Kind (8) jahrelang von Mutter eingesperrt? Kaum Zweifel, aber viele Fragen
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Kind (8) jahrelang von Mutter eingesperrt? Kaum Zweifel, aber viele Fragen

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Dieses Bild von Maria (Name von der Redaktion geändert) als Baby ist eine der letzten Erinnerungen des leiblichen Vaters an seine Tochter. Kurze Zeit später verschwand das Mädchen von der Bildfläche. Nun ist sie im Alter von fast neun Jahren in einem Haus in Attendorn gefunden worden.
Dieses Bild von Maria (Name von der Redaktion geändert) als Baby ist eine der letzten Erinnerungen des leiblichen Vaters an seine Tochter. Kurze Zeit später verschwand das Mädchen von der Bildfläche. Nun ist sie im Alter von fast neun Jahren in einem Haus in Attendorn gefunden worden. © Privat/Repro: Sebastian Schulz

In Attendorn soll eine Mutter jahrelang ihre Tochter in der Wohnung eingesperrt haben. Die Behörden haben das Kind jetzt befreit. Die Hintergründe sind noch unklar.

Attendorn – Der 23. September war ein Tag, an dem sich die Welt für Maria (Name von der Redaktion geändert) vollständig verändert haben muss. Alles deutet darauf hin, dass das achtjährige Mädchen bis zu diesem Zeitpunkt fast sein ganzes Leben in einem Haus verbracht hat – von seiner Mutter eingesperrt und versteckt. Ohne, dass es über all die Jahre jemand nachweisen konnte. An jenem September-Tag haben das Jugendamt und die Polizei das Haus in Attendorn (NRW) durchsucht und Maria dort tatsächlich gefunden. Sie ist sofort in einer Notpflegefamilie untergebracht worden.

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Kind (8) über Jahre von Mutter in Attendorn eingesperrt?

Es ist ein Vorfall, den man eher in die Anonymität einer Großstadt verortet und nicht auf die ländliche Region, in der die soziale Kontrolle doch vermeintlich deutlich besser funktioniert. Das sagt auch Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss, der die Ermittlungen in diesem Fall auf Nachfrage von sauerlandkurier.de vollumfänglich bestätigte.

Laut der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft durfte Maria das Haus nicht verlassen, seitdem sie mindestens anderthalb Jahre alt gewesen ist. „Viel von der Außenwelt kann das Kind daher bewusst nicht wahrgenommen haben“, sagt von Grotthuss.

Das deckt sich mit den Aussagen der heute achtjährigen Maria. Sie wurde nach ihrer Befreiung aus dem Haus in der Siegener Kinderklinik untersucht und habe dabei angegeben, dass sie noch nie einen Wald gesehen, noch nie auf einer Wiese gewesen oder in einem Auto gefahren sei. Alles sei so groß, es gebe so viel Platz. Bisher habe sie vor allem in einem Zimmer bei verschlossener Tür gelebt, heißt es in den Unterlagen zu diesem Fall, die unsere Redaktion einsehen konnte.

Kind jahrelang eingesperrt: Mutter und ihre Eltern äußern sich nicht

Immerhin: Den Umständen entsprechend geht es Maria gut. Staatsanwalt von Grotthuss beschreibt die Achtjährige als neugierig. Es liegen bisher keine Erkenntnisse auf Misshandlungen oder einer Unterernährung vor, sagt er. Maria könne sich artikulieren und laufen, wenngleich sie „kaum in der Lage sei, allein Treppen zu steigen oder Unebenheiten im Boden zu überwinden“.

Ganz bewusst geben ihr die Ermittler jetzt Zeit, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten, bevor sie mit den Befragungen konkreter werden. Denn es gibt jede Menge offene Fragen.

Die Frage nach dem Warum zum Beispiel. Warum hat die Mutter Maria über all die Jahre im Haus festgehalten? Die Beschuldigte macht bisher keine Angaben zu den Vorwürfen. Auch ihre Eltern, in deren Haus in Attendorn Maria und die Mutter gelebt haben sollen, äußern sich bisher nicht. Deutlich mehr Antworten gibt es dagegen auf die Frage, wie es der Mutter gelungen ist, ihr Kind über mindestens siebeneinhalb Jahre zu verstecken.

Als Maria im Dezember 2013 zur Welt kommt, scheint alles noch in Ordnung zu sein. Der Vater ist nach eigenen Angaben bei der Geburt dabei, auch wenn er und die Mutter zu diesem Zeitpunkt schon getrennt leben. Vater, Mutter und Kind sehen sich in der Folge oft mehrmals die Woche. Doch nach etwa einem halben Jahr, so berichtet der Vater, habe er einen Zettel an der Windschutzscheibe seines Autos gefunden, auf dem die Mutter angab, dass sie und Maria nach Italien ziehen werden. Wenn sie, Maria, ihren Vater sehen wolle, werde das geschehen, soll die Mutter auf dem Zettel geschrieben haben.

Kind jahrelang versteckt: Mutter gab an, in Italien zu leben

Das war 2014. Den Behörden gegenüber muss die Mutter angegeben haben, dass sie mit Maria erst Mitte 2015 nach Italien verzogen sei. Es gab eine Adresse, alles schien plausibel. Aber schon früh kamen erste Hinweise auf, die rückblickend den Gedanken zulassen, dass etwas nicht stimmen konnte.

Der Vater gab gegenüber dem Jugendamt an, die Mutter im September 2015 mehrfach in Attendorn gesehen zu haben. Das Jugendamt befragte daraufhin die Großeltern mütterlicherseits. Doch die gaben an, dass Maria und ihre Mutter in Italien leben würden.

Im Lauf der Jahre schickte das Jugendamt Post an die italienische Adresse, die dort auch ankam. Der leibliche Vater hingegen gibt an, Geschenke und Briefe an seine Tochter nach Italien verschickt zu haben, die allesamt ungeöffnet zurück kamen. Er habe mit dem Gedanken gespielt, selbst nach Italien zu fahren, um Maria zu besuchen – „aber es hätte keinen Sinn ergeben, weil ich dort wahrscheinlich vor verschlossener Tür gestanden hätte“, sagt er und ergänzt, dass er, der mittlerweile eine neue Freundin gefunden und mit ihr ein Kind bekommen hat, die Hoffnung auf einen Kontakt zu Maria schon aufgegeben hatte.

Zuständige Jugendamt schöpfte offenbar keinen ausreichenden, begründeten Verdacht

Auch das für Attendorn zuständige Jugendamt des Kreises Olpe schöpfte offenbar keinen ausreichenden, begründeten Verdacht. Es habe einzelne anonyme Hinweise gegeben, dass sich zumindest die Mutter in Attendorn aufhalten könnte, doch nachweisbar war dies nicht. Das Jugendamt hat mehrfach Kontakt zu den Großeltern aufgenommen; die beteuerten jedes Mal, dass ihre Tochter und ihre Enkelin in Italien wohnhaft seien. Zudem verweigerten die Großeltern dem Jugendamt nach jetzigem Ermittlungsstand bei mehreren Besuchen den Zugang ins Haus.

Schließlich schaltete sich auch die Polizei in den Fall ein, doch auch hier kamen die Beamten nicht weiter. Einen Durchsuchungsbeschluss gab es nicht. Freiwillige Begehungen des Hauses mit der Polizei lehnten die Großeltern „mit Nachdruck“ ab, wie es in den ersten Gerichts-Unterlagen zu diesem Fall heißt.

Den entscheidenden Hinweis erhielt die Polizei schließlich von einem Verwandten der mütterlichen Familienseite. Er gab an, dass er und seine Ehefrau erst kürzlich bei der Verwandtschaft in Italien gewesen seien, bei der auch Maria und ihre Mutter wohnen sollten. Die dortigen Verwandten gaben jedoch an, dass beide dort nie gelebt haben. Obendrein habe man Marias Mutter telefonisch im Haus der Großeltern in Attendorn erreicht. Bei den Behörden schrillten alle Alarmglocken. Sie setzten nun alle Hebel in Bewegung, um das Haus der Großeltern in Attendorn betreten zu dürfen.

Polizei und Jugendamt finden Tochter und Mutter am 23. September 2022

Am 23. September 2022 war es dann so weit. Polizei und Jugendamt konnten rechtlich gestützt endlich die Wohnräume durchsuchen und fanden tatsächlich Maria und ihre Mutter vor.

Wie es nun mit Maria weitergeht, ist unklar. Viele Dinge wurden und werden für sie geregelt: Untersuchungen beim Arzt zum Beispiel, die sie wohl nie bekommen hat; sie bekommt einen Pass und sie wird eines Tages zur Schule gehen. Sie wird wahrscheinlich ihren Vater kennenlernen, der sie bisher noch nicht sehen durfte, weil jetzt zunächst die Sorgerechtsfragen geklärt werden müssen. Der Vater erfuhr erst per Behördenbrief davon, dass seine Tochter im Haus in Attendorn gefunden worden ist. „Das war ein Schock“, beschreibt er seinen ersten Eindruck. Er würde Maria gerne bei sich aufnehmen und ihr die Welt zeigen, sagt er – „ein ganz normales Familienleben eben.“

Auch der Vater wird viele Fragen beantworten müssen

Doch auch der Vater wird – ebenso wie Nachbarn des Hauses – gegenüber den Ermittlern noch viele Fragen beantworten müssen. Denn für die Staatsanwaltschaft gilt es, diesen Fall von Grund auf aufzuklären, um zu verstehen, warum über so viele Jahre niemandem etwas Konkretes aufgefallen sein kann.

Die Mutter und vielleicht auch die Großeltern von Maria werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Strafprozess zu den Vorwürfen verantworten müssen. Freiheitsberaubung und/oder Misshandlung von Schutzbefohlenen stehen im Raum. Ebenso werden Gutachter hinzugezogen, die die Psyche von Maria und vor allem ihrer Mutter beurteilen sollen. Denn dass sich die Vorfälle so zugetragen haben, scheint nach bisherigem Ermittlungsstand außer Zweifel. Es bleibt die Frage: Warum?

Eine andere Geschichte aus Attendorn zeigt, dass Geflüchtete in Deutschland manchmal einen Umweg nehmen müssen - und dass es gelingen kann, wenn man es wirklich möchte.

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