1 Einleitung

Digitalisierung als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft zu erörtern, macht eben diese selbst zum Gegenstand wissenschaftlichen Tuns. Mithin ist dieser Beitrag eine Metaanalyse über den Gegenstand „Digitalisierung in der Kommunikationswissenschaft“. Mit Metaanalyse ist hierbei eine strikt heuristische und dabei weitestgehend werturteilsfreie Überblicksarbeit gemeint. Dabei werden theoretische Entwicklungslinien aus der Kommunikationswissenschaft sondiert, die sich um den Allgemeinplatz Digitalisierung versammelt haben.

Die Digitalisierung als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft zu erörtern, bietet eine stets im Blick zu habende, ambigue Besonderheit: Wir sprechen erstens über die Digitalisierung von etwas. Dies betrifft beispielsweise die Digitalisierung der interpersonalen Kommunikation oder die Digitalisierung journalistischer Arbeit, ebenso wie die Digitalisierung innerhalb von Bildungsinstitutionen. Digitalisierung in diesem Sinne geht im Gegenstand auf. Zweitens diskutieren wir in kommunikationswissenschaftlichen Kontexten die Digitalisierung als Gegenstand an sich. Hierbei wechselt die Sicht von einem Wandlungsprozess „traditioneller“ Gegenstände hin zu einer Theoretisierung eines metasoziologischen Phänomens. Diese Besonderheit ist für die Kommunikationswissenschaft genuin, hat sie doch mit dem Gegenstand der „Kommunikation“ einen ebenso ambiguen Forschungsauftrag. Zu diesen beiden erwähnten Zugängen kommunikationswissenschaftlicher Digitalisierungsforschung kommt mit dem historischen Zugang noch ein dritter dazu.

Die Digitalisierung in der Kommunikationswissenschaft zeichnet sich in nuce durch gegenständliche, (meta-)theoretische und historische Zugänge aus. Diese drei Zugänge werden im Beitrag vorgestellt. Hierzu wird zuerst der historische, daran anschließend der theoretische Zugang skizziert. Im dritten Teil wird mit dem Blick auf den Wandel der Fotografie ein gegenständlicher Zugang vorgenommen.

2 Ein historischer Zugang

Die Digitalisierung als historischen Prozess in der Kommunikationswissenschaft zu fassen, bedeutet für diesen Beitrag zuallererst, dass historische Vorgänge stark verdichtet werden müssen, was ihnen nicht gerecht werden kann, aber gleichzeitig eine notwendige Bedingung für deren Skizzierung darstellt. In diesem Zusammenhang unterteilen wir den historischen Zugang in vier Phasen (ab 1980). Diese vier Phasen werden durch zwei verschiedene Treiber bestimmt. Zum einen betrifft dies institutionelle Aspekte wie die Etablierung von Fachgruppen, die Besetzung von Tagungen mit bestimmten Themen und Publikationsorganen. Zum anderen betrifft dies auch reflexive Aspekte des Faches, die in einem bestimmten Selbstverständnis bzw. dem nach außen sichtbaren fachspezifischen Ringen um ein solches sichtbar werden. Betrachten wir im Folgenden diese vier Phasen, die sich mit dem Fokus der Digitalisierung in der Geschichte der Kommunikationswissenschaft entfalten.

2.1 Erste Phase – ab 1980

In der ersten Phase spielt die Digitalisierung nur eine untergeordnete Rolle. Es handelt sich eher um eine Randerscheinung. Das Fach hat sich in den 1970er-Jahren institutionell konsolidiert. Neben dem „ständig ansteigende[n] Zustrom von Studenten“ (Noelle-Neumann 1975, S. 744) zählen zur Konsolidierung vor allem auch die Etablierung praxisnaher Studiengänge, welche vom Memorandum des Deutschen Presserates für einen Rahmenplan zur Journalistenausbildung von 1971 angestoßen worden ist (Pürer 2014, S. 49). Koenen und Sanko (2017) sprechen im selben Atemzug vom „Auftrieb der universitär verankerten Journalisten- und Medienausbildung“ (Koenen und Sanko 2017, S. 129).

Dieser Auftrieb hat nicht nur zur Konsolidierung der mehr und mehr nachgefragten Kommunikationswissenschaft beigetragen, sondern ebenfalls zu einer Selbstreflexion der wissenschaftlichen Disziplin, deren Anstoß zum einen in einer „Ausdifferenzierung des Spektrums der Fachkompetenzen in Lehre und Forschung“ (Kröll 1980, S. 495) lag. Hierbei handelt es sich mithin um eine Wachstumsgrenze, die ihren Ausdruck in einer sich ausdifferenzierenden, aber nach Identität suchenden Wissenschaftsdisziplin findet. Zum anderen, führt Neverla ein, trifft die Kommunikationswissenschaft auf „die erste Welle der Computerisierung in den Redaktionen […], Bildschirmtext, Satellitenfernsehen und Verkabelung“ (Neverla 2003, S. 60). Dies ist ein Fingerzeig für das Selbstverständnis der Kommunikationswissenschaft. Durch einen sich ankündigenden Medienwandel war die Frage, ob die Kommunikationswissenschaft ein klares Materialobjekt hat bzw. inwieweit sich ein Potpourri an Materialobjekten öffnen ließe. Hierzu äußerte sich Saxer kritisch. Er sah in der Entgrenzung der Kommunikationswissenschaft einen „Etikettenschwindel, […] bestenfalls eine illusionäre Wissenschaftsprogrammatik“ (Saxer 1980, S. 533) und plädierte für einen klares Materialobjekt, namentlich die „publizistische Kommunikation im Sinne der (politischen) Berichterstattung von aktuell-universellen Massenmedien“ (Saxer 1980, S. 533).

Gegen eine solche Auffassung stand ein formalistisches Verständnis, welches, wie es Rühl ausdrückte „eine mögliche Identität der Kommunikationswissenschaft angesichts des evolutiven Wandels einer hyperkomplexen Umwelt, […] nicht in einer Objektbestimmung (z. B. durch ‚Medien‘), sondern in einer spezifischen Auswahl von Problemstellungen, -behandlungen und -lösungen“ (Rühl 1985, S. 241) sieht. Kröll fand dafür bereits einige Jahre zuvor den Ausdruck der „problemorientierten Flexibilität“ (Kröll 1980, S. 507). Dieses fachinterne Ziehen zwischen den traditionellen Kräften, die den Fokus der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft in der öffentlichen Kommunikation sahen, und progressiven Kräften, die für eine Öffnung und unhintergehbare Streuung der Disziplin standen, blieb und bleibt eine Konstante der Kommunikationswissenschaft über diese erste Phase hinaus (Koenen und Sanko 2017, S. 139).

2.2 Zweite Phase – ab 1990

In der zweiten Phase spielt die Digitalisierung für die Kommunikationswissenschaft eine nunmehr stärkere Rolle. Das macht sich schon institutionell bemerkbar. Am 17. Mai 1996 wird in Leipzig die Arbeitsgruppe „Computervermittelte öffentliche Kommunikation“ (später „Fachgruppe Digitale Kommunikation“) der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) gegründet. Die Jahrestagung der DGPuK im Jahr 2000 in Wien trägt den Titel „Kommunikationskulturen zwischen Kontinuität und Wandel. Universelle Netzwerke für die Zivilgesellschaft“ und adressiert den zeitgemäßen Medienwandel. Dieser zeigte sich in vielerlei Facetten. Von 1985 auf 1990 stieg die Verbreitung von PCs in deutschen Vier-Personen-Haushalten von 13 auf 32 % (Schildt 2007, S. 61). Diese Zahl steigt bis 2002 zwar ‚nur‘ auf 52 %, jedoch wächst sie stetig und ist verbunden mit der Gerätezunahme von Handys und Notebooks (Statistisches Bundesamt 2003, S. 97).

Die zeitgleich stattfindende Etablierung des Internets wirkt bei diesem Medienwandel ebenso mit. Tim Berners-Lee entwickelte 1989 am CERN das World Wide Web, welches das Internet massentauglich machte. User:innen entwickelten Blogs als eine Art online-Tagebücher, während Google seine Suchmaschine 1997 online schaltete, Apple 1998 den iMac vorstellte und 1999 mit dem Toshiba Camesse das erste Mobiltelefon mit Digitalkamera folgte. Auch klassische Medien wie „Der Spiegel“, der auf der Frankfurter Buchmesse 2004 seinen ersten öffentlichen Onlineauftritt vorstellte, forcierte diesen Medienwandel.

Die Kommunikationswissenschaft antwortete auf die technischen Entwicklungen zögerlich. In „Aviso“, der Zeitschrift, die vom Vorstand der DGPuK herausgegeben wird, fragte Michael Haller unter dem Titel „Das große Online-Palaver“, ob die „viele[n] Medienwissenschaftler“ sich zu Recht fasziniert vom „Megathema Multimedia/Online“ (Haller 1997, S. 16) zeigten. Noch zwei Jahre später verlautete Hans Bohrmann an gleicher Stelle, im Zentrum der Kommunikationswissenschaft stünden „ohne Wenn und Aber die Massenmedien“ (Bohrmann 1999, S. 6). Doch es gab auch Gegenstimmen, beispielsweise die von Peter Szyszka, der meinte, dass die Kommunikationswissenschaft sich nicht „die Ausgrenzung nicht journalistisch-massenmedial vermittelter Formen der Humankommunikation leisten“ (Szyszka 1998, S. 9) könne. Bucher und Kübler fügten hinzu, die Kommunikationswissenschaft liefe Gefahr, „von den moderneren, auf diese Entwicklung bereits reagierenden oder sie sogar vorantreibenden Disziplinen wie etwa Informatik und Informationswissenschaft, Kognitionswissenschaft, Computer Science, System- und Netzwerk-Management, Software Engineering, Media Design, Teleteaching etc.“ geradezu „überrundet“ (Bucher und Kübler 1997, S. 7) zu werden.

Diese zweite Phase brachte die Kommunikationswissenschaft zur Erneuerung ihres Selbstverständnisses, was wiederum an einem problematisch erscheinenden Materialobjekt lag, wie Wersig urteilte:

„Mit dem klassischen Mediensystem kam sie [die Kommunikationswissenschaft, Anm. S. G./J. G.] ganz anständig zurecht, da reichten auch die Theorievorräte früherer Hochzeiten. Mit den neuen Technologien und deren Organisationsformen, die kaum noch medial gebündelt sind, verlieren bisherige Ordnungskonzepte wie ‚Medien‘ oder ‚Öffentlichkeit‘ immer mehr an Orientierungskraft, der Mensch als Schnittpunkt vieler Kommunikationsformen muss entdeckt und kommunikationswissenschaftlich aufbereitet werden“ (Wersig 1997, S. 12).

Die Erneuerung des Selbstverständnisses der Kommunikationswissenschaft zeigte sich in Form eines Selbstverständnispapiers der DGPuK im Jahr 2001. Koenen und Sanko werten dies als Versuch, „die fragiler werdenden Grenzen und Konturen des Fachs gewissermaßen mit dem Verweis auf dessen Markenkern […] zu schließen“ (Koenen und Sanko 2017, S. 240). Dieser „Markenkern“ blieb die „indirekte, durch Massenmedien vermittelte, öffentliche Kommunikation“ (Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2001, S. 3). Das Selbstverständnispapier stand für die traditionelle Kommunikationswissenschaft. Hans-Bernd Brosius, seinerzeit federführend als Vorsitzender der DGPuK, urteilte zwei Jahre nach Erscheinen des Papiers:

„Die Phänomene, die Erscheinungsformen der Medien ändern sich, die dahinter steckenden [sic] Prozesse eben nicht. Und deswegen gibt es aus meiner Sicht auch im Zeitalter des Meta- oder Hybridmediums Internet keine neue Kommunikationswissenschaft“ (Brosius 2003, S. 47).

2.3 Dritte Phase – ab 2000

Die dritte Phase der Digitalisierung der Kommunikationswissenschaft forderte die Disziplin erneut zu einer Novellierung ihres Selbstverständnisses heraus. Die fortschreitende Digitalisierung griff nun stärker in die Lebenswelt der Menschen ein. Die Entwicklung des Web 2.0 und von Social Media war nun unübersehbar und führte zu einer „Erweiterung von Angeboten, Kommunikationsformen und Funktionen“ (Bleicher 2010, S. 28). Nun waren Facebook ab 2004, YouTube ab 2005 und Twitter ab 2006 nicht nur Angebote für Mediennutzer, sondern zugleich Möglichkeiten, user-generated content zu veröffentlichen und zu rezipieren. In Gestalt von Posts, Tweets, Blogs oder Podcasts entstanden Möglichkeiten der many-to-many Kommunikation, die nunmehr deutlich sichtbare Auswirkungen auf klassischen offline-Journalismus und die öffentliche Meinungsbildung hatten. Fragen der Funktionsverschiebung im Mediensystem waren nun ebenso virulent wie Medienkonvergenz und Crossmedia-Angebote.

Wie diese gewachsenen Herausforderungen des Medienwandels passend adressiert werden könnten, war die eine Frage; die andere war, ob die Kommunikationswissenschaft sich dafür zuständig fühlte. Auch wenn die Digitalisierung nicht der alleinige Grund für die Novellierung des disziplinären Selbstverständnisses war (siehe dazu Koenen und Sanko 2017, S. 147–150), zeigte sich in ihr die Notwendigkeit eines breiteren Verständnisses von Kommunikation, welches dennoch nicht entgrenzt war und damit in Wirkbereiche anderer Disziplinen eingreifen sollte. Im Jahr 2008 veröffentlichte die DGPuK ihr bis heute gültiges Selbstverständnispapier. „Die Kommunikations- und Medienwissenschaft greift in Forschung und Lehre gesellschaftliche Wandlungsprozesse auf. Zentrale Stichworte sind hier Digitalisierung, Globalisierung, Individualisierung, Mediatisierung und Ökonomisierung“ (Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2008, S. 3). Das Selbstverständnispapier der DGPuK hat damit wörtlich die Digitalisierung aufgegriffen und weist gleichzeitig auf ihren eigenen Wandel hin: „Während traditionell die über (Massen-)Medien vermittelte öffentliche Kommunikation den Schwerpunkt des Faches bildete, sind nunmehr verstärkt andere Formen der Kommunikation und ihre Verschränkungen in den Fokus gerückt“ (Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2008, S. 2). Der Gegenwartsbezug des Faches sollte damit ebenso konsolidiert werden wie der tradierte Fokus auf öffentliche Kommunikation.

2.4 Vierte Phase – ab 2010

In der bis in die Gegenwart reichenden vierten Phase führt der Spagat zwischen öffentlicher und medial vermittelter Kommunikation zu einer neuerlichen Auseinandersetzung über die Rolle der Digitalisierung in der Kommunikationswissenschaft. Es ist deutlich geworden, dass Digitalisierung Öffentlichkeiten verändert, evoziert oder gar konstruiert. In diesem Duktus schreibt Jarren, dass „Öffentlichkeit unter digitalen Bedingungen […] anders als die traditionelle Öffentlichkeit“ (Jarren 2017, S. 50) ist. Auch Hepp schlägt in diese Kerbe, wenn er fordert, dass es „eine falsche Antwort [wäre] zu sagen, die Kommunikations- und Medienwissenschaft solle sich primär mit öffentlicher Kommunikation als Gegenstandsbereich beschäftigen. Damit bleiben wir sowohl hinter den Möglichkeiten als auch hinter den Herausforderungen der Gegenwart zurück“ (Hepp 2016, S. 240).

Öffentlichkeit unter digitalen Bedingungen hat sich gerade auch durch theoretische Beiträge aus der Kommunikationswissenschaft ausdifferenziert. Konzepte wie deliberative Onlinenetzwerke (Gerhards und Schäfer 2010), Filter Bubble (Pariser 2011), Echo-Chamber oder Plattform-Öffentlichkeit (Eisenegger 2021) zeugen davon. Hinter solchen Konzepten liegt immer die Beobachtung, dass Öffentlichkeiten unter digitalen Bedingungen anders konstituiert werden als Öffentlichkeiten unter traditionellen massenmedialen Bedingungen. Dieses „anders“ kann die Kommunikationswissenschaft aber nicht bloß in Gestalt einer Substituierung von Akteur:innen oder Begriffen aufgreifen. Vielmehr führt dieser Prozess zu einer anhaltenden Debatte (siehe hierzu Hepp 2016 und nachfolgende Forenbeiträge online; Strippel et al. 2018) über die folgenden zwei Fragen: Welche Kernkompetenz zeichnet die Kommunikationswissenschaftlich aus und wie weit sollte sie ihre Gegenstandsbereiche erweitern? Folgt man Theis-Berglmair, sind diese Fragen notwendige Begleiterscheinung der Kommunikationswissenschaft, da „so gut wie jede technologische Neuerung im Bereich der Kommunikation in der Lage ist, mehr oder weniger umfangreiche Identitäts-, sprich Gegenstandskrisen unseres Fachs aus […] lösen“ (Theis-Berglmair 2016, S. 386).

Blickt man nur kurz weg von diesen Fragen auf eher institutionelle Aspekte wie die Umbenennung der DGPuK-Arbeitsgruppe „Computervermittelte öffentliche Kommunikation“ in „Digitale Kommunikation“ im Jahr 2016 oder auch die Gründung des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft als Deutsches Internet-Institut 2017 wird deutlich, dass es schon lange nicht mehr um Kernkompetenz oder Erweiterung geht, sondern darum, wie die Herausforderung der Digitalisierung kommunikationswissenschaftlich erforscht werden kann. Hierzu bietet die Kommunikationswissenschaft reichlich theoretische Beiträge, die mitunter noch zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Orientierung vermitteln. Dies lässt sich an den binär codierten Debatten ablesen: offline und online (Vorderer et al. 2015), privat und öffentlich (Eisenegger 2019), authentisch und theatralisch (Reissmann 2015) oder analog und digital. Womöglich ist diese Phase nur ein weiterer Aushandlungsprozess, der die Digitalisierung als zentralen Gegenstand kommunikationswissenschaftlichen Arbeitens etabliert. Diese These soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die kommunikationswissenschaftliche Theoretisierung der Digitalisierung bereits vielseitig stattgefunden hat, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.

3 Ein theoretischer Zugang

Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich facettenreich mit der Digitalisierung. Theoriebildungen können vorreflexiv auf Zeiten und Theorien rekurrieren, die nicht explizit auf die jüngere Digitalisierungsgeschichte bezogen werden können, wie beispielsweise ein binäres Zahlenkalkül oder Lyotards (2019) Beitrag zum postmodernen Wissen (siehe dazu Gemkow 2021, S. 173–177). Andererseits kann man den Startpunkt etwas später mit der Entwicklung des Internets, vor allem ab den 2000er-Jahren (Eisenegger 2021, S. 18) setzen, wie es auch in diesem Beitrag favorisiert wird.

Der theoretische Zugang wird im Folgenden abermals zwei verschiedene, aber nicht disjunkte Aspekte fokussieren. Der erste Aspekt ist eine Einordnung kommunikationswissenschaftlicher Digitalisierungsforschung, die die Frage behandelt, welche Perspektiven auf Digitalisierung in der Kommunikationswissenschaft verhandelt werden. Gemeint sind damit verschiedene Forschungsperspektiven wie beispielsweise die klassische Dreiteilung von Mikro-, Meso- und Makrotheorie. Konkret werden im Folgenden erstens techniksoziologische, zweitens mikrosoziologische und drittens institutionalistische Perspektive auf die Digitalisierung aus Sicht der Kommunikationswissenschaft geworfen. Der zweite Aspekt betrifft verschiedene kommunikationswissenschaftliche Theorien zur Digitalisierung. Beide Aspekte sind eng miteinander verwoben, da Theorien immer eine bestimmte Perspektive einnehmen (müssen). Mithin werden beide Aspekte im Weiteren zusammen dargestellt.

3.1 Techniksoziologische Perspektive

In der Natur der Sache liegt es, dass die Digitalisierung, bevor sie als gesellschaftlicher und gesellschaftsprägender Prozess zum Gegenstand der Kommunikationswissenschaft wurde, zunächst eine technologische Erscheinung war.

Diese Erscheinung lässt sich kommunikationshistorisch bis auf die Einführung des dualen Zahlensystems durch den alt-indischen Mathematiker Pingala im Jahre 300 v. u. Z. als Vorläufer der diskret binären Rechenoperation zurückführen (Leidinger 2017, S. 122). Aber auch die Entwicklung der Schrift beruht im Gegensatz zur visuellen Kommunikation auf diskreten Zeichen. Spätere Einschnitte sind die Einführung der Ziffer Null durch die Araber im damaligen Europa im 12. Jahrhundert, das binäre Zahlenkalkül der Leibniz’schen Chiffrierung im 17. Jahrhundert oder der Entwurf der mechanischen Rechenmaschine „Analytical Engine“ von Charles Babbage, veröffentlicht im Jahre 1837 (vgl. Schröter 2004, S. 8 f.; Werber 2004). Gemein ist all diesen Zäsuren der Digitalisierung, dass den Zeichen ein diskreter Wert zugeordnet wird. Die Zeichen sind dabei jedoch nicht nur vorgegeben (wie durch Buchstaben oder Ziffern), sondern auch Mittel der Digitalisierung, alles zu Zeichen werden zu lassen. Infolgedessen wird auch die Zeit im diametralen Unterschied zu analogen Technologien diskret. Nach Alan Turing geht es darum, „Diskretheit in die Zeit einzuführen, so daß [sic] die Zeit zu bestimmten Zwecken als eine Aufeinanderfolge von Augenblicken anstatt als kontinuierlicher Fluß [sic] betrachtet werden kann“ (Turing 1997, S. 192).

Die Digitalisierung aus einer unserer Sicht stärker techniksoziologischen Perspektive akzentuiert die ‚Basistechnologie‘ nach Krotz (2007, S. 31). Generell kann diese „Basistechnologie“ in drei verschiedene Abstufungen gegliedert werden: der Computer als ausführender Operand der Technologie; das Internet als netzwerkgestützte Infrastruktur und das World Wide Web als Benutzeroberfläche. Da die Digitalisierung von der Kommunikationswissenschaft als quantitativer und qualitativer Wandlungsprozess von medienkommunikativer Technologie einerseits, als soziokultureller Wandel andererseits verstanden wird, fokussiert die Disziplin „die gesellschaftliche Durchsetzung vor allem von internet- und computervermittelten Kommunikationsweisen“ (Göttlich et al. 2017, S. 159). Der Computer wurde als Basistechnologie der Digitalisierung in der Phase relevant, als er auf breite gesellschaftliche Verwendung stieß. Dieser Prozess kann etwa auf die 1990er- und 2000er-Jahre datiert werden.

Für diese Perspektive in der Kommunikationswissenschaft hat sich vor allem Andreas Hepp stark gemacht. Hepp argumentiert, dass die Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Kommunikationswissenschaft auf materielle Aspekte durch die Digitalisierung unabwendbar geworden sei. Als Beispiele dafür nennt er die Algorithmierung neuer und klassischer Medien. Die Digitalisierung führt nämlich nicht nur zur Entwicklung neuer Medien, sondern auch zum Wandel klassischer, beispielsweise des Fernsehens, das in seiner digitalisierten Variante mehr einem App-Angebot gleicht, welches über einen meist hochauflösenden und großen Monitor angesteuert wird. Die auf Algorithmen basierten Medien sammeln die dabei anfallenden Daten, interpretieren diese und stellen personalisierte Angebote bereit (Hepp 2016, S. 226). Soziale Wirklichkeit, so Hepp, wird „durch automatisierte, medientechnologische Prozesse mitproduziert“ (Hepp 2016, S. 230). Theoretisch anwendbar wird diese Position, indem Hepp sie auf die Theorie der kommunikativen Figuration (Hepp und Hasebrink 2014) rückführt. Kommunikative Figurationen beschreiben die Interdependenzen verschiedener Akteur:innen, die sich über verschiedene Relevanzrahmen und kommunikative Praktiken unterscheiden. Dabei können sich diese sozialen Gruppen, egal ob Familie oder Kollegium, durch medienvermittelte Kommunikation bzw. durch die Auswahl ihres speziellen Medienensembles verändern. Wie diese Veränderung aussehen kann, haben beispielsweise Röser et al. (2017) in ihrer empirischen Langzeitstudie „Mediatisiertes Zuhause“ zum häuslichen Wandel von Paaren aufgezeigt. Mit der Langzeitstudie konnten einige mediengetriebene Veränderungen – z. B. die abnehmende geschlechtergebundene Codierung der Internetnutzung – beobachtet werden (Röser et al. 2017, S. 157). Jedoch weniger als das Geschlecht sei vor allem eine „lebensweltliche Zäsur, die den Alltag der betroffenen Menschen dynamisch verändert und in der Folge auch deren Medienhandeln“ (Röser et al. 2017, S. 157), als größter Treiber für den Wandel der jeweiligen kommunikativen Figurationen auszumachen. Solche Zäsuren wie Elternschaft, Umzug, Trennung oder Berufseinstieg gehen also mit wandelndem Medienhandeln, Medienensemble und sicherlich auch weiter gedacht mit einem wandelnden Medienhabitus einher, indem bzw. in dem neue Praktiken eingeübt und neue Normen reproduziert werden.

Inwieweit eine stärker technikorientierte Perspektive der Kommunikationswissenschaft auf die Digitalisierung in einer möglichen „Datenwissenschaft“ (Strippel et al. 2018, S. 15) münden, ist noch nicht abzusehen. Viel eher – auch wenn das eine terminologische Differenz sein kann – scheint sich aus digitalen Materialitäten wie Algorithmen, Bots oder künstlicher Intelligenz ein (digital) veränderter Blickwinkel auf den Medienbegriff und auf das „Verständnis der heutigen Medienumgebung [sowie] ihrer wechselseitigen Bezüglichkeit von Medien und Infrastruktur“ (Hepp 2018, S. 39) zu ergeben.

Ein wichtiger Bezugspunkt in einer derart gelagerten technikorientierten Perspektive ist die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour (2007). Latour verweist darauf, dass auch nicht-menschliche Akteure Handlungsträger sein können. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Bodenschwellen, wie sie vor Kaufhäusern installiert sind. Durch sie werden wir gezwungen, unser Auto abzubremsen, da die Erschütterung der Bodenschwelle zu groß wäre. Die Bodenschwelle nimmt also die Rolle der Verkehrspolizei ein und fordert die Autofahrer:innen zu einer erwünschten Reaktion auf. Auch diese Entwicklungslinie setzt sich mithin für einen stärkeren Einbezug von Materialität ein. Für die kommunikationswissenschaftliche Digitalisierungsforschung bedeutet dies, zum einen stärker auf medienspezifische Affordanzen, also Handlungsbedingungen zu achten. Digitale Handlungsräume sind beispielsweise durch bestimmte medientechnische Materialitäten vorstrukturiert. Diese sind nicht allesamt opak – wie Algorithmen oder Infrastruktur, sondern zeigen sich an der Oberfläche wie beispielsweise Kommentarspalten, die im Falle von YouTube-Stars zu einer stärkeren kommunikativen und emotionalen Bindung führen können, die die parasozialen Beziehungen stärken. Die Akteur-Netzwerk-Theorie definiert Medien als Technologien derart, „dass sich diese Spezifik aber nicht von einem Medium aus ‚von selbst‘ entfaltet, sondern erst im Geflecht mit weiteren Handlungen“ (Hepp 2011, S. 65).

Die genannten theoretischen Zugänge und Beispiele zeigen, dass die von uns genannte techniksoziologische Perspektive kommunikationswissenschaftlicher Digitalisierungsforschung nicht im Gegensatz zu mikrosoziologischen Fragestellungen steht. Das Gegenteil scheint eher der Fall zu sein. Immer da, wo digitale oder digitalisierte Gegenstände in den Fokus der Kommunikationswissenschaft rücken, geht es um eine Aufwertung des Materiellen im Rahmen subjektiver und kollektiver Handlungskontexte.

3.2 Mikrosoziologische Perspektive

Die Kommunikationswissenschaft hat bezüglich der Digitalisierung auch explizit mikrosoziologische Ansätze hervorgebracht. Dazu zählt das Konzept der permanenten Vernetzung von Peter Vorderer et al. (2015). Auch wenn die Autor:innen die permanente Vernetzung unter den Terminus der Mediatisierung stellen, ist diese Kategorisierung für den vorliegenden Beitrag missverständlich. Mediatisierung als Metatheorie kann sowohl sozialkonstruktivistische als auch institutionalistische Forschungsrichtungen einschlagen (Gemkow 2021, S. 28), was zu Verwechslung führen kann, wenn ein Konzept, das nicht ausschließlich institutionalistisch ist, als Mediatisierung deklariert wird. Interessant ist das Konzept der permanenten Vernetzung aus einem anderen Grund. Es steht beispielhaft für den Versuch, ein Element klassischer Kommunikationswissenschaft (in diesem Fall: Vernetzung) als an sich wandelbar und damit wandlungsfördernd für alle Bereiche individueller Betätigung zu sehen.

Unter der mikrosoziologischen Perspektive sind auch Identitätsprozesse zu betrachten, wie die gestiegene Bedeutung von Performance bei einer permanenten Vernetzung. Soziale Medien – als digitale Plattformen der Vernetzung – haben zu einem „Übermaß an positiven Selbstdarstellungen“ (Vorderer et al. 2015, S. 270) geführt. Die Sozialen Medien sind zu theatral-medialen Ausspielräumen geworden (Reissmann 2015, S. 313), in denen die Netzwerkplattformen als showartige Medienrahmen (Teil-)Öffentlichkeiten kreieren, deren Publikum als kollektiver Selbstraum einzelner Menschen beabsichtigtermaßen Zeuge einer Inszenierung um Status- und Aufmerksamkeitsgewinne geworden ist. Eine Studie zur Visualisierung in Familien von Autenrieth (2017) zeigt beispielsweise, dass Kommunikation immer häufiger und in immer mehr Situationen mit immer ausdifferenzierteren Verwendungszwecken über Bilder erfolgt. Problematisch wird dies beispielsweise bei Kinderfotos, die durch die prinzipielle Persistenz, Kopierbarkeit und Suchbarkeit bei gleichzeitiger Unsicherheit bezüglich des tatsächlichen Publikums ethisch fragwürdig sind (Schutz des Kindes). In erster Linie sind sie aber Derivate eines performativen Zugzwangs der Eltern, die sich einem positiven Inszenierungsdruck durch Soziale Medien ausgesetzt sehen.

Auf einer beziehungspraktischen Ebene habe die permanente Vernetzung zu einer Stärkung sozialer Kontrolle auf Kosten von Vertrauen geführt (Vorderer et al. 2015, S. 265). Die Messengerdienste ermöglichen durch Übermittlungsbestätigung, Lesebestätigung, Onlinestatus oder Schreibaktivität ganz konkret und niedrigschwellig Kontrollmechanismen, die durch Datenschutzeinstellungen nur ansatzweise zu kontrollieren sind.

3.3 Institutionalistische Perspektive

Ein Imperativ des Technologischen und Subjektiven ist aber in der Kommunikationswissenschaft nicht auszumachen. Eine eher klassische institutionalistische Perspektive auf die Digitalisierung liefert beispielsweise Otfried Jarren (2016, S. 379). Demnach kann ein „Verständnis vormaliger Institutionaliserungs[sic]- wie De-Institutionalisierungsprozesse im Bereich der Massenmedien“ durchaus hilfreich für das Verständnis der gesellschaftlichen Bedeutung Sozialer Medien sein. Mit dieser Annahme kontrastiert Jarren die Institutionalisierung der Massenmedien als langen und von „staatlichen (Rechts-, Infrastruktur-, Frequenz- und Lizenz-)Entscheidungen maßgeblich geprägt[en]“ Prozess (Jarren 2017, S. 47) mit der Entwicklung der Sozialen Medien als dynamischen und sich kulturellen wie politischen Regelungen entziehenden Prozess. Mit den Sozialen Medien entstehe eine neue Institution, welche „gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse nicht schleichend verändere, sondern rasant transformiere“ (Jarren 2017, S. 46). Eine solche neo-institutionalistische Perspektive hat ihre Auswirkungen auf das genuin kommunikationswissenschaftliche Thema der Öffentlichkeit. So spricht Eisenegger mit Blick auf Soziale Medien von einer „Plattformisierung“ und in deren Folge von einem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Eisenegger 2021, S. 22). Dieser Strukturwandel lässt sich anhand von drei verschiedenen Ebenen beobachten.

Auf der partizipativen Ebene weicht die Asymmetrie zwischen Kommunikator und Rezipient:in, die charakteristisch für die massenmediale Öffentlichkeit war, einem dynamischeren Verhältnis. Das führt dazu, dass die Grenze zwischen Publikation und Konversation an Trennschärfe verliert (Hasebrink et al. 2020, S. 337). Ebenso führt es zu einer Abschwächung journalistischen Gatekeepings und zu einer Förderung „pseudo-journalistischer Medien-, Informations- und Öffentlichkeitsanbieter“ (Eisenegger 2021, S. 31).

Auf der sozio-ökonomischen Ebene zeichnet sich infolge der Entwicklung auf der partizipativen Ebene ein Bedeutungsgewinn von Intermediären und deren algorithmischen Selektions-, Aggregations- und Distributionsleistungen ab (Neuberger 2018, S. 33). Über das Leitprinzip algorithmenbasierter Individualisierung fragmentiert die Medienöffentlichkeit in interessengebundene „Kapillar-Öffentlichkeit[en]“ (Eisenegger 2021, S. 33) bzw. zu „networked publics“ wie Danah Boyd schon 2010 schrieb (Boyd 2010). Diese zeichnen sich u. a. durch eine Entgrenzung von Privatheit und Öffentlichkeit sowie durch die Unmöglichkeit der Einhaltung eines sozialen Kontexts aus.

Dies kann sich schließlich auf der kognitiven Ebene zu einer Stärkung gruppenbasierter Kontrolle (Fritsche et al. 2013) durch milieuspezifische Informationsrepertoires entwickeln, wie es die Diskussion um Filter-Bubbles oder Echo-Chambers zeigen.

Aus Sicht der institutionalistischen Perspektive auf die Digitalisierung ist es nur konsequent, dass bestimmte Entwicklungen wie die hier beispielhaft skizzierte auf eine Medienlogik zurückgeführt werden. Grundannahme einer Medienlogik ist, dass sich Organisationen, Institutionen und soziale Systeme an bestimmte mediale Formate anpassen. Im Falle der Öffentlichkeit wäre von einer „Plattform-Logik“ zu sprechen, die Eisenegger in Affordanzen, Gebrauch und Algorithmen unterteilt (Eisenegger 2021, S. 34). Das Prinzip der Medienlogik ist in der Kommunikationswissenschaft weit gestreut. Ein bekanntes internationales Konzept haben van Dijck und Poell vorgelegt, die von „Social Media Logic“ sprechen, worunter sie „processes, principles, and practices through which these platforms process information, news, and communication“ verstehen (van Dijck und Poell 2013, S. 5).

Mit Blick auf den theoretischen Zugang sei abschließend ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die hier skizzierten Perspektiven bestenfalls Schlaglichter kommunikationswissenschaftlicher Digitalisierungsforschung sind. Ganz ausgeblendet wurden beispielsweise praxeologische (Pentzold 2015), journalistische (Theis-Berglmair 2021) oder – wie die Mediatisierung bzw. Medialisierung selbst – metatheoretische Perspektiven (Hoffmann et al. 2017).

4 Ein gegenständlicher Zugang – vom Home Mode zum Platform Mode

Neben den historischen und theoretischen Bezügen wird nun eine gegenständliche Einordnung von Digitalisierung in der Kommunikationswissenschaft vorgenommen. Eine solche Einordnung kann je nach den sie betreibenden Akteur:innen – Subjekte, Organisationen wie Parteien, Bildungsinstitutionen oder die gesamte Gesellschaft – ganz unterschiedlich ausgeprägt sein. Ein Gegenstand, der die im theoretischen Zugang vorgestellten Perspektiven widerzuspiegeln vermag, ist die digitale Fotografie. Sie kann technisch als digitales Erzeugnis gelesen werden. Es beruht auf digitalen Rechenoperationen und wird durch eine Kamera erzeugt. Die Fotografie und die Kamera können unter techniksoziologischer Perspektive als Aktanten soziale Konstellationen mitkonstruieren. Personen des öffentlichen Lebens verhalten sich unter der Anwesenheit einer Kamera in der Öffentlichkeit womöglich anders als im Privaten; aber auch im Privaten führt das Wissen um die Potenzialität von Fotografien zu einer gewissen Theatralität. Die digitale Fotografie hat aus der mikrosoziologischen Sicht einer tiefgreifenden Mediatisierung ihre Spuren in der Lebenswelt vieler Menschen hinterlassen. Die Inszenierungen vieler Nutzer:innen auf den gängigen Social Media Plattformen zeugen von dieser Prägung. Ebenso ist die Fotografie institutionalistisch zu lesen. Als kollektive Symbole zeugen Fotografien vom Zusammenhalt bestimmter (Teil-)Öffentlichkeiten und prägen (pseudo-)journalistische Angebote, die sich immer mehr auf die Schlagkraft der Fotografie verlassen.

Interessant ist die Fotografie aber vor allem, weil sie für den digitalen Wandel in der Kommunikationswissenschaft steht. Als Forschungsgegenstand hat sie sich in der Theorietisierung und in der empirischen Erforschung gewandelt. So sprechen wir von einer Theorie der digitalen Fotografie, die wir im Folgenden als Platform Mode bezeichnen und – in Abgrenzung zu einer Theorie der analogen Fotografie, dem Home Mode, Bedeutung gewinnt. Zu unserem Verständnis der Platform Mode im Kontext des Wandels der Fotografie in der Kommunikationswissenschaft gehört mit dem Home Mode zunächst ein Blick auf die (prädigitale) Ausgangslage.

4.1 Der Home Mode

Das Konzept des Home Mode geht zurück auf den US-amerikanischen Kulturanthropologen Richard Chalfen, der seine Analyse der Bildpraktiken seiner Zeit 1987 veröffentlichte. Er definierte den Home Mode als „a pattern of interpersonal and small group communication centered around the home“ (Chalfen 1987, S. 8). Das „home“ zeichnet sich nicht ausschließlich über eine physische Kodierung aus, denn zum Home Mode gehören auch Familienfeiern, Geburtstage außer Haus, Reisen etc. „Home“ steht also weniger für eine lokale Gebundenheit als für die Zugehörigkeit zu einer Kleingruppe. Dennoch lässt sich „home“ auch lokal codiert lesen, wenn es um den Zugang zu den Fotografien geht. Da die Fotografien über Dias, Fotoalben oder „photographic walls“, also Fotografien in Bilderrahmen oder als Collagen an der Wand, lokal fixiert waren, war der Zugang zu den diesen nur über einen Zugang zu dem „home“ möglich. Die spezifische Kleingruppe, die aus Familien, Freund:innen, Bekannten oder Kolleg:innen bestand, hatte also grundsätzlich temporären Zugang zum lokalen „home“. Home Mode wird somit zu einem quasi-physischen Ort von Verhandlungskontext privater Fotografie, wie sie über Bekanntschaften oder Orte des eigenen Einzugsbereichs (Stadt, Schulklasse, Club/Verein) hergestellt werden.

Schwammiger als das, was unter „home“ zu verstehen ist, ist die Terminierung dieser Bildpraktiken. Chalfen selbst verweist auf das Jahr 1888, in welchem die erste Kodak Kamera unter dem Werbeslogan „You Press the Button – We Do the Rest“ (Chalfen 1987, S. 13) in den Handel gebracht wurde. Nach Nancy West vollzieht sich ein entscheidender Einschnitt aber erst zwischen 1888 und 1932, als Kodak selbst seine Werbestrategie änderte und die Fotografie von einer „form of play“ zu einer „form of memory“ wurde (West 2000, S. 12). Werbeslogans wie „At Home with Kodak“ von 1910 (West 2000, S. 160) oder „Let Kodak Keep the Story“ von 1927 (West 2000, S. 166) zeugen von diesem Wandel. Anders als Chalfen und West datiert Reissmann die Entwicklung zum Home Mode infolge der „stetig fortschreitende[n] Vereinfachung und Verbilligung der Technik“ in den 1930er-Jahren (Reissmann 2015, S. 128).

Das Wesen des Home Mode zeichnete sich durch ein Geflecht von Praktiken, Handlungs- und Interaktionszusammenhängen sowie Genres und Bildmotiven aus. Diese sind gemäß West vor allem von den Marketingstrategien von Kodak geprägt worden. Diese bestanden aus den Stoßrichtungen „leisure, childhood, fashion, antiques, and narrative“ (West 2000, S. 2) und zeugten damit schon von einer Idealisierung des Alltags, indem Themen wie Schmerz, Trauer oder Leid ausgeblendet wurden. Chalfen illustriert das an den fehlenden Bildern von „divorce proceedings“ oder „a child’s first medical checkup“ (Chalfen 1987, S. 93–94). Darüber hinaus zeichnet sich der Home Mode durch wenige Bildmotive aus. Fehlendes Experimentieren vor der Kamera und viel Klischee sind Normierungspraktiken dieser Zeit (Reissmann 2015, S. 136–137). Chalfen selbst bringt das mit einer Reproduktion von „ontological reality“ (Chalfen 1987, S. 121) in Zusammenhang. Dahinter steht der Wunsch nach stabilen Strukturen und kleingruppenspezifischer (Familie, Freunde, Kollegen etc.) Bindung. Grundlagentheoretisch kann hier das Konzept der ontologischen Sicherheit von Anthony Giddens aufgegriffen werden. Dieser hatte mit ontologischer Sicherheit eine „Form von Sicherheit“ gemeint, die „ein Gefühl von Zuverlässigkeit von Personen und Dingen [ausdrückt], wie es auch für den Vertrauensbegriff maßgeblich ist“ (Giddens 1996, S. 118). Diese Sicherheit wird unter anderem über eine Konventionalisierung der Handlungsroutinen wie beispielsweise Lächeln, Umarmen oder Blick in die Kamera hergestellt.

Es ist festzuhalten, dass sich der Home Mode durch eine Abgrenzung gegenüber professionellen, massenmedialen und öffentlichen Produktions- und Verwendungskontexten kennzeichnet. Die damit einhergehende kultursoziologische Sichtweise ist eher eine Randnotiz in der damaligen Kommunikationswissenschaft. Die Kommunikationswissenschaft hat sich mit der Fotografie überwiegend im Kontext von Werbekommunikation und Journalismus befasst. Während in der Werbekommunikation die Unnatürlichkeit als visueller Code und die ästhetische Qualität sowie deren Wirkungen eine Rolle spielen, hat die Fotografie im Journalismus durch ihre Bedeutung als objektives Fenster zur Welt und den damit konnotierten Tatsachen- und Realitätsbezügen an Bedeutung gewonnen.

4.2 Der Platform Mode

Die Fotografie hat im Zuge der Digitalisierung nicht nur einen Wandel an sich vollzogen, sondern auch eine größere Aufmerksamkeit in der Kommunikationswissenschaft erzielt. Der Wandel der Fotografie lässt sich als Wandel hin zu einer postmodernen Bildkultur (Mitchell 1992) begreifen, sodass wir im Folgenden auch von Fotografien und Bildern sprechen. Im Gegensatz zum Home Mode, in dem die Fotografie eine soziale Praktik von Authentizität und Erinnerung war, untergräbt die prinzipielle Manipulierbarkeit des Digitalen den Glauben an eine naive Repräsentation, wie Mitchell schreibt: „The emergence of digital imaging has irrevocably subverted these certainties, forcing us to adopt a far more wary and more vigilant interpretative stance“ (Mitchell 1992, S. 225). Allein die prinzipielle Manipulierbarkeit durch digitale Techniken ist noch nicht hinreichend für den Wandel vom Home Mode. Zwar kommt die Konstruiertheit alles Bildlichen durch die Digitalisierung zum Vorschein, jedoch war das Verständnis zwischen Realismus und Konstruktion – ganz explizit durch Wahl des Bildausschnittes, Retusche oder Kolorierung, sowie implizit durch die Theatralität – im Home Mode schon vorher gegeben. Die Inszeniertheit der Fotografie ist keine Erfindung der Digitalisierung und keine hinreichende Erklärung für den Wandel weg vom Home Mode.

Die bedeutende Veränderung des Home Mode scheint viel eher in der Entstehung einer dichten Medienumgebung zu liegen. Eine historische Entwicklungslinie dahin bietet das Konzept der „bedroom culture“ (McRobbie und Garber 1976). Darin zeichnen McRobbie und Garber die Alltagskultur weiblicher amerikanischer Teenager nach, die sich durch die Verfügbarkeit eines „bedroom and a record player and a permission to invite friends“ (McRobbie und Garber 1976, S. 220) auszeichnete. Eine zunehmende Meidung des öffentlichen Raums und eine damit verstärkt mediengetriebene Freizeitgestaltung lässt sich später auch geschlechterübergreifend in Deutschland festmachen. Das Fehlen funktionsoffener Räume in Zusammenhang mit der Kommerzialisierung vormals öffentlicher Räume verleiht der häuslichen Medienumgebung die Bedeutung eines jugendlichen Rückzugs- und Vernetzungsortes (Albert et al. 2019).

Neben der bildsemantischen und sozio-ökologischen Entwicklung muss man aber auch die technologische Seite in den Blick nehmen. Frühe Messenger-Dienste wie ICQ oder der Windows Live Messenger verfügten über gar keine Bildoption. Die ersten privaten Bildpraktiken waren auf privaten Homepages zu sehen, wo Fotografien entweder im Passbildformat die Betreiber:innen vorstellten oder deren Hobbies zeigten. Dagegen fordern heutige Netzwerkplattformen Fotografien bzw. Bildkommunikation über Profilbilder, Pinnwandbilder, Fotoalben oder Bildverlinkung regelrecht ein. Des Weiteren hat das Fehlen parasprachlicher Informationen insbesondere bei Instant-Messaging-Diensten und bei Posts auf Social Media Plattformen zu bildlichen Kommunikationsregeln in der Onlinekommunikation geführt (Smileys, Emoticons, Akronyme, Memes, Selfies) (Reissmann 2015, S. 299).

Über diese technologische Seite und die darin sedimentierten Praktiken hinaus haben sich Social Media Plattformen in der Alltagswelt vieler Mediennutzer:innen institutionalisiert. Die Plattform an sich ist – neutral ausgedrückt – zwar nicht mehr als „a programmable architecture designed to organize interaction between users“ (van Dijck et al. 2018, S. 9); aber unsere „cultural production is becoming increasingly platform dependent“ (Nieborg und Poell 2018, S. 4277). Diese Abhängigkeit drückt sich in der Institutionalisierung von Plattformen aus. Basierend auf den institutionskennzeichnenden drei Ebenen von Scott (2001) – der regulativen, normativen und kulturell-kognitiven Ebene – hat Katzenbach mit der technologischen Ebene Erwartungen und Regeln adressiert, die „in technisch-materiellen Artefakten und Strukturen verkörpert, übersetzt und weiterentwickelt werden“ (Katzenbach 2021, S. 69).

Der Argumentationsstrang über die Institutionalisierung von Plattformen kann hier nur skizziert werden (weiterführend u. a. bei Jarren 2021; Katzenbach 2021), aber schnell wird deutlich, dass Plattformen Kommunikation bspw. über AGBs regulieren. Bei Facebook bedeutet das ganz konkret, dass bei geposteten Fotografien Facebook eine „nicht-ausschließliche, übertragbare, unterlizenzierbare und weltweite Lizenz“ eingeräumt wird, um Fotografien „zu hosten, zu verwenden, zu verbreiten, zu modifizieren, auszuführen, zu kopieren, öffentlich vorzuführen oder anzuzeigen […]“ (Meta Platforms Ireland Limited 2022). Auf der normativen Ebene haben sich bestimmte Praktiken durch Social Media als verpflichtend für soziale Akteur:innen etabliert. Der performative Inszenierungsdruck junger Eltern wurde schon genannt und gehört ebenso dazu wie die Angst Jugendlicher vor sozialer Isolation durch einen möglichen Bedeutungsverlust in den Sozialen Medien oder bei Anschlusskommunikation in alltäglichen Gesprächen. Auf der kulturell-kognitiven Ebene steht die unhinterfragte Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Im Fall von Bildpraktiken auf Social Media haben sich die Netzwerkplattformen als Räume des Wettbewerbs etabliert. Die Aufmerksamkeitsknappheit, das quantitative Feedback (über Kommentare, Likes, Shares) und die algorithmisierten Belohnungsstrategien haben zu einer Celebrification geführt, indem Netzwerkplattformen als theatralisch aufgeladener Raum Medienpersonen zu Stars ihrer selbst geschaffenen kollektiven Selbsträume werden. Die Institutionalisierung von Plattformen hängt von der technologischen Ebene ab. Diese zeigt sich aber vor allem von ihrer infrastrukturellen Seite, da die Entwicklung hochauflösender Mobilkameras mit softwaregestützten Filtern bei gleichzeitiger nahezu flächendeckender Breitbandverfügbarkeit in deutschen Haushalten (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020, S. 6) Grundvoraussetzung für die Institutionalisierung ist.

Die bildsemantischen, sozio-ökologischen und technologischen Entwicklungen haben zusammen mit einer Institutionalisierung von Plattformen zu einem neuen Modus (privater) Fotografie geführt, der als Platform Mode bezeichnet werden kann. Damit ist nunmehr eine gruppenbezogene Kommunikation gemeint, die sich um Plattformen und deren Logiken (Regeln, Normen, Erwartungen) konstituiert und von ihnen abhängt. In der Analyse zeigt sich dieser Platform Mode als veralltäglichte Bildpraxis, in der die Inszenierung als Daseinsberechtigung der Bildkommunikation sich selbst genügt.

5 Fazit

Der vorliegende Beitrag hat Digitalisierung in der Kommunikationswissenschaft aus drei verschiedenen Zugängen thematisiert. Im historischen Zugang wurde aufgezeigt, wie die Digitalisierung Gegenstand des Fachs wurde. Damit einher ging ein sich wandelndes Selbstverständnis. Dieser Prozess ist keinesfalls abgeschlossen, sondern so dynamisch wie die Digitalisierung selbst. In einer Diskussion über die Zukunft der Kommunikationswissenschaft haben Strippel et al. dafür plädiert, nicht von einer „Zukunft der Kommunikationswissenschaft zu sprechen, sondern in diversen Zukünften zu denken“ (Strippel et al. 2018, S. 22). Dies lenkt den Blick erst einmal weg von konkreten Gegenständen hin zu einem Metaverständnisses des Fachs. Mit einem solchen Metaverständnis, hat Altmeppen konstatiert, dass die Kommunikationswissenschaft zu einer „Hilfswissenschaft“ degeneriere,

„wenn der Wettbewerb die Kommunikationswissenschaftler:innen dazu drängt, mit immer neuen Theorieangeboten ihre Konkurrenzfähigkeit zu beweisen, während bestehende ältere Theorieangebote, […], kaum noch zur Kenntnis genommen werden“ (Altmeppen 2021, S. 279).

Die Aufgabe der Kommunikationswissenschaft sollte stattdessen sein, „an gesellschaftlichen Problemen statt an disziplinärer Reputation“ (Altmeppen 2021, S. 279) zu arbeiten. An gesellschaftlichen Problemen, die im Aufgabenbereich der Kommunikationswissenschaft stehen, sollte es nicht mangeln.

Im theoretischen Zugang wurden verschiedene Perspektiven der Kommunikationswissenschaft auf die Digitalisierung skizziert, die mit je eigenen Theorien aufwarten. Der theoretische Zugang zeigt, welche Diversität innerhalb der Kommunikationswissenschaft vorherrscht und dass die „Zukünfte“ (Strippel et al. 2018) schon zur Gegenwart gehören. Zum Beispiel hat die Kommunikationswissenschaft mit dem institutionalistischen Ansatz zum Strukturwandel von Öffentlichkeit oder der Mediatisierungsperspektive in den vergangenen Jahren ein ausreichendes theoretisches Potpourri erarbeitet, um gesellschaftliche Probleme anzugehen. Einem Mangel an öffentlichkeitswirksamer Bedeutung von Kommunikationswissenschaft kann aber nur mit einer normativeren Sicht auf Problematiken gelingen (siehe dazu auch Meier et al. 2020), bei der nicht nur die Analyse und die Wirkung digital vermittelter Kommunikation und Öffentlichkeit thematisiert wird, sondern ebenso Lösungsansätze, wie sie die Medienpädagogik bieten kann.

Im gegenständlichen Zugang wurden schließlich am Beispiel des Wandels der Fotografie die Folgen der Digitalisierung für einen kommunikationswissenschaftlichen Gegenstand aufgezeigt. Auch hier trifft die Aussage zu, dass Bestandsaufnahmen ständig revidiert werden müssen. Die Analyse des Wandels der Fotografie vom Home Mode zum Platform Mode zeigt aber die Gestaltkraft kommunikationswissenschaftlicher Forschung. Ausgehend von einem scheinbar mikrosoziologischen Thema können über die Rolle von Plattformen bei der Etablierung neuer Bildpraktiken und die damit einhergehende makrosoziologische Bedeutung gesellschaftlicher Probleme erforscht werden. Mit Bezug auf den Platform Mode wäre zu fragen, wie Zusammenhalt über Bildpraktiken hergestellt wird, hinter denen keine stabile Kleingruppe und kein fundamentales „Home“ steht. Hier werden sicherlich auch Beharrungspraktiken greifen, mit denen bestimmte Figurationen auf den Plattformen gepflegt werden. Ebenso ist der Platform Mode für problematische Kommunikation wie Populismus relevant, da sich beispielsweise in rechtspopulistischen Gruppen bestimmte ästhetische Normen mit stereotypischen Urteilen erst in einer wiederkehrenden Bildpraktik zeigen. Die Kommunikationswissenschaft steht vor der großen Herausforderung, sich stärker in gesellschaftliche Debatten einzumischen und Probleme aufzudecken. Über die theoretischen Möglichkeiten dazu verfügt sie.