The White Diamond | Kritik | Film | critic.de

The White Diamond – Kritik

Um den unerforschten Baumkronenbereich des Urwalds von Guyana zu überfliegen, konstruiert der Ingenieur Dr. Graham Dorrington einen eigenen Mini-Zeppelin. Werner Herzog gelingt mit The White Diamond ein sehenswerter, durch die Schönheit der Aufnahmen bestechender Dokumentarfilm über den Traum vom Fliegen. Zugleich ist er das faszinierende Seelendrama eines schuldbeladenen Menschen, wie auch der Versuch, das Magisch-Mystische der Natur zu entdecken.

The White Diamond

Das Reisen, und das damit verbundene Entdecken, ist ein elementarer Bestandteil im Leben Werner Herzogs. Schon mit 14 Jahren unternahm er laut eigenen Aussagen „größere Reisen“ bevor er seine Entdeckungstouren auch auf kinematographische Art und Weise fortsetzte. Unvergesslich bleiben Herzogs filmische Ausflüge in den Dschungel. Seine beiden Werke Aguirre – Der Zorn Gottes (1972) und Fitzcarraldo (1982) gehören zu den Meilensteinen des Neuen Deutschen Kinos, in denen Klaus Kinski – Stammschauspieler und Alter Ego des Regisseurs – Figuren porträtiert, die von fixen Ideen besessen sind, welche sie in den Urwäldern des südamerikanischen Kontinents zu verwirklichen suchen. Seit dem Tode Kinskis im Jahr 1991 hat sich Herzog weitgehend vom Spielfilm zurückgezogen und stattdessen, wie auch im Falle seines neuesten Werkes, dem Dokumentarfilm zugewandt – das Reisen und Entdecken hat er nicht aufgegeben.

Mit seiner Dokumentation The White Diamond nimmt der inzwischen 62-jährige Altmeister erneut die organisatorischen Strapazen und Drehrisiken auf sich, um einem Visionär in den Dschungel zu folgen. Der Ingenieur Dr. Graham Dorrington will mit einem von ihm selbst konstruierten heliumbetriebenen Mini-Zeppelin, dem titelgebenden "White Diamond", den Urwald Guyanas überfliegen, um dessen unerforschten Baumkronenbereich zu erkunden. Dies birgt allerdings Risiken: Vor zwölf Jahren verunglückte der berühmte Tierfilmer Dieter Plage mit dem Vorläufermodell auf tragische Weise. Die Reise nach Guyana wird somit für Dorrington nicht nur zum Versuch, seine Sehnsucht zu erfüllen, sondern gleichzeitig zu einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, denn seit Plages Sturz aus dem Luftschiff kämpft der Ingenieur mit Schuldgefühlen. Auf eindrucksvolle Weise dokumentiert The White Diamond nicht nur einen technischen, logistischen und physischen, sondern vor allem auch einen psychischen Kraftakt. Indem er zum Seelendrama eines Menschen wird, der sich vom Traum zu fliegen und der Last der Vergangenheit hin- und hergerissen sieht, geht der Film weit über übliche Expeditionsdokumentationen hinaus.

The White Diamond

Wie seine Figuren ist Werner Herzog ein Getriebener. Gleich Aguirre scheint er nicht anders zu können, als immer wieder und weiter in die entferntesten Regionen vorzudringen, sei es Alaska, Australien, die Sahara oder eben der südamerikanische Urwald. Aber was treibt ihn in die Ferne? Herzog sagte einmal, wir wären umgeben von verbrauchten Bildern. In der Ferne lassen sich für ihn noch „neue“ Bilder finden, die, jenseits der Sprache und der Konvention, kontemplativ, meditativ, direkt auf uns einwirken und uns wieder eine ursprüngliche Erfahrung ermöglichen. Zusammen mit seinen Kameramännern Henning Brümmer und Klaus Scheurich findet er in The White Diamond – und auch dies hebt den Film vom Standard der Gattung ab – Naturbilder von großer Schönheit, die uns für die Mystik und Magie der Welt öffnen sollen, welche uns im modernen Zeitalter abhanden gekommen sind.

In einem Moment von The White Diamond macht der Eingeborene Marc Anthony auf einen Wassertropfen aufmerksam, durch den sich der im Hintergrund liegende gigantische Kaieteur-Wasserfall spiegelt. Daraufhin hakt Herzog mit einer unfreiwillig komischen, jedoch für ihn bezeichnenden Frage nach: „Marc Anthony, sehen Sie ein ganzes Universum in diesem Wassertropfen?“ Herzog ist eine magisch-romantische Weltsicht zu eigen: Immer wieder sucht er die metaphysischen Elemente im Physischen, Dimensionen tieferer Wahrheit hinter der Oberfläche unserer Alltags-Realität. Jene Einstellung, in der ein endloser Schwarm von Mauerseglern hinter den Kaieteur-Wasserfall fliegt, um seine verborgenen Nistplätze zu erreichen, ist ein Bild, das dem Zeitalter der Romantik entsprungen sein könnte. In seinen besten Momenten gelingt es The White Diamond, die Natur in eine Seelenlandschaft zu überhöhen und somit dem Dokumentarischen eine mythisch-kosmische Dimension abzuringen.

The White Diamond

Herzog steht sich dabei allerdings auch ein wenig selbst im Weg. Denn die „neuen“ Bilder, die er finden will, hat er zum Teil längst auf seinen vergangenen filmischen Beutezügen in den Dschungel entdeckt. Insofern ergibt sich eine gewisse Redundanz. Doch trotz aller Neigung zur Selbstwiederholung ist dem Autorenfilmer ein sehenswerter, ästhetisch reizvoller Dokumentarfilm gelungen. Manchmal kehrt man an die bereits bekannten Orte vergangener Reisen mit Recht zurück, gerade weil sie so schön waren.

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