In Japan war es eines der größten ungelösten Rätsel der jüngeren Geschichte: Wohin verschwand die Leiche von Ministerpräsident Hideki Tojo, der 1948 als Kriegsverbrecher hingerichtet worden war? Ein japanischer Universitätsprofessor hat jetzt offenbar in amerikanischen Dokumenten die Lösung gefunden: Die Asche von Tojo, der eine entscheidende Rolle beim japanischen Überfall auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 spielte, wurde von einem amerikanischen Militärflugzeug über dem Pazifik verstreut – ungefähr 50 Kilometer östlich von Yokohama, Japans zweitgrößter Stadt, südlich von Tokio.
Es war eine ebenso brisante wie geheime Operation: Die Behörden der amerikanischen Besatzungsmacht setzten alles daran, damit die sterblichen Überreste Tojos und die von sechs anderen zusammen mit ihm hingerichteten Kriegsverbrecher nicht zum Kultgegenstand von japanischen Nationalisten und Fanatikern würden. Eine Glorifizierung als Märtyrer sollte unter allen Umständen verhindert werden. Sie waren in den Kriegsverbrecherprozessen in Tokio zum Tode verurteilt und 1948 – drei Jahre nach der Kapitulation des Kaiserreichs – mit dem Strang hingerichtet worden.
Professor Hiroaki Takazawa von der Nihon-Universität hat die lange geheim gehaltenen Dokumente bereits 2018 in den National Archives in Washington entdeckt, im Zuge von Recherchen über andere Kriegsverbrecherprozesse – ein Thema, auf das er spezialisiert ist. Er verbrachte dann Jahre damit, den Inhalt zu verifizieren und zu analysieren, bevor er die Papiere jetzt veröffentlichte.
Für die Hinterbliebenen sei das Fehlen der Asche eine Erniedrigung gewesen, sagt Hidetoshi Tojo, Urenkel des Hingerichteten. Aber er sei erleichtert, dass es jetzt mehr Klarheit gibt. „Wenn seine Überreste zumindest in japanischen Hoheitsgewässern verstreut wurden ... ich denke, dann hatte er irgendwie noch Glück“, sagte Tojo der Nachrichtenagentur AP. Wenn weitere Einzelheiten über den genauen Ort im Pazifik bekannt seien, wolle er seine Freunde einladen und dort Blumen ins Wasser legen, um seinem Urgroßvater Ehre zu erweisen.
Der 1884 geborene Tojo war einer der führenden Köpfe der japanischen Kwantung-Armee gewesen, die in der Mandschurei stationiert war und ab 1932 die Errichtung des Satellitenstaates Mandschukuo vorantrieb. Auch der Ausbruch des Krieges gegen China 1937 wurde maßgeblich von diesem Großverband und seinem expansionistisch geprägten Offizierskorps initiiert, deren Stabschef Tojo war. 1938 wurde er zum stellvertretenden Heeresminister, 1940 zum Heeresminister und im Oktober 1941 schließlich zum Premier ernannt. Zugleich übernahm er zeitweise verschiedene Ministerien.
Nach den schweren Niederlagen gegen die US-Navy im Pazifik wurde Tojo im Juli 1944 entlassen. Nach Kriegsende versuchte er, sich durch Suizid seiner drohenden Verhaftung zu entziehen, überlebte aber und wurde 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten in Tokio angeklagt. Im November 1948 erging das Urteil unter anderem wegen Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges und der unmenschlichen Behandlung von Kriegsgefangenen.
Die sieben Hingerichteten zählten zu den 28 japanischen Politikern und Militärs, die vor dem Militärtribunal angeklagt wurden. 25 wurden verurteilt, 16 von ihnen zu lebenslanger Haft, zwei erhielten geringere Gefängnisstrafen. Zwei weitere Angeklagte starben während des Verfahrens, und in einem Fall wurde die Anklage fallen gelassen. Mehr als 4000 Personen wurden von anderen Tribunalen wegen Kriegsverbrechen verurteilt, etwa 920 anschließend hingerichtet.
Der Umgang mit den Leichen der sieben Hauptkriegsverbrecher folgte dem Beispiel des Prozesses gegen die NS-Elite in Nürnberg 1946. Dort waren die sterblichen Überreste der zehn Hauptkriegsverbrecher (und Hermann Görings, der sich durch Selbstmord der Vollstreckung entzogen hatte) direkt nach der Hinrichtung im Städtischen Krematorium auf Münchens Ostfriedhof eingeäschert worden, die Asche nach Thalkirchen gebracht und am 17. Oktober in einen Bach gestreut worden, der in die Isar fließt. (Das von der Familie Jodl auf der Fraueninsel im Chiemsee angelegte Grab für Hitlers engsten militärischen Berater, Generaloberst Alfred Jodl, war immer leer; dennoch besteht es auch ein Dreivierteljahrhundert später immer noch, wenn auch inzwischen ohne vermeintlichen Grabstein.)
Hiroaki Takazawa verweist auf ein Schreiben des US-Majors Luther Frierson vom 23. Dezember 1948: „Ich bescheinige, dass ich die Überreste erhalten, die Kremierung beaufsichtigt und persönlich die Asche der folgenden hingerichteten Kriegsverbrecher auf See von einem Verbindungsflugzeug der 8. Armee verstreut habe.“
Wie Frierson im Einzelnen schrieb, wurden die Särge mit dem toten Tojo und den sechs anderen Verurteilten um 2.10 Uhr am Morgen des 23. Dezember 1948 mit einem Lkw aus dem Gefängnis abtransportiert, begleitet von einer starken Militäreskorte.
Nach einem Zwischenstopp und einer letzten Kontrolle in einer US-Militäreinrichtung in Yokohama traf der Konvoi um 7.45 Uhr in einem Krematorium der Stadt ein. Nach der Verbrennung wurde die Asche zu einem nahe gelegenen Flugplatz und an Bord einer Maschine gebracht. Mit ihr flog Frierson 30 Meilen weit über den Pazifik östlich von Yokohama, „wo ich persönlich die kremierten Überreste über ein weites Gebiet verstreute“.
Die an der Operation beteiligten US-Offiziere achteten sorgfältig darauf, die gesamte Asche zu zerstreuen. In einem Dokument heißt es, dass die Öfen nach den Verbrennungen „gänzlich gesäubert“ wurden. „Zusätzlich zu ihrem Versuch zu verhindern, dass die Überreste der Glorifizierung dienen könnten, glaube ich, dass es dem US-Militär vor allem auch darauf ankam, die Überreste nicht auf japanisches Territorium zurückkehren zu lassen ... als eine äußerste Erniedrigung“, sagt Takazawa.
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Doch auch ohne Asche wird den verurteilten Kriegsverbrechern im Japan der Gegenwart Tribut gezollt. Der Yasukuni-Schrein in Tokio, der dem Gedenken der Gefallenen seit der Meiji-Restauration 1868 gewidmet ist, schließt auch sie und Hunderte anderer Kriegsverbrecher ein. Tote Krieger gelten in der Shinto-Religion als „heilige Geister“. Hinterbliebene und konservative Politiker suchen den Ort – in dem keinerlei Überreste bestattet sind – regelmäßig auf, um die Toten zu ehren, was regelmäßig zu Verstimmungen in China, Korea und anderen Ländern führt, die im Zweiten Weltkrieg von japanischen Truppen angegriffen und besetzt worden waren. Erst im April 2021 schickte Premier Yoshihide Suga eine Opfergabe an die umstrittene Kultstätte.
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