzählung „Ein stiller Musikant“ reagierte umgehend auf einen verzweifelten Brief des jüngsten Sohnes Karl, der sich zum Musiker ausbildete und dabei feststellte, dass er zu schüchtern sei, um seine Talente vor Publikum zur Geltung zu bringen. Daraus wird bei Storm – durchaus die Dimensionen erweiternd – ein origineller Beitrag zur deutschen Künstlernovelle, indem er einen Musiker erfindet, der aus „Angst vor der Welt, Angst vor dem Leben“ am Ende nicht nur in der Kunst, sondern auch in seiner persönlichen Existenz scheitert.

Dass diesem Zauderer die ganze Sympathie des Erzählers gehört, könnte zu seinen Gunsten sprechen, wenn man bedenkt, dass in der Entstehungszeit von „Ein stiller Musikant“, um 1875 also, zunehmend ein soldatisch-heroisches Männerbild dominiert. Doch man stößt sich an der Rührseligkeit, die hier alles überzieht. Hinzu kommt die Frage, die man sich unwillkürlich stellt, wenn man die Hintergründe kennt: Wie hat dieses Vorgeführtwerden wohl auf den Sohn gewirkt?

Ganz ohne jede Frage Meisterwerke sind jedoch die beiden späten Novellen geworden, die vom Werdegang Hans Storms, des Dichters Ältestem, inspiriert sind. Das Vater-Sohn-Drama, diese ganz spezielle Dynamik, die sich ergibt, wenn ein Vater sich gegen das Verderben seines Sohnes stemmt und am Ende doch nichts dagegen ausrichten kann, wird in einer mitfühlenden Variante in der Novelle „Carsten Curator“ und in einer hartherzigen, in der Novelle „Hans und Heinz Kirch“, durchgespielt. „Carsten Curator“ entsteht, als Hans Storm lediglich zum ersten Mal durchs Examen fällt; „Hans und Heinz Kirch“ hingegen einige Jahre später, als der Unglücksrabe auch noch als Arzt gekündigt wird.

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Auch hier entfernt sich der Dichter wieder weit vom lebensweltlichen Ereigniskern und zielt auf etwas Größeres: den „Verfall einer Familie“, den Thomas Mann dann mit den „Buddenbrooks“ zum Thema der Epoche machen wird. Storm gibt hier, wie sonst nur noch im „Schimmelreiter“, sein Bestes, weil er das Scheitern seiner Untergeher nicht, wie im „Stillen Musikanten“, zu einer auf gequälte Weise heiteren „Resignation“ verkitscht, sondern weil er das Unausweichliche packend und schonungslos und mit seinem ganzen Stimmungszauber schildert, der sich noch erhöht, weil er zwei herzzerreißende Liebesgeschichten hineinverwebt.

Er liebte nicht, wie die Mehrheit liebt

Storm ist hier auch deshalb so gut, weil ihm außer der Empathie auch Schuldbewusstsein die Feder führte. Er glaubte fest daran, dass er das Scheitern seinen Söhnen mitgegeben habe, dass sich in ihnen jene Züge radikalisierten, die er auch in sich selber wusste: Zügellosigkeit, Anpassungsschwierigkeiten, Skepsis gegenüber jenem „bürgerlichen Leben“, an dem die Söhne sich die Zähne ausbissen, sowie nicht zuletzt ein geheimes Abweichen vom normalen Eros. Ja, Storm liebte nicht, wie die Mehrheit liebt.

Es gehört seit Langem zum Wissen der Forschung, dass Theodor Storm pädophil veranlagt und tief fasziniert von Mädchen im Übergang zur Pubertät war. Aber dass dieser Umstand ihn befähigte, dem Elementarversagen anderer Menschen mit Verständnis zu begegnen, das ist noch nicht genügend berücksichtigt worden, und wir sehen nun in dieser Biografie von Jochen Missfeldt verdienstvollerweise Ansätze, dieses geheime kreative Zentrum herauszuschälen, das offenbar bei diesem Autor ähnlich werkbestimmend und wahrnehmungsprägend war wie die Homosexualität Thomas Manns oder Marcel Prousts. Natürlich wird man aus heutiger Sicht Homosexualität und Pädophilie nicht auf eine Stufe stellen wollen. Als quälendes Bewusstsein einer – damals – gleichermaßen zu unterdrückenden Neigung setzte es aber ähnliche Energien frei.

Storms Pädophilie führt aber auch zu stereotypen Figuren. Da er einer Liebe huldigte, die – mit Oscar Wilde zu sprechen – ihren Namen nicht zu nennen wagt, schaffte der Autor sich Chiffren und immer wiederkehrende Konstellationen, um von seiner ihn bedrängenden, aber eben auch beglückenden Neigung sprechen zu können. Da wären zunächst die beständig wiederkehrenden Kinderlieben. Dann stößt man auch oft auf Protagonisten, die als halbe Kinder zum ersten Mal mit der Macht der Sinnlichkeit konfrontiert werden. Und oft gibt es eben auch die Ansprechbarkeit der männlichen Hauptfiguren auf Mädchen zwischen zehn und 13 Jahren.

Wie leider fast immer, wenn die Hormone Regie führen, wirkt die Beschreibung von Storms geheimen Objekten der Begierde seltsam unpersönlich und standardisiert. Seine Kindfrauen haben alle kleine Füßchen, Händchen, Schühchen und dergleichen; aber darüber hinaus zeichnet sie eigentlich nur eines aus: Dass sie eben 13 Jahre alt sind und leidlich hübsch aussehen. Aber in seinen besten Stücken hat Storm aus seiner unmöglichen Veranlagung hohe Funken geschlagen. Dann entsteht der unvergessliche Wehmutston seiner Lyrik, der unverwechselbare Mitleidsklang seiner Novellen über gescheiterte Existenzen. Dann ist er ganz bei sich. Und überzeugt. Und so wird unversehens auch aus diesem kanonischen realistischen Erzähler des 19. Jahrhunderts ein Zeitgenosse der Moderne in all seiner Gebrochenheit.

Der Stachel erotischer Abweichung

Das kann man von den Berühmtheiten seiner Zeit, etwa Gottfried Keller oder Paul Heyse, nicht sagen. In ihnen saß nicht der Stachel erotischer Abweichung, und so blieben sie in der Ästhetik ihrer Zeit sehr stark befangen. Doch bei Storm, da gärt und bohrt etwas, da will etwas heraus aus den Beschränkungen der Bürgerwelt. Für diesen Impuls hat diese neue Biografie viel Sinn. Sie kann freilich die Genüsse und Erkenntnisse nicht ersetzen, welche die Lektüre von Storm selbst verschafft. Doch wer sich Missfeldts Perspektiven auf diesen Autor zu eigen macht und dann auf Erkundung seiner Texte auszieht, der wird schnell merken: In Storm steckt weit mehr, als das Klischee vom Schulbuchautor ahnen lässt.

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