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Die große Kunst der Verausgabung

Die Schauspielerin Susanne Lothar hat in den nur 51 Jahren ihres Lebens Maßstäbe auf der Bühne gesetzt. Sie erfuhr das Glück und die Wirren einer deutsch-deutschen Boheme

Der Tod kommt, wenn er kommt. Er fragt nicht, ob es Zeit ist. Viele erlöst er von Schmerzen, vom Alter. Manchen überrascht er. Jeder Tod ist traurig, aber ein junger Tod ist der traurigste, weil dann das Leben noch nicht zu Ende ist und eigentlich noch sehr viel Zukunft da gewesen wäre.

In der vergangenen Woche ist die Schauspielerin Susanne Lothar im Alter von nur 51 Jahren gestorben, mitten im Leben, mitten im Erfolg, im Ruhm. Sie hinterlässt ihre beiden Kinder Sophie Marie, 17, und Jakob Mühe, 14, und ihre Mutter Ingrid Andree. Susanne Lothar war doch ein Glückskind. Aber war sie auch glücklich?

Sie hatte ein Talent, eine große Begabung für die Schauspielerei - und dazu ein Elternhaus, das ihr von Anfang an den Weg dorthin ebnen konnte, wo sie sich wohlfühlte, wo sie hingehörte, nämlich auf die Bühne. Sie waren eine Hilfe, diese Eltern, aber manchmal sicher auch eine Last.

Hanns Lothar und Ingrid Andree waren zwei populäre Schauspieler ihrer Zeit. Lange währte ihre Ehe allerdings nicht. Die beiden heirateten 1959. Ein Jahr nach der Hochzeit kam ihre einzige Tochter, Susanne, auf die Welt. Fünf Jahre später verließ Hanns Lothar die Familie, die nicht seine erste war. Susanne Lothar konnte ihren Vater nicht wirklich kennenlernen. Der Vater wandte sich der nächsten Frau zu - einer Sekretärin aus Lübeck. Hanns Lothar aber hatte noch ein weiteres Kind, von der Schauspielerin Elfriede Rückert. Dieser Sohn, Marcel Werner (der Nachname stammte von seinem späteren Stiefvater Carlos Werner), war bereits 1952, acht Jahre vor seiner Halbschwester Susanne Lothar, zur Welt gekommen. Auch er starb jung, im Alter von 34 Jahren nahm er sich in Hannover das Leben.

Sein Vater Hanns Lothar wurde nur drei Jahre älter. Als er 1967 in Hamburg starb, war er erst 37 Jahre alt. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg - Susanne Lothar soll es nie besucht haben. Ingrid Andree ist inzwischen 82 Jahre alt. Sie nimmt noch immer gelegentlich Rollen fürs Fernsehen an. Susanne Lothars Mutter war es, die ihre Tochter für den Beruf begeisterte. Erwischt hat es Susanne schließlich, als sie "Nora" von Henrik Ibsen sah. Später erzählte sie, wie fasziniert sie war von "dieser Aufmerksamkeit, die ein Schauspieler bekommt. Die Leute im Publikum haben geweint oder getobt. Und plötzlich hatte ich Lust, diese Gefühle auch auszuloten."

Als der Beschluss gefasst war, es mit der Schauspielerei zu versuchen, konnte sie es, ihren berühmten Eltern sei Dank, geradezu unverschämt direkt angehen. Der Regisseur Jürgen Flimm beschreibt, wie Susanne Lothar bei ihm vorstellig wurde: "Dann, ich weiß es noch wie heute, kam sie eines Tages in mein Oberspielleiter-Büro im Thalia-Theater gestürmt, im Schlepptau einen Koffer. Sie zog mich auf die Probebühne, stülpte ihren Koffer um. Heraus purzelten Puppen, Teetassen, was sie eben so brauchte. Und dann fing sie an, mir von Gott und der Welt vorzuspielen. Es war der reine Wahnsinn." Damals war Susanne Lothar 15 Jahre alt.

Die Szene sagt viel über den Charakter, über das Wesen dieser Frau. Eigentlich alles. Über ihre Wildheit, ihre Echtheit. Eine Extremschauspielerin ist sie genannt worden. Aber sie hat auch, wie viele Schauspieler, zum großen Teil sich selbst dargestellt, und es war vermutlich sie selbst, die extrem war. Der Regisseur Luc Bondi sagte über sie: "Wenn sie einen Regisseur mochte, hat sie ihn instinktiv verstanden. Für Regisseure, die sie instinktiv nicht verstanden hat, da konnte sie nicht."

Sie hat sehr unterschiedliche Rollen gespielt. Zuerst natürlich Theater. Flimm nahm sie mit nach Köln, wo er sie mit großen Rollen versorgte, Gretchen im "Faust" und Cordelia in "King Lear". Aber erst ein Bühnenskandal machte sie zur Ikone: Als Lulu am Hamburger Schauspielhaus, inszeniert von Peter Zadek, war sie so ziemlich das Verruchteste, was es je auf einer deutschen Bühne gegeben hat. Fünf Stunden lang halb nackt, außer Rand und Band. Wie sehr sich diese Frau dabei verausgabt haben muss, wird wiederum aus den Erinnerungen von Jürgen Flimm deutlich: "Sie kam zu mir, schob ihre Jeans hoch. Ihre Beine waren übersät mit blauen Flecken. Lulu-Flecken." Wer sie damals in dieser Rolle in Hamburg sah, erzählt davon noch heute, und wer es verpasst hat, ärgert sich bis heute.

So richtig aus sich selbst heraus kam Susanne Lothar aber erst, als sie ihren kongenialen Schauspielerkollegen Ulrich Mühe kennenlernte, den einstigen DDR-Schauspielersuperstar. Sie lernten sich ein Jahr nach dem Mauerfall in Salzburg (vielleicht war es auch Zürich - hier widersprechen sich die Berichte) kennen und heirateten schnell. Susanne Lothar war Ulrich Mühes dritte Ehefrau, er hingegen ihr erster Ehemann. Mühe, der schon drei Kinder hatte, bekam mit Susanne Lothar weitere zwei. Die Familie lebte erst in Hamburg, später in Berlin-Charlottenburg. Die Ehe soll gut gewesen sein. Sie sollen sich gut verstanden haben. Vor allem aber haben sie gut zueinander gepasst - auch auf der Bühne. Es gibt nicht viele Schauspielerehepaare, die einander ebenbürtig Filmgeschichte geschrieben haben, so wie Mühe und Lothar als gefoltertes Filmehepaar in dem kaum zu ertragenden Horrorstreifen "Funny Games". Unter anderem.

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Als Mühe über angebliche Stasi-Spitzeleien in seinem privaten Umfeld gerichtliche Auseinandersetzungen führte und dabei in den Medien unappetitliche Wäsche ausgebreitet und gewaschen wurde, hielt Susanne Lothar zu ihm. Durch ihren Ehemann hatte sie ein nachträglich distanziertes Verhältnis zur DDR, zur Unfreiheit in Diktaturen entwickelt, eine Unfreiheit, die ihrem anarchistischen Drang nach Explosion und Freiheit komplett widersprach.

Auch Ulrich Mühe starb jung. Er hatte Krebs. Das war bekannt. An seinem Lebensende spielte er die Rolle seines Lebens: als wankender Stasioffizier in "Das Leben der Anderen". Mühe starb, kurz nachdem er für diesen Film einen Oscar bekommen hatte. Ulrich Mühe wurde nur 54 Jahre alt.

Susanne Lothar musste mit diesem Verlust zurechtkommen. Sie versuchte es mit Disziplin, unterbrach, als ihr Mann im Sterben lag, nicht die Proben für Zadeks Shakespeare-Inszenierung "Was ihr wollt". Doch innerlich hatte sie offenbar mit dem Leben abgeschlossen. Die Arbeit, in die sie sich stürzte, nannte sie "eine Therapie für sich selbst". Nun, nach ihrem Tod, wird gemutmaßt: "Vielleicht wollten ihre Kräfte nicht weiter ohne ihn", schreibt Susanne Lothars Freund, der Journalist Matthias Matussek, im "Spiegel". Und Flimm schreibt: "Ulis Tod hat sie dünnhäutig gemacht, morbide. Manche Menschen brennen an beiden Enden. Suse hatte keine Enden. Sie war eher ein unendlicher Kreis." Erklärungsversuche für den frühen Tod.

Woran sie starb, so sagte der Anwalt der Familie, solle "aus nachvollziehbaren Gründen" nicht näher mitgeteilt werden. Darauf macht sich nun jeder seinen eigenen Reim, und die Kaffeesatzleserei, die sofort begann, ist noch nicht beendet. Ihre "Tragik", ihr Leben "auf der Kippe" beschreibt Matthias Matussek andeutungsvoll. Von depressiven Momenten war die Rede. Dass sie zu viel rauchte und trank.

Sicher ist, dass sie der Tod ihres Mannes aus der Bahn geworfen hatte. Ihr Todesdatum (auch um das exakte Datum gab es zunächst Ungereimtheiten und Widersprüche) ist ziemlich genau der fünfte Todestag Ulrich Mühes - andeutungsvolles Schweigen.

Und doch spielte sie eine ihrer schrecklich-schönsten Rollen nach Mühes Tod: die Hebamme in "Das weiße Band" von Michael Haneke. Diese Hebamme ist eine hässliche und fürchterlich gedemütigte Frau. Eine Frau, die Selbstachtung und Ehre verloren hat und sich Dinge sagen lassen muss, die für den Zuschauer kaum zu ertragen sind. "Du bis' hässlich, und du stinkst aus dem Mund. Ich ekle mich vor dir." Es gehört für eine Schauspielerin mehr als Mut dazu, sich mit noch nicht 50 Jahren so für die Kamera zur Verfügung zu stellen. Es war, als hätte sie auch mit dem Frausein abgeschlossen.

Schauspielerei ist oft peinlich. Die gefühlige Übertreibung kann genauso peinlich sein wie die neu-theatralische Reduktion. Susanne Lothar war mit ihren Rollen am Abgrund nie in der Nähe von Peinlichkeit. Wahrscheinlich gelang es ihr gerade deshalb, so stark zu berühren. Das war große Kunst.

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Ihren letzten Fernsehauftritt hatte sie vor einem Vierteljahr, in einem eigentlich belanglosen ARD-Krimi. Wahrscheinlich erinnert sich kaum jemand daran, worum genau es in diesem Spreewald-Krimi der Serie "Polizeiruf 110" ging. Aber fast jeder hat noch das Bild im Kopf, das Susanne Lothar an diesem Sonntag im April hinterließ: eine Frau, Unternehmerin, die immerzu kämpft. Um Bedeutung, gegen das Alter, um Zuneigung, um Haltung. In dem Klein-Klein um Liebe und Tod nahm man Susanne Lothar wie gesondert wahr. So war es immer. Wahrscheinlich deshalb war ihr Gesicht bekannter als ihr Name.

Susanne Lothar war keine schöne Frau. Ihr Gesicht war spitz und blass, und es fehlte daran das sinnliche Fleisch. Es war ein europäisches Gesicht. Eines mit Wiedererkennungsfaktor. Eines, das fehlen wird.

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