Schlüsselwörter

1 Einleitung

In seiner Studie über Talcott Parsons’ Handlungstheorie resümiert Harald Wenzel: »Alles spricht vielmehr dafür, daß der – integrative – Kernbegriff der Theorie Gefühl bzw. Affekt ist.« (Wenzel 1990: 467) Dies widerspricht einer gängigen Lesart der Theorie, welche vielmehr den normativ-moralischen Charakter der Theorie in den Mittelpunkt rücktFootnote 1, sowie ebenso sehr dem Umstand, dass Parsons als Theoretiker der Emotionen in den einschlägigen Übersichtsberichten zur Emotionssoziologie wie auch Forschungsarbeiten bestenfalls am Rande vorkommt. Zu Recht lässt sich sagen, dass die Vernachlässigung des Emotionalen innerhalb der Parsonsrezeption in einem Widerspruch zu der Rolle steht, welche Emotionen in Parsons’ Theorie spielen. Dies wird in der Folge entlang der Werkentwicklung von Parsons nachgezeichnet. Hier folge ich einer gängigen Einteilung des Werks in drei Phasen: einer ersten, die im Wesentlichen durch The Structure of Social Action gekennzeichnet ist, einer zweiten – der strukturfunktionalistischen Phase –, in der The Social System und Toward a General Theory of Action im Mittelpunkt stehen und schließlich der dritten Phase, der entwickelten Systemtheorie. Die sicherlich ausführlichste Ausarbeitung eines Konzeptes der Emotionen findet sich in der zweiten Phase, gleichwohl bietet sich eine Darstellung an, welche den Kontext des Gesamtwerkes berücksichtigt.

2 Rekonstruktion von Parsons’ Emotionstheorie

2.1 Die handlungstheoretische Grundlegung: The Structure of Social Action

In The Structure of Social Action vertritt Parsons die These, dass sich in der Handlungstheorie eine Konvergenz abzeichnet, die Parsons an vier Autoren festmacht, Alfred Marshall, Vilfredo Pareto, Max Weber und Emile Durkheim. Alle vier Autoren, so die Diagnose von Parsons, konvergieren im Hinblick auf ein gemeinsames Konzept des Handelns, eine – wie Parsons es nennt – voluntaristische Handlungstheorie. Voluntarismus meint für Parsons, dass sich Handeln immer im Spannungsfeld konditionaler und normativer Elemente befindet. Das normative Element lässt sich Parsons zufolge nicht aus den konditionalen Bedingungen herleiten. Daher enthält das Schema des Handelns immer auch eine ›subjektive‹ Perspektive (Parsons 1949a: 64; Parsons 1994: 65) – eine Annahme, welche Parsons gegen den Positivismus hervorhebt, welcher Handeln an die physikalisch gegebenen Bedingungen des Handelns angleicht. Darüber hinaus kritisiert Parsons den Utilitarismus, der von zufällig gegebenen subjektiven Zwecken ausgehe. Wie er anhand der Kritik von Hobbes’ Modell des Gesellschaftsvertrages zeigt (Parsons 1949a: 89 ff.), ist unter dieser Bedingung eine stabile soziale Ordnung nicht denkbar – Handeln müsse vielmehr auf gemeinsam geteilte Werte bezogen sein. Entsprechend sei ein allgemeines Handlungskonzept immer durch vier Elemente gekennzeichnet: einen Akteur, seine Ziele, die Situation (welche nicht-beeinflussbare Bedingungen und beeinflussbare Mittel umfasst) sowie eine ›normative Orientierung‹, welche die Mittelwahl beeinflusst. Zudem erfordert Handeln immer ein Bemühen (effort) des Handelnden. Zwischen dem konditionalen (Bedingungen) und dem teleologischen Pol (Ziele, Werte) steht die normative Orientierung. Diese normative Orientierung richtet sich an Zweck-Mittel-Beziehungen aus, welche ›intrinsisch‹ oder ›symbolisch‹ sein können (Parsons 1949a: 210 ff.; Wenzel 1990: 324, 333; Wenzel 1994: 28). Symbolisch sind sie immer dann, wenn kein naturhaft kausaler Zusammenhang zwischen Mittelwahl und Ziel besteht. Da die letzten Zwecke (Werte) immer auch nicht-empirischer Natur sind, wird Handeln stets einen symbolischen Aspekt beinhalten. An dieser Stelle kommen in The Structure of Social Action die Emotionen ins Spiel.

Hierbei knüpft Parsons zunächst an Paretos Konzept der Residuen an. Diese stellen Abweichungen von einem Modell rationalen Handelns dar, das nach Pareto durch einen wissenschaftlich nachvollziehbaren objektiven Zusammenhang zwischen Mitteln und Zwecken gekennzeichnet ist. Im Falle der Residuen ist nun zu unterscheiden zwischen der Differenz zum Rationalmodell, das sich durch einen Irrtum des Handelnden ergibt und einer Differenz, welche darauf beruht, dass Handelnde Ziele verfolgen, welche einen nicht-wissenschaftlichen Charakter haben. Diese sind für Parsons unvermeidlich, denn Handlungen beziehen sich auch auf letzte Zwecke, welche sich nicht aus den material-konditionalen Bedingungen des Handelns ergeben. Dieser Wertbezug ist für Parsons einer, der sich als ›value attitude‹ darstellt. Affektuelles kommt für Parsons – wie er in seiner Interpretation von Weber entfaltet – dort zum Tragen, wo Wertelemente »fall short of complete and consistent rational formulation« (Parsons 1949b: 671), was für einige Elemente des Wertkomplexes stets zutreffen wird (Parsons 1949a: 254, 256 ff.). Der Maßstab für die Angemessenheit des Handelns ist im Falle dieses Wertbezugs nicht »logisch-experimentell«, sondern die Selektionskriterien ergeben sich aus der »symbolic appropriateness as an ›expression‹, in that sense a manifestation, of the normative sentiments involved.« (Parsons 1949a: 211) Diesen Zusammenhang findet Parsons in Paretos und Durkheims Ritualtheorien sowie in Webers Überlegungen zur Rolle des Charismas (Parsons 1949b: 671 ff.). Sie versehen das Handeln nicht zuletzt mit einem motivationalen Element, »by virtue of which the normative structure becomes more than a mere idea or ideology without causal relevance.« (Parsons 1949a: 298; vgl. auch Parsons 1994: 111, 137).Footnote 2

Obwohl in The Structure of Social Action keine umfassende Soziologie der Emotionen entwickelt wird, spielt Affekt demnach gleichwohl eine auch nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. auch Fish 2004). Der gemeinsame Wertbezug, der für Parsons entscheidend ist, um soziale Ordnung zu verstehen, ist immer vermittelt über affektiv gefärbte Haltungen. In diesem Sinne definiert Parsons auch den Normbegriff:

»For the purpose of the present study the term normative will be used as applicable to an aspect, part or element of a system of action if, and only in so far as, it may be held to manifest or otherwise involve a sentiment attributable to one or more actors that something is an end in itself.« (Parsons 1949a: 75)

Die starke Anbindung an die Frage normativer Integration hat freilich zu Recht zu dem Einwand geführt, dass Parsons der ja auch gegebenen Unabhängigkeit des Emotionalen und Expressiven vom Problem moralischer Integration in The Structure of Social Action nicht hinreichend Rechnung trägt (Kurt 1991: 66). Man kann die im Folgenden dargestellte Weiterent-wicklung in der strukturfunktionalistischen Phase auch als Korrektur dieser Vereinseitigung verstehen (vgl. Staubmann 1995a: 29, 41; Staubmann 1995b: 100).Footnote 3

2.2 Die strukturfunktionalistische Phase

In der strukturfunktionalistischen Phase – dem Abschnitt der Theorieentwicklung von Parsons, die durch The Social System und Towards a General Theory of Action gekennzeichnet ist – kann die Rolle der Emotionen im Rahmen einer Unterscheidung von Systemtypen (2.1.), in der Ausdifferenzierung des begrifflichen Apparates für Orientierungsprozesse (2.2.), den Pattern Variables (Mustervariablen) (2.3.) sowie den Überlegungen zur Sozialisation verortet werden (2.4.).

2.2.1 Systemtypen

Parsons unterscheidet drei Systemtypen, das kulturelle System, das Sozialsystem und das Persönlichkeitssystem. Alle drei durchdringen sich im konkreten Handeln, bilden aber dennoch unabhängige Bezugspunkte in dem Sinne, dass sie jeweils um spezifische Bezugsprobleme herum organisiert sind (Parsons/Shils et al. 1951: 22). Kulturelle Systeme stellen Systeme von Symbolen darFootnote 4, soziale Systeme sind Interaktionssysteme – das Bezugsproblem besteht in der Aufrechterhaltung geordneter InteraktionenFootnote 5 –, und Persönlichkeitssysteme umfassen die grundlegenden motivationalen und kognitiven Fähigkeiten, aber auch die Bedürfnis-Dispositionen der Individuen, die – so das zentrale Integrationsproblem für Persönlichkeitssysteme – in eine Gratifikations-Deprivations-Balance gebracht werden müssen, welche die Gratifikation optimiert (Parsons/Shils 1951: 121, 123; Parsons/Shils et al. 1951: 18 f.). Solche Gratifikationen beziehen sich auf ›natürliche‹, also auf den Körper bezogene Bedürfnisse (Parsons/Shils 1951: 156). Aufgrund der Offenheit und Abhängigkeit des menschlichen Organismus (›Plastizität‹) (Parsons 1951: 32, 215; Parsons 1994: 180), werden Dispositionen aber auch erlernt, häufig über kulturelle Transmission (Parsons/Shils 1951: 125 ff.; Parsons 1951: 9). Eine mögliche Gefährdung der Gratifikation äußert sich als Furcht. »Whenever a perceived fact constitutes the threat of deprivation of one of the need-dispositions, then we have what we have called fear.« (Parsons/Shils 1951: 138, vgl. auch 133).

Für das Verhältnis der Systeme zueinander gilt: Systeme sind nicht aufeinander reduzierbar, da sie um jeweils eigene Bezugsprobleme herum organisiert sind (Parsons/Shils 1951: 54; Parsons 1959: 636). Systeme werden dabei gleichwohl als interpenetrierend betrachtet – d. h. in konkreten Phänomenen treten Aspekte unterschiedlicher Systembildungen auf (Parsons 1959: 649). Zugrunde liegt hier die Auffassung von Systemen als analytischen Konzepten (vgl. bereits den analytischen Realismus in Parsons 1949b: 730 ff.). Systeme tendieren dabei zu einem Gleichgewicht – dieses Gleichgewicht muss zwischen internen und externen Prozessen aufrechterhalten werden. In der Annahme, dass die Systemprozesse der Herstellung stabiler Gleichgewichte dienen, liegt der Hintergrund der funktionalen Interpretation des Systemmodells (Parsons 1951: 543). Wandel, Auflösung oder Mechanismen des Spannungs-Managements können die Folge gestörter Gleichgewichte sein (Parsons 1959: 631 f., 634, 676 f., 689). Es ist insbesondere die Vorstellung der Erhaltung eines Gleichgewichts, welche der Theorie den Vorwurf des ›Konservatismus‹ eingebracht hat. Dies ist in dem Sinne unangebracht, dass Parsons nicht die Dynamik leugnet, welche soziale Systeme kennzeichnet. Problematisch ist aber sicherlich die Vorstellung, dass insbesondere soziale Systeme von sich aus ein Bedürfnis zum Gleichgewicht entwickeln. Bedürfnisse sind aus der Sicht handlungstheoretischer Kritiker vielmehr immer individuelle Bedürfnisse.

2.2.2 Kognitiv, kathektisch und evaluativ

In der struktur-funktionalistischen Phase arbeitet Parsons stärker die Elemente der Orientierung in Situationen heraus. Ausgehend von der handlungstheoretischen Prämisse, dass individuelle Akteure den zentralen Bezugspunkt der Analyse bilden (Parsons/Shils et al. 1951: 4), unterscheidet Parsons Objekte, auf die sich Akteure beziehen können, Modi der Orientierung an diesen Objekten sowie Dimensionen der kulturellen Standards, auf die Orientierungen sich beziehen können. Die Objekte, auf die Orientierungen sich beziehen können, sind nicht-soziale, physikalische oder kulturelle, und soziale, d. h. individuelle oder auch kollektive Akteure. Drei Modi der Orientierung unterscheidet Parsons: kognitive, kathektische und evaluative (Parsons, Shils et al. 1951: 5). Kognition besteht in der Erkenntnis der Objekte und ihrer Bezogenheit auf erwünschte oder unerwünschte Konsequenzen (Parsons/Shils et al. 1951: 5). Die Tendenz, positiv oder negativ auf die Objekte zu reagieren, bezeichnet die kathektische Orientierung, welche die grundlegende Rolle für den selektiven Charakter des Handelns spielt. »Cathexis, the attachment to objects which are gratifying and rejection of those who are noxious, lies at the root of the selective nature of action.« (Parsons/Shils et al. 1951: 5)Footnote 6 Kathexis bezieht sich demnach auf die grundlegende Problematik einer Erhaltung der Gratifikations-Deprivations-Balance und ist daher immer mit einem Bezug zum Organismus verbunden (Parsons 1951: 5). Der evaluative Bezug besteht darin, die kognitiv unterschiedenen und unterschiedlich kathektisch besetzten Handlungsoptionen im Lichte von weiteren Handlungskonsequenzen zu bewerten. Dabei kommen kognitive, appreziative (Standards der Angemessenheit) und moralische Standards zum Tragen (Parsons/Shils et al. 1951: 5). Diese Standards erscheinen als Elemente der Wertorientiertheit des Handelns (Wertorientierungen), sie dienen aber auch der Klassifikation von den Wertmustern, auf die sich die Wertorientierungen beziehen können (Parsons/Shils 1951: 163). Diese Wertmuster zerfallen in belief systems, systems of expressive symbolism und systems of value-orientation standards. Der expressive Symbolismus verweist auf Ästhetik und Kunst (vgl. auch Parsons 1994: 96).

figure a

Parsons geht davon aus, dass alle drei Orientierungen – kognitive, kathektische und evaluative – in konkrete Handlungsorientierungen eingehen.Footnote 7 Gleichwohl lassen sich Handlungstypen danach unterscheiden, welche Aspekte einen relativen Vorrang vor anderen besitzen. Hier finden sich der instrumentelle, der expressive und der »moralische« Orientierungstyp (Parsons 1951: 48 ff.).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Affektive steht bei Parsons für eine unmittelbare Gratifikation von Bedürfnissen in Situationen, das Kathektische bezieht sich auf die Einschätzung einer Handlungssituation aufgrund einer Bewertung der Objekte. Auch in sie fließen die Gratifikationsbedürfnisse des Individuums ein. Das Expressive schließlich steht für das Ausleben von Affekten im Rahmen einer symbolischen Ordnung (»›acting out‹ of a need-disposition in terms of a pattern of expressive symbolism«, Parsons 1951: 58, vgl. auch 75, 78 ff.). Im Gegensatz zum Affekt ist das Expressive stärker symbolisch gefasst – hier wird Affekt als Selbstzweckhaftes gefasst. Im Gegensatz zum Instrumentellen gelte so für das Expressive, dass die entsprechenden Tätigkeiten »relativ ›funktions-‹ oder ›nutzlos‹ sind« und sie »der Aktor in weitestem Sinn als ›Zwecke in sich‹ vollzieht.« (Parsons 1994: 189 f.)Footnote 8 Zwischen dem Affekt und dem Expressiven liegt in diesem Sinne eine höhere Generalisierungsleistung vor, der sich über Symbole vollzieht: über den Körper und den erotischen Symbolismus, über die Kleidung bis hin zu Kunstwerken (Parsons 1951: 387 ff.). Hieran schließen auch spezifische Rollendifferenzierungen an. Diese betreffen nicht nur die Künstlerrolle, sondern auch die expressive Führerschaft. Die charismatische Herrschaft wird hier verortet. An ihr könne sich nicht zuletzt der Ausdruck solcher Bedürfnis-Dispositionen festmachen, die mit den institutionellen Mustern schlecht integriert seien (Parsons 1951: 403).

Die wechselseitige Durchdringung von personalem Bedürfnisgleichgewicht und sozialen Interaktionen erschließt eine Dimension der Sozialintegration, welche nicht allein auf moralische Werte zurückführt. Obwohl konkret verschränkt, sind die expressiven Formen der Vergesellschaftung nicht an moralische Erwägungen gebunden:

»The purely expressive type then would constitute the ›acting out‹ of the need-dispositions constitutive of the collectivity, the ›feeling of solidarity‹ of its members, but without direct involvement of morally evaluative considerations [...].« (Parsons 1951: 395)Footnote 9

In seiner strukturfunktionalistischen Phase überwindet Parsons damit die zuvor vorherrschende Verengung des Expressiven auf die moralisch integrative Funktion (vgl. Staubmann 1995a, 1995b: 39 ff.; Staubmann 1995a, b: 100 ff.).

2.2.3 Emotionen rollentheoretisch (die Pattern Variables)

Im Zentrum der wechselseitigen Durchdringung (Interpenetration) von Persönlichkeitssystem und Sozialsystem stehen Rollen. Einerseits beziehen sich Rollen auf Erwartungen, andererseits bilden sie Elemente sozialer Systeme, sofern es sich um normativ-kulturell abgestützte komplementäre Rollenerwartungen handelt (Parsons/Shils et al. 1951: 19, 23). Auch hier werden Gratifikationen geschaffen, nämlich solche, welche sich nach der Erfüllung oder Nicht-Erfüllung von Rollenerwartungen richten (Parsons/Shils 1951: 154) und schließlich kann das Bedürfnis zur Rollenerfüllung selbst zum Teil der Bedürfnis-Dispositionen des Individuums werden (Parsons und Shils 1951: 156).Footnote 10

Emotionssoziologisch relevant ist aber insbesondere die Aufnahme des Affektiven in die Pattern Variables. Unter Pattern Variables versteht Parsons eine Reihe von Entscheidungsalternativen, vor die Akteure in ihrer Deutung der Situation gestellt sind. Parsons unterscheidet fünf Paare (Parsons 1951: 46 ff.; Parsons/Shils 1951: 76 ff.):

  1. 1.

    Affektiv vs. Affektive Neutralität: Soll der Akteur seinen Gefühlen folgen oder soll er diese Reaktionen ausblenden?

  2. 2.

    Selbst-Orientierung vs. Kollektiv-Orientierung: Soll der Akteur seinen eigenen Interessen folgen oder sich an den Allgemeininteressen orientieren?

  3. 3.

    Universalismus vs. Partikularismus: Soll der Akteur allgemeine Standards bei der Bewertung der Situation anwenden oder sich auf die spezifische Situation einstellen?

  4. 4.

    Performanz vs. Qualität: Soll der Akteur andere Handelnde nach ihren Leistungen (Funktionen) beurteilen oder nach ihren ‚intrinsischen‘ Qualitäten?

  5. 5.

    Spezifität vs. Diffusität: Soll der Akteur nur spezifische Aspekte einer Situation berücksichtigen oder soll er die Situation in ihrer Gesamtheit wahrnehmen?

Parsons vertritt die These, dass jeder Handelnde in einer Situation genau zwischen diesen fünf Alternativen entscheiden muss, bevor die Situation für ihn eine bestimmte Bedeutung hat. Dabei handle es sich gleichzeitig um ein erschöpfendes set möglicher Aspekte der Handlungsbestimmung (Parsons/Shils 1951: 171).

Die pattern variables beschreiben einerseits Rollenerwartungen, sie können sich aber auch auf die Wertorientierungen oder das Persönlichkeitssystem beziehen. Affektivität meint dabei, dass im Gegensatz zur affektiven Neutralität dem »Interesse an unmittelbarer Gratifikation unabhängig von evaluativen Erwägungen« Vorrang eingeräumt wird (Parsons/Shils 1951: 80). Parsons geht demnach davon aus, dass es auch eine evaluativ »ungebremste« (nicht inhibierte) Reaktion gibt, in der Evaluation keine Rolle in der Handlungswahl spielt (Parsons/Shils 1951: 78, 84, 117).Footnote 11 »The most direct path to gratification in an organized action system is through expressive orientations; hence relative to the expressive, both the instrumental and the moral modes of orientation impose renunciations or discipline.« (Parsons 1951: 59) Affektive Neutralität meint daher auch nicht die Abwesenheit von Gratifikationsinteressen, sondern nur die Verschiebung weg von unmittelbaren Weisen der Befriedigung (Parsons/Shils 1951: 118). Die These der Nichtanwesenheit von evaluativen Elementen im Falle von Affekt steht in einer gewissen Spannung zur These, dass jede konkrete Handlung kognitive, kathektische und evaluative Elemente enthält (Parsons/Shils 1951: 162). Ebenfalls steht sie in einer Spannung zur These, dass die Pattern-Variables Rollenerwartungen (Parsons 1951: 60) und Wertorientierungen beschreiben (Parsons/Shils 1951: 78).Footnote 12 Das Konzept des Affektiven schwankt in diesem Sinne: Es meint einerseits eine evaluativ nicht inhibitierte unmittelbare Gratifikation, andererseits eine solche unmittelbare Gratifikation, die sich unter evaluativen Gesichtspunkten als eine durch andere Erwägungen zulässigerweise ungestörte Gratifikation darstellt.

Parsons nutzt die formale Struktur der Unterscheidung, um bestimmte Emotionen zu bezeichnen. Relevant für die Klassifikation von Motiven seien vorrangig die Unterscheidungen zwischen Affektivität und Neutralität sowie zwischen Spezifität und Diffusität (Parsons 1951: 105).Footnote 13 Daraus ergeben sich vier Fälle, die mit bestimmten Wertorientierungen hinsichtlich des Objekts verbunden seien: Der Liebe als Fall einer affektiven und diffusen Orientierung steht eine an affektiver, wechselseitiger spezifischer Gratifikation orientierte Haltung der »Receptiveness-Responsiveness-Attitude« gegenüber (die sich bei fehlendem Objekt auch als Ängstlichkeit (›anxiety‹) ausformt). Daneben finden sich die affektiv neutralen Haltungen des approvals (spezifisch) und die ebenfalls affektiv neutrale, aber diffuse Haltung des ›esteems‹ (vgl. Parsons 1951: 108, 130; Parsons/Shils 1951: 140, 186, 249).

2.2.4 Freudrezeption und die Generalisierung von Rollenerwartungen

Die Persönlichkeitsentwicklung untersucht Parsons ausführlich in Family, Socialisation and Interaction Process. Dabei reinterpretiert er das Entwicklungsphasenmodell von Freud im Lichte des eigenen Begriffsapparats. Ausgehend von der primären Identifikation mit der Mutter stellen sich die folgenden Entwicklungsstufen als diskontinuierliche Übergänge zu Differenzierungsniveaus dar, welche eine Erweiterung und Generalisierung der Objektbeziehungen beinhalten (Parsons/Bales 1956: 49 ff.). Diese Objektbeziehungen gehen für Parsons zugleich mit Rollenorientierungen einher, die entlang der Dimensionen der Machtdifferenz und Differenz zwischen instrumentellen und expressiven Orientierungen verlaufen (Parsons/Bales 1956: 46; Parsons 1964: 42 ff.) – wobei erstere mit dem Mustervariablenpaar Spezifität-Diffusität und letztere mit dem von affektiver Neutralität und Affektivität verbunden seien (Parsons/Bales 1956: 135; Parsons 1964: 43, 60).

Daneben sieht Parsons, dass stets organische Bedürfnisse in den Gratifikationsbedürfnissen wirken, da die »ultimate source of motivation« organisch ist (Parsons/Bales 1956: 386). So schließt das ›Es‹ an die organische Bedürfnisebene an (Parsons/Bales 1956: 85, 143), auch wenn es – wie Parsons betont – nicht mit einem ›Bündel von Instinkten‹ identifiziert werden könne, sondern als erlernter Teil des Persönlichkeitssystems betrachtet werden müsse (Parsons/Bales 1956: 85, vgl. auch 104, 178, 386). Neben der Kritik an Freuds Vorstellung des ›Es‹ als undifferenzierter Einheit (Parsons 1964: 109), findet sich zudem die Kritik an einer Auffassung des ›Ich‹, welche dieses primär mit der Abgleichung der äußeren Realität identifiziert (Parsons 1964: 23). Das ›Ich‹ müsse vielmehr selbst als kulturell geformt verstanden werden, in dem Sinne, dass es sich im Lichte kultureller Deutungsmuster auf Objekte beziehe (Parsons 1964: 24, 81). Schließlich müsse auch das ›Über-Ich‹ mehrdimensional gedacht werden. Es beinhalte nicht nur moralische Muster, sondern auch kognitive sowie expressive (Parsons 1964: 25). Affektivität entstammt also aus der Sicht von Parsons nicht allein dem ›Es‹, sondern wird – vermittelt über expressive Symbole – auch über Wertorientierungen bestimmt. Freud trenne zu Unrecht das ›Über-Ich‹ von affektiven Momenten (Parsons 1964: 25). Nach Parsons werden demnach nicht nur moralische, sondern auch kognitive und affektive Muster internalisiert. Diese Freudrezeption kann einerseits als Bestätigung eines übersozialisierten Konzeptes der Persönlichkeit gelesen werden (vgl. ›klassisch‹ die Kritik von Wrong 1961; aber z. B. auch Geulen 1989: 77 ff.; Habermas 1973)Footnote 14, andererseits eröffnet sie den Spielraum, die Entwicklung von Affekten als erlernte Generalisierung zu verstehen, die von einer ursprünglichen affektiven Bindung an die Mutter (primäre Identifikation) ausgeht (Parsons 1951: 155, vgl. auch 222). Der Interaktionsprozess selbst erweist sich in diesem Sinne als »generalization of affect.« (Parsons 1964: 29).

2.3 Die entwickelte Systemtheorie

Die dritte Werkphase von Parsons ist gekennzeichnet durch die folgenden Elemente: erstens die Formulierung des AGIL-Schemas im Anschluss an Bales, zweitens die Formulierung eines entsprechenden Differenzierungsmodells des allgemeinen Handlungssystems und drittens die Formulierung eines Medienkonzeptes. Seit den Working Papers in the Theory of Action (Parsons/Bales/Shils 1953) analysiert Parsons die Struktur des allgemeinen Handlungssystems mithilfe von vier Kategorien, die Bales ursprünglich für die Analyse von Gruppenprozessen verwendet hat. Handlungssysteme müssen nach Parsons stets vier Systemprobleme lösen: Adaption, d. h. die Anpassung an eine Umwelt, Zielerreichung (goal-Attainment), d. h. die Verwirklichung von Zielvorstellungen, Integration, d. h. die Herstellung eines geordneten Zusammenhangs der Systemprozesse, und schließlich Latenz, d. h. die Aufrechterhaltung von Mustern.

Anhand dieser vier Funktionsprobleme analysiert Parsons die Differenzierung des allgemeinen Handlungssystems. Dabei greift er auf die Differenzierung von Systemtypen zurück, welche er bereits in der struktur-funktionalistischen Phase vorgenommen hatte, ergänzt sie jetzt aber um einen vierten Systemtyp, den Verhaltensorganismus, dieser erbringt die adaptive Funktion.Footnote 15 Das Persönlichkeitssystem erfüllt die Funktion der Zielerreichung, das Sozialsystem die integrative und das Kultursystem die musterbewahrende Funktion.

Das AGIL-Schema wird als allgemeines Differenzierungsprinzip verstanden. Zugleich dient das AGIL-Raster der Beschreibung von Makro-Mikro-Relationen in dem Sinne, dass die Ausdifferenzierung der einzelnen Systeme intern wiederum in die vier Systemaspekte ›zerfällt‹. Von herausragender Bedeutung sind dabei zwei Systemreferenzen: das allgemeine Handlungssystem und das Sozialsystem (in dem die adaptive Funktion von der Ökonomie, die Zielerreichungsfunktion von der Politik, die integrative Funktion von der gesellschaftlichen Gemeinschaft und die musterbewahrende Funktion vom Treuhändersystem erfüllt werden).

Verbunden mit dem AGIL-Schema ist die Formulierung eines Medienkonzepts. Parsons geht davon aus, dass sich Handlungsprozesse mithilfe des Konzepts symbolisch generalisierter Medien analysieren lassen. Wie beim Geld handelt es sich auch bei den anderen Austauschmedien um symbolisch generalisierte Medien. Symbolisch sind Medien, da sie sich auf eine Realität beziehen, ohne selbst einen intrinsischen Wert zu besitzen. Generalisiert sind Medien, weil sie immer auf eine Reihe von unterschiedlichen Situationen angewendet werden können. Im Gegensatz zur Alltagssprache sind sie dabei einerseits allgemeiner: Geld z. B. kann zum Tausch einer Reihe von sprachlich ansonsten differenzierter beschreibbarer Gegenstände dienen und dient dabei als gemeinsamer Wertmaßstab, aber auch als Mittel der Wertbewahrung (Parsons 1980: 230). Anderseits sind Medien auch spezifischer als die Alltagssprache, weil sie nur für bestimmte Bereiche Geltung beanspruchen können (Parsons 1980: 144). Daneben lassen sich die Medien verstehen als Träger der Austauschprozesse zwischen den einzelnen Subsystemen. Sie sind jeweils verankert in einem Subsystem, zirkulieren aber hiervon ausgehend im weiteren System. Sie beschreiben folglich Weisen der Interpenetration zwischen den Systemen (vgl. auch Münch 1982: 149 ff.). Auf der Ebene des Sozialsystems unterscheidet Parsons Geld (Ökonomie), Macht (Politik), Einfluss (gesellschaftliche Gemeinschaft) und Wertbindungen (›commitments‹) (Treuhändersystem). Zudem macht Parsons Medien des allgemeinen Handlungssystems aus: Intelligenz (verankert im Verhaltensorganismus), Handlungsfähigkeit (›performance-capacity‹) (verankert im Persönlichkeitssystem), die ›Definition der Situation‹ (verankert im Kultursystem) und schließlich Affekt, der im Sozial system im Ganzen beheimatet ist (Parsons und Platt 1974: 24). »Parallel to the problem on the cognitive level of the relative instability of particularities of knowledge not fitted by criteria of cognitive significance into larger bodies of knowledge is the problem for affective identification of fitting particular associations into a larger network of associations.« (Parsons/Platt 1974: 83) Affekt bildet so die Basis für gesellschaftliche Solidarität (vgl. auch Parsons 1980: 245).

Gleichwohl sind Affektives und Kognitives für Parsons miteinander verbunden. So kann eine affektive Generalisierung die Folge kognitiver Generalisierung sein (»rational ordering of affect« Parsons/Platt 1974: 381), etwas, das Parsons beispielsweise als Folge gelingender studentischer Sozialisation bewertet: »Pluralization and upgrading of affect through cognitive functions is […] an outcome of successful student socialisation.« (Parsons/Platt 1974: 196) Generalisierung von Affekt meint dabei auch: die motivationale Bindung an höherstufige moralische Werte (Parsons 1978: 318). Parsons verbindet dies mit Überlegungen zur Religionssoziologie. Säkularisierung bezeichnet für ihn im Anschluss an Durkheim und Bellah nicht zuletzt die Generalisierung von Vorstellungen, welche ihrer Natur nach ursprünglich religiöse sind. Neben dem Kult des Individuums sieht er eine in den kulturellen Gegenbewegungen sich formierende Religion der Liebe – Parsons spricht hier auch von einer expressiven Revolution (Parsons/Platt 1974: 382; Parsons 1978: 253, 320 ff.). Auch sie steht für eine Generalisierung von Affekt, da es sich um eine Verallgemeinerung handelt, welche über ursprünglich biologisch gebundene Solidaritätsvorstellungen hinausweist.

Generalisierung des Affekts bezeichnet damit für Parsons einen Teil des allgemeinen evolutionären Trends (Parsons 1975: 39 ff.), der neben der Steigerung von Anpassungsfähigkeit, die Inklusion weiterer Gruppen in die Gesellschaft und einen Prozess der Wertgeneralisierung umfasst. Gesteigerte Inklusion und Generalisierung hängen demnach auch von der Fähigkeit ab, affektive Bindungen zu immer weiteren Bezugspersonen aufzubauen (Parsons/Platt: 381). Da Parsons immer auch die Grenzen einer allein auf Affekten beruhenden Vergesellschaftung sieht (vgl. seine entsprechende Kritik an einer reinen Ethik der Liebe, Parsons 1978: 319 f.), ist es aber wohl zu stark, zu sagen, dass im Spätwerk Affekt die integrative Funktion von Werten und Normen ablöst (Chen 2004: 269). Eher scheint eine ›dialektische‹ Lösung des Ordnungsmodells vorzuliegen, der zufolge Ordnung gleichzeitig auf affektiven und kognitiven Komponente beruht.

3 Kritik und Diskussion

Die differenzierteste Behandlung von Emotionen findet sich in der struktur-funktionalistischen Werkphase, in der Emotionen mittels der Trias Affekt, Kathexis und Expression gedeutet werden. Dass die entwickelte Systemtheorie mit einem Rückschritt hinter die dort gemachten Beobachtungen verbunden ist, behauptet Staubmann.Footnote 16 Sicherlich ist hier die Einordnung von Affekt in das Sozialsystem nicht unproblematisch – es scheint auch die Bindung des Affektiven an den Körper zu übersehen. Gleichzeitig nimmt Parsons die These, dass letztlich aus dem Organismus erwachsene motivationale Ressourcen für das Handeln zentral sind (»effort«), nicht zurück (Parsons 1978: 369, 410, 416). Parsons betrachtet Emotionen zugleich aber stets auch als symbolisch geprägte Muster der Situationsdeutung, die im Zuge von Interaktionserfahrungen mit einem Prozess der Generalisierung verbunden sind. Münch spricht hier von einer »Universalisierung affektueller Verbundenheit.« (Münch 1982: 114).

Nimmt man die Bindung an den Körper und die Rolle von Interaktionsprozessen in der Generalisierung ernst, so zeigt sich, dass die von Wrong (1961) geäußerte Kritik an einer »oversocialized conception of man« zu kurz greift. Emotionen sind zwar immer sozial geprägt, sie können sich auch als Rollenerwartungen ausformen (Affektivität, affektive Neutralität)Footnote 17, gleichzeitig müssen soziale Systeme aber immer in ein Gleichgewicht mit Bedürfnisdispositionen gebracht werden – Emotionales ist daher immer auch Teil der Interpenetration von Persönlichkeit und Sozialsystem. Parsons mag zur Analyse einzelner Emotionen weniger beigetragen haben und auch die Schichtungsdimension von Emotionen nur gestreift habenFootnote 18, bleibende Einsichten liefern aber die Idee der interaktiven Generalisierung von Emotionen sowie die These eines notwendigen Gleichgewichts affektiver und kognitiver sozialer Bindungen, ohne die Solidarität und gelingende Persönlichkeitsentwicklung nicht denkbar sind.