Theodor Heuss: Als ein Liberaler den Takt in Deutschland angab - WELT
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Geschichte Theodor Heuss

Als ein Liberaler den Takt in Deutschland angab

Er bewunderte Hindenburg, stimmte für das Ermächtigungsgesetz und setzte doch die Maßstäbe für das Amt des Bundespräsidenten: Theodor Heuss in einer neuen Biografie von Peter Merseburger.
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Als Paul von Hindenburg, Generalfeldmarschall und gefeierter Held der Schlacht von Tannenberg, 1917 seinen 70. Geburtstag feierte und das deutsche Kaiserreich noch ein knappes Jahr Bestand haben sollte, pries ihn ein junger Autor in einer kleinen württembergischen Zeitung. Er lobte ihn nicht nur als „den größten Feldherrn dieses Krieges“, als „Fels der Zuversicht“ und „Schrecken der Feinde“ – er sah etwas Wunderbares darin, „dass ein Mann heute an der Spitze der Wehrmacht steht, von dem man spürt, dass er nicht nur ‚Fachmann’ ist, sondern eine Persönlichkeit stark quellender Kraft“.

Und als Adolf Hitler 1938 Österreich überrennen und eingemeinden lässt, schreibt derselbe Autor – inzwischen immerhin 54 Jahre alt – mit Blick auf die Verträge von Versailles und St. Germain: „Der Spuk ist vorbei. Großdeutschland entsteht“. Und: Die „getrennten Wege eines Staats- und Geschichtsbewusstseins einen sich“. An anderer Stelle spricht er von der „seelischen Taktlosigkeit einer Handvoll entwurzelter jüdischer Literaten“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg macht er sich über amerikanische Besatzungsoffiziere lustig: Sie seien „als Offiziere verkleidete Professoren der Soziologie, die offenbar in den USA in Massenfertigung produziert werden“. Und er lehnt einen alliierten Nachhilfeunterricht in Sachen Demokratie ab, will den heimkehrenden Emigranten keine wichtige Rolle beim Aufarbeiten der Vergangenheit zugestehen, nennt das deutsche Volk das „eigentliche Opfer“ der verderblichen Politik Hitlers und sagt – wir sind jetzt im Jahre 1948 –: „Es ist allerhöchste Zeit, dass die Epoche der Spruchkammer-Weltanschauung zu Ende geht.“ Ein gutes Jahr später wird dieser Mann, Theodor Heuss, zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

Der alte Traum von 1848

Also doch: kein Bruch im Jahre 1945? Die frühe Bundesrepublik als das Werk neuer Eliten, die im Grunde die alten waren? Nein, so verhält es sich nicht. Es ist nicht der geringste Vorteil von Peter Merseburgers soeben erschienener Biografie Theodor Heuss’, dass er diesem Kurzschluss nicht erliegt: Dass er nichts verschweigt, nichts beschönigt und stattdessen genau, vielschichtig und mit großem Sinn für den Geist der Zeit ein überzeugendes Bild des Mannes zeichnet, der durch und durch ein Liberaler war und doch teilhatte an vielen Torheiten und Bedrückungen des deutschen 20. Jahrhunderts. Der mitgeschwommen ist und geprägt hat, der sich anpasste und Mut bewies, der altfränkisch dachte und doch entscheidend dazu beitrug, das solide Fundament für die zweite deutsche Demokratie zu legen.

Nichts war zwangsläufig an der deutschen Misere und Barbarei. Das Kaiserreich, in dem der junge Theodor Heuss aufwuchs, studierte und zum schweifenden Literaten wurde, war mehr als der autoritäre Untertanenstaat, als der es so oft gezeichnet wurde. Der Württemberger Heuss kam aus einem bürgerlichen Elternhaus, in dem man die Erinnerung an die Revolution von 1848 hoch hielt. Nicht die Demokratie erträumte man, man wollte die konstitutionelle Monarchie, und da man radikal antipreußisch war, sollte es das ganze Deutschland sein: Großdeutschland.

Der junge Heuss hoffte und arbeitete schreibend daran, dass dieser alte Traum von 1848 auf evolutionärem Weg Wirklichkeit werden würde. Einer der auffälligsten Züge von Heuss war von früh auf sein unerschütterliches Selbstbewusstsein, das nicht einmal dann Schaden nahm, als der verehrte Vater psychisch krank in einer Pflegeanstalt starb. Traumsicher ließ sich Heuss von allem anziehen, was gemäßigt modern war – so pries er die Gartenstadt Hellerau bei Dresden, begeisterte sich für moderne Formenwelten und sprach emphatisch vom „Wunderbaren dieser Frühzeit“.

„Wir fühlten uns nicht als Europäer“

Heuss war ein Neuerer, der zugleich das schützende Gehege der Tradition nie verließ. Die Erfahrung des Bruchs, die andere – wie etwa den Dichter Jacob van Hoddis – verstörte und zerstörte, machte er nicht. Allem Extremen – politisch wie literarisch – blieb er stets abhold. Der Apfel fällt nicht weit vom Baum: Heuss schrieb, nicht mit allergrößter Anstrengung, seine Doktorarbeit über das Thema „Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn am Neckar“ – Heilbronn liegt gerade einmal 15 Kilometer von seinem Geburtsort Brackenheim entfernt.

Aber er wird auch Redakteur der liberalen Zeitschrift „März“, in der er neben Autoren wie Anatole France, Lew Tolstoi, René Schickele, Georg Heym und Robert Walser schreibt. Später hat er einmal notiert: „Wir fühlten uns gar nicht als Europäer, sondern wir waren es auf eine völlig undogmatische Weise.“ Es lag eine sehr optimistische Unschuld über diesen jungen Jahren, die Welt war offen, man musste nur losziehen.

Auch im wörtlichen Sinne. Heuss folgte seinem großen Mentor Friedrich Naumann in dem heute bizarr wirkenden Wunsch, Deutschland müsse an den Tisch der großen Mächte, müsse flottenpolitisch aufrüsten und brauche möglichst viele Kolonien. Es ging dabei gar nicht so sehr um den berühmten „Platz an der Sonne“ – vielmehr dachten diese eigentümlichen Liberalen, nur ein starkes Deutschland als führende Macht in Mitteleuropa können nach innen Zusammenhalt und – durch aktive Sozialpolitik – inneren Frieden sichern. Man war national und sozial.

Diese Liberalen waren vor allem national

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Wie liberal war Theodor Heuss? Mit dem staatsskeptischen Freiheits- und Bürgerliberalismus Wilhelm von Humboldts etwa hatte er nichts im Sinn. Merseburger zeigt auf seine zurückhaltende und eindeutige Festlegungen möglichst vermeidende Weise so etwas wie die Tragödie des deutschen Liberalismus im Kaiserreich wie vor allem während der Weimarer Republik auf. Diese Liberalen waren vor allem eines: national.

Als die Weimarer Republik zu wanken begann und rechts wie links radikale Alternativen schmackhaft wurden, ging es ihnen in erster Linie nicht um die Bürgerrechte, sondern um den Staat. Heuss blickte skeptisch bis ablehnend auf alle frühen paneuropäischen Einigungsversuche. Der Kern war und blieb für ihn die Nation – das aber nicht, weil er ein Nationalist gewesen wäre, sondern weil er genau spürte, dass es „das tief Dämonische der nationalen Leidenschaften“ gab.

Diese, plädierte er, solle man nicht – wie durch Versailles geschehen – bestärken. Und man solle ihnen auch nicht – wie vom Völkerbund betrieben – durch voreiliges übernationales Getue den Boden wegziehen. Im Wettlauf mit den Radikalen der Weimarer Republik entkernten die Liberalen, die von Wahl zu Wahl schwächer wurden, sich selbst. Hermann Dietrich, Vorsitzender einer der beiden liberalen Parteien, prägte den denkwürdigen Satz: „Wir gehen davon aus, dass das Zeitalter des Liberalismus hinter uns liegt.“

Autoritärer Staat statt Zersplitterung

Und am Vorabend von Hitlers Griff nach der Macht sagte Reinhold Maier, später in der FDP und Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der deutsche Staat werde „heute und in aller Zukunft aus natürlichen (!) Gründen einen stark autoritären Einschlag haben“. In dieser Denkströmung schwamm Heuss mit. Man könnte sagen: Aus Angst vor dem Tod begingen die deutsche Liberalen Selbstmord. Sie hofften, Hitlers Aufstieg verhindern zu können, indem sie sich dem Staatsautoritarismus anpassten, ihn offensiv umarmten.

Die zersplitterten Liberalen dachten: lieber ein autoritärer Staat, der die Ordnung an sich garantiert, als Chaos und Zersplitterung. Nur so auch ist zu erklären, dass Theodor Heuss im Reichstag für das Ermächtigungsgesetz stimmte. Später sagte er, er habe schon im Moment der Abstimmung gewusst, „dass ich dieses ‚Ja’ nie mehr aus meiner Lebensgeschichte auslöschen könne“; doch zugleich hat er dieses „Ja“ nie als Belastung empfunden.

Man macht es sich zu einfach, darin bloß Feigheit, Opportunismus und späte Selbstrechtfertigung zu sehen. Diese Liberalen, die nur undeutlich spürten, dass die Luft längst brannte, kapitulierten in rettender Absicht. Die von Heuss verfasste Erklärung, die Reinhold Meier im Reichstag verlas, endete so: „Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“

An Auswanderung hat er nie gedacht

Das war verblendet – es war aber auch Ausdruck der seit dem Kaiserreich verbreiteten Evolutionshoffnung, der Staat als die Gemeinschaft aller könne letztlich nur Gutes hervorbringen. Die Geschichte ist immer verwirrender und offener, als sie im belehrten Rückblick erscheint.

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Heuss hat das gewählt, was man „innere Emigration“ genannt hat, an Auswanderung hat er nie gedacht. Er zog sich aus Berlin nach Heidelberg zurück und überlebte als Autor, etwa einer Biografie Friedrich Naumanns. In Männerrunden traf man sich, viele erlauchte Namen darunter: Alfred Weber, Gustav Radbruch, Karl Jaspers. Heuss setzte fort, was er immer schon getan hat: in verschiedenen Funktionen Kontakte knüpfen, er war der geborene Netzwerker: immer in der zweiten Reihe, aber über alles informiert, mit allen verbunden. Das half ihm nach dem Ende des Krieges, alles lief gewissermaßen auf ihn zu.

Er wurde Herausgeber der „Rhein-Neckar-Zeitung“ in Heidelberg, dann – mit gutem Ruf, aber weniger guter Verwaltungspraxis – Kultminister in Stuttgart, schließlich erster Parteivorsitzender der FDP. Genau das hatte er, durch Weimar belehrt, nicht werden wollen. Eigentlich strebte er eine große und lagerübergreifende Volkspartei an – doch daraus wurde nichts, auch deswegen nicht, weil ihm Konrad Adenauer mit der CDU zuvorgekommen war. Heuss hielt immer ironische Distanz, auch zu sich selbst, und er pflegte in Reden und Schriften eine Sprache des Ungefähren, oft raunend, noch öfter unpräzise und nicht selten ziemlich selbstgefällig.

Vorweggenommene Arbeitsplatzbeschreibung

Einmal aber fand er – in antagonistischer Kooperation mit dem SPD-Politiker Carlo Schmid – zu Klarheit und Schärfe, im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete. Kein Provisorium, gesamtdeutsche Perspektive, gegen plebiszitäre Elemente, für einen gemäßigten Föderalismus – all das hat nicht unwesentlich er mit Standfestigkeit und Fähigkeit zum Kompromiss durchgesetzt. Es war sein spätes Meisterstück der Eindeutigkeit.

Auch deswegen wurde er Bundespräsident. In den 20er-Jahren hatte er, der stets Moderate und den Gegner Respektierende, ein geradezu hymnisches Porträt Friedrich Eberts, des ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, geschrieben. Ebert habe dem aus dem Nichts geschaffenen Präsidentenamt „Würde, Kraft und Tradition (!)“ verliehen. Der Arbeitersohn sei der Abraham Lincoln der deutschen Politik, er besitze psychologischen Takt und menschliche Würde. Daher werde die Geschichte ihm, der sich „königlich bewährt“ habe, „die Bürgerkrone verleihen“.

Das liest sich wie die vorweggenommene Arbeitsplatzbeschreibung des Bundespräsidenten Theodor Heuss. Schnell und für lange Zeit wurde er der beliebteste Politiker der Bundesrepublik. Nach einigen Kompetenzhakeleien mit Adenauer, die er fast alle verlor, fand er in die starke Rolle des schwachen Bundespräsidenten, der mit dem Wort, mit der Geste, mit Anmut und mit Würde brilliert. Er hat sein Amt aus dem Nichts geschaffen und gut ausgefüllt.

Beruhigender Hausvater der Republik

Er hat über deutsche Schuld gesprochen und seine Deutschen darauf gestoßen. Er hat das aber mit weichen Worten getan und jene nicht vor dem Kopf gestoßen, die sich selbst als Opfer sahen. Er gab sich als fordernder, aber auch beruhigender Hausvater der Republik. Selbst durch und durch zivil, lehrte er die Deutschen die Abkehr vom Militarismus, die sie sich ohnehin ersehnten.

Dass er zeit seines Lebens auf eine Weise neben sich stand; dass er eine kommentierende Existenz führte; dass er Schärfe mied und gerne im Nebel des Ungefähren blieb; dass er eine faschingshafte Gemütlichkeit an den Tag legte, aber die Bürger in seinem Kampf gegen die Ohne-mich-Haltung immer wieder forsch ermahnte, sie seien es, die am Ende des Tages den Staat ausmachen; dass er aus einem großen Bildungsfundus schöpfte, der aber nicht zu strapaziös war: All das half ihm, populär zu werden und dem Staat eine Gestalt zu geben – nicht groß, nicht klein. Schuld- und selbstbewusst.

Er hatte aus der Geschichte gelernt, und doch war es so, als pralle alles an ihm ab. Er verkörperte die aufmunternde und deprimierende Wahrheit, dass das Leben weitergeht. Und es war nicht seine geringste Qualifikation für das Amt des Bundespräsidenten, dass er an einigen Torheiten des 20. Jahrhunderts teil hatte und Verständnis aufbrachte für die Devise: „Gut rasiert im zweite Glied isch’s Beschte.“

„Kontakt ohne Demagogie“

Er war kein großer, sondern eher ein eklektischer Autor, der den Dingen nicht auf den Grund ging. Das muss einen Denker wie Theodor W. Adorno nicht eben angezogen haben. Es zeugt von der Kraft, die von Theodor Heuss ausging, dass der Emigrant Adorno ein halbes Jahr nach Heuss’ Tod auf dem Deutschen Soziologentag in Heidelberg im Mai 1964 noble und lobende Worte für das verstorbene Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie fand (der Wortlaut: „Die Welt“, 9. Mai 1964):

„Es bestand“, sagte der Theoretiker der Entfremdung, „zwischen ihm und den angeblich anonymen und entfremdeten Massen etwas kaum noch Vorstellbares: Kontakt ohne Demagogie.“ Millionen hätten an ihm gehangen, weil „er verkörperte, was in ihnen tiefer bereit lag als ihr kollektiver Narzissmus: die Idee des Bürgers einer Welt, in der man sich nicht zu fürchten brauchte“. Mit verwunderter Freude stellt Adorno fest: Ausgerechnet einem Intellektuellen war es gelungen, Demokratie und Gefühl in Deutschland auf pragmatische, auf freundliche Weise zusammen zu bringen.

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