1 Öffentlichkeit und gesellschaftliche Relevanz

Ihre Popularität verdankt die Autorin Juli Zeh nicht zuletzt der politischen Grundeinstellung, die man in ihrem Werk ausmachen wollte. Ihr Engagement versprach eine neue Form des Eingreifens in die öffentlichen Debatten, einen frischen Zugriff auf Themen mit gesellschaftlicher Relevanz im literarischen Schreiben.Footnote 1 Diese Wahrnehmung konnte man bereits mit ihren ersten beiden Büchern verbinden: als fiktionale Reflexion der Jugoslawienkriege.

Diese unmittelbare Wirkausrichtung führte zu sehr schnellen Adaptionen der ersten Romane für die Bühne. Das Theater erkannte den inhärenten Zündstoff – und verbreiterte durch seine Umsetzungen die Rezeption der Schriftstellerin. Bereits der Debütroman, Adler und Engel, ist theatral adaptiert worden. Spieltrieb erlebte unter der Regie von Roger Vontobel am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg seine Uraufführung. Schilf folgte in einer Bearbeitung für die Bühne – die Uraufführung fand in zeitlicher Nähe zur Publikation des narrativen Ausgangstextes statt – und erhielt ein erstaunliches Lob der verantwortlichen Regisseurin: „Es scheint, dass die Theaterautoren sich weniger mutig als die Romanautoren den Entwicklungen der Gegenwart stellen“.Footnote 2 So formulierte es Bettina Bruinier, die gemeinsam mit Katja Friedrich eine Bühnenfassung nach Juli Zehs Roman geschrieben und – auch als Buch – vorgelegt hat. Zeh wäre demgemäß – soll man offenkundig schließen – so gegenwärtig, dass man ihre politische Aktualität an und auf die Schaubühne holen müsse.

Das Schauspiel ist per se Öffentlichkeit und partizipiert allein dadurch bereits am politischen Diskurs. Der Aufklärer Lessing und der Stürmer und Dränger Schiller sind historische Proben auf das Exempel. Was auf die Bühne gelangt, ist Gegenstand der politischen Debatte. Den Mechanismus der Verschränkung von literarischer Öffentlichkeit und Politik beschreibt bereits Habermas in seiner Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit.Footnote 3 Die Bürger sind an Verständigung untereinander interessiert und nutzen das Medium literarischer Öffentlichkeit, um moralische und politische sowie ästhetische Fragen zu diskutieren, Werte und Normen zu reflektieren und gegebenenfalls anders, neu zu definieren. Die Schaubühne liefert, unter anderem, den Gegenstand zu dieser Debatte des Publikums. Über eine Emilia Galotti, über Die Räuber oder Kabale und Liebe muss räsoniert werden, weil die gezeigten skandalösen Zustände, durch die vermittelten Affekte unterstützt, selbst auf Veränderung drängen. Diesen aufklärerischen Impuls trägt Juli Zeh in die Gegenwart, auch wenn sie zunächst keine Theaterstücke schreibt. Corpus Delicti allerdings war eine Auftragsarbeit zum Thema HexenjagdFootnote 4 (hier am Beispiel einer Gesundheitsdiktatur) für die Ruhr-triennale – und erlebte die Premiere dementsprechend vor der Romanfassung, welche die Autorin nachreichte. Zeh wurde also, wenn man so will, förmlich zum Theater getragen – und baute späterhin die Bühnenpräsenz, ohne weiteres direktes Zuarbeiten, ein in ihr transmediales Netzwerk. Einen Nobilitierungseffekt haben indes nur wenige Inszenierungen bewirkt – wie die schon erwähnte am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.Footnote 5 Inzwischen sind weitere Stücke, fürs Theater geschrieben und aufgeführt, hinzugekommen.Footnote 6 Umfassende Präsenz allein scheint freilich nicht zureichend, die Wertschätzung von Literatur zu steigern, sie, anders gesagt, zu nobilitieren.

Im medialen Verbund folgten jeweils Hörbücher und Hörspiele, eine Schallnovelle (mit Slut, bei Corpus Delicti)Footnote 7 – und drei größere Verfilmungen. Gerade diese sind zwar Teil des Nobilitierungsprogramms, verfügen aber, schon in der Romanvorlage, über keine unmittelbar gesellschaftlich eingreifende Thematik: Schilf, Spieltrieb sowie Unterleuten bedienen den politischen Erwartungshorizont nur mäßig. Man kann in Spieltrieb die aktuelle Generation der Nihilisten erleben, quasi eine Jugend ohne Gott (Horváth) heute, und die Figur Ada im Emanzipationsdrama sehen – oder, was der Film bevorzugt, daraus eine kleine Jugendromanze machen: mit Lehrerverführung und Internetdrohungen. Bei Schilf, vom Genre gesehen ein Kriminalroman,Footnote 8 ist fraglich, ob die Theorie der Paralleluniversen oder der moralische Entscheidungsdruck des Protagonisten im Zentrum stehen. Doch aus dem ambitionierten Diskurs von ‚Viele-Welten-Theorie‘ vs. Dezision wird als Adaption nur ein überfordertes Fernsehspiel. Unterleuten zeichnet ein Gesellschaftspanorama lediglich im Dorfmilieu – und generiert darin politische KlischeesFootnote 9 des Ostens und des Westens, die im TV-Format, für das ZDF, nochmals eindimensionaler ausfallen.

Im engeren Sinne politisch seien hingegen nur zwei ihrer Romane konzipiert, sagt Juli Zeh selbst: Corpus Delicti und Leere Herzen.Footnote 10 Doch weder der Motivbereich der Selbstoptimierung (Corpus Delicti) noch der satirische Sarkasmus, den individuellen Suizid als innovatives Geschäftsmodell auszubeuten (Leere Herzen), schaffte den Sprung auf die Leinwand oder in die TV-Ausstrahlung. Im Mainstream angekommen, trägt die transmediale Präsenz offenbar zu Zehs Popularität erheblich bei, vermindert aber gleichzeitig die Relevanz ihrer narrativen Texte für die diskutierende Öffentlichkeit. Damit verkehrt sich die Ausgangslage: Diejenigen Romane, die Zeh selbst als politisch bedeutsam ansieht, können durch Verfilmungen nicht transmedial in die Breite wirken (weil diese bislang fehlen) – obgleich sich ihr Aufstieg zur Bestsellerautorin dem gesellschaftspolitischen Diskurs verdankt. Die erreichte Popularisierung, die sich im Spielfilm manifestiert, verpasst die Politisierung deshalb ein ums andere Mal. Funktioniert Zehs transmediales Netzwerk deshalb nur noch als Nobilitierungsprogramm?

2 Nobilitierungsfunktion und Gegenwärtigkeit – das literarische Feld im Medienzeitalter

Wie verhalten sich das bisher skizzierte transmediale Publikationstableau (und das dahinterliegende, sich aus den Kooperationen ergebende, quasi ‚naturwüchsige‘ Netzwerk) zur Nobilitierungsfunktion, will ich hier fragen, und bedeutet politische Aktualität schon Gegenwärtigkeit?

Wie Nobilitierung im literarischen Feld funktioniert, hat Pierre Bourdieu ausführlich beschrieben.Footnote 11 Für das Medienzeitalter steht der Transfer ins transmediale Feld freilich noch weitgehend aus. Eine erste Annäherung habe ich in dem Band von Christina Rossi und Klaus Schenk am Beispiel Juli Zehs versucht.Footnote 12 Es geht mir hier und nun vor allem darum, die Rückkopplungen zu verstehen, welche die Anerkennung einer Verfilmung oder einer Theateradaption erzeugen. Grundsätzlich kann schon die transmediale Erweiterung eine Nobilitierung bewirken. Gemeint ist hier nicht etwa der bewusste Rückzug vom Markt, die künstliche Verknappung der literarischen Produktion für die wenigen Eingeweihten, wie sie etwa der George-Kreis pflegte, um daraus symbolisches Kapital zu schlagen. Im Gegenteil: Neben dem Buchdruck und seinen Fertigungsprozessen werden vielerlei Gewerke, auch audiovisuelle, benötigt, um dem Geschriebenen eine Anschaulichkeit zu vermitteln: durch den Klang fremder Stimmen, die Physiognomie, die Mimik und Gestik zahlreicher Schauspieler, durch die bildliche Präsenz sonst nur geschilderter Räume, etc. Ein Sachverhalt wird konkret, der zuvor imaginiert werden musste, nur der Vorstellungskraft im Leseprozess überlassen blieb. Der Film treibt diese präsentische Konkretion vermutlich weiter als alle anderen Formen der Adaptation. Es ist der bedeutsame Aufwand, der betrieben wird, um Literatur über den Leserkreis hinaus zu adressieren, der wieder positiv zurückwirkt auf das Ausgangsprodukt selbst, in unserem Fall: die Romane Juli Zehs prinzipiell nobilitierend. Doch für viele Leser legt sich der Habitus eines Thomas Thieme mit seinem ganzen Gewicht auf die Einbildung der Figur Rudolf Gombrowski, Miriam Stein verleiht ihrer Rolle Linda Franzen vielleicht mehr Kälte – in der Umsetzung ihrer Intrigen –, als Frau Zeh ihr möglicherweise hat mitgeben wollen. Die Charaktere vereindeutigen sich: allein durch ihr Erscheinen.

Damit wird der Vieldeutigkeit der Imagination einiges genommen, wenngleich zwischen „Anschauen und Vorstellen“ noch genügend Raum bleibt für den ‚impliziten Leser‘ und die aktive Mitarbeit der konkreten Rezipienten.Footnote 13 Diese präsentische Konkretion, bleiben wir primär beim Film, löst bestimmte Unbestimmtheiten auf, weil sie Bestimmtes zeigt. Der Effekt ist ein ontologischer, im Medium je nicht zu hintergehender. Deshalb entsteht häufig eine Enttäuschung im Rezipienten bei der Betrachtung von Literaturverfilmungen, weil Vorstellung und präsentisches Bild konfligieren.Footnote 14 Dennoch müssen die dargestellten Figuren nicht plan erscheinen. Sie können, mit den Gegebenheiten ihres Mediums, vielmehr anders komplex sein, irritieren und neue Unbestimmtheiten generieren.Footnote 15 Dann sind sie eher Appropriationen als Adaptionen, verglichen mit ihrer Quelle: produktive, ja schöpferische Aneignung einer literarischen Vorlage, nicht deren ‚werkgetreue‘ Umsetzung. Die so realisierten Filme sichern sich darin ihre ästhetische Eigenständigkeit – und mehren dadurch das ästhetische, das ‚symbolische Kapital‘ auch des Ausgangstextes, hier des vorliegenden Romans. Einige Beispiele – aus dem Portfolio des politischen und des Gesellschaftsromans entnommen – mögen das verdeutlichen. Es sind demgemäß wiederum Texte, die öffentlich eingreifen wollen und deren transmediale Vervielfachung eben darum zugleich nobilitierend wirkt.

Für die Kanonbildung literarischer Werke ist der Übergang vom Bestseller zum Longseller der entscheidende. Die Produkte müssen stets verfügbar sein, also nachgedruckt werden – und dies jenseits des Tagesgeschäfts. Die Barsortimenter haben diese Titel permanent auf Lager, die Verlage führen sie in ihrer Backlist. Geadelt sind Bücher aber erst, wenn sie als Klassiker wahrgenommen werden und den Weg zur Schullektüre gemeistert haben. Das macht diese Titel der Backlist für die Verlage so attraktiv. Das Risiko ist minimiert, die Honoraransprüche sind größtenteils abgegolten oder zumindest kalkulierbar – und die Nachfrage regelt sich von selbst: mit jeder nachrückenden Schulklasse. Eine filmische Adaption kann diesen Prozess insbesondere dann befördern, so meine These, wenn sie als ästhetisch anspruchsvoll, zugleich aber nicht zu experimentell gilt. Das ist, wie beim Roman, ein schmaler Grat – und mancher Versuch führt geradewegs in den Abgrund.

Volker Schlöndorff ist die Balance in Die Blechtrommel, der Verfilmung von Günter Grass’ Roman, beeindruckend gelungen; weniger überzeugend fiel hingegen sein Homo Faber aus: nach der Vorlage von Max Frisch. Der Vorleser von Bernhard Schlink scheint ein Paradebeispiel für Literaturverfilmungen im Unterricht – in der Adaption von Stephen Daldry; wenngleich, gerade im Ausland, vielfach kritisiert wegen seines vorgeblichen Verständnisses für die ‚Helfer-Täter‘ des Nationalsozialismus. Patrick Süskinds Das Parfum lebt als bilderrauschendes Simulakrum olfaktorischer Sinneswahrnehmungen weiter im Film von Tom Tykwer. Tschick, von Fatih Akin, lässt den jugendlichen Kultroman Wolfgang Herrndorfs als Roadmovie humorvoll durch Brandenburg ‚kacheln‘.Footnote 16 Dominik Graf macht aus dem neusachlichen Roman Erich Kästners, Fabian, einen experimentellen, vielschichtigen, komplexen und dennoch stringenten Film, der souverän die Weimarer Republik in ihrem Niedergang mit der Gegenwart parallelisiert.

Die Klavierspielerin gerät in der Regie Michael Hanekes in das Dilemma, einen Kunstfilm massenkompatibel vermarkten zu wollen. Elfriede Jelineks Narration hat das dennoch nicht beschädigt – und die Autorin ebenso wenig. David Mitchells Cloud Atlas findet unter der Regie von Tom Tykwer und den Wachowskis einen völlig anderen Erzählrhythmus als im Buch – und kann trotz dieser Eigenständigkeit nicht gänzlich überzeugen. Aber auch die teils problematischen Beispiele heben als Filme tendenziell das symbolische Kapital des Quellentextes an. Das könnte man von Florian Hoffmeisters Adaption des Romans von Katharina Hacker, Die Habenichtse, wohl kaum behaupten, so ambitioniert und autorenfilmhaft er sich auch gebärdet in seiner schwarz-weißen Optik. Detlev Buck hingegen scheitert in seinem Versuch, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt auf die Leinwand zu bringen, weil er auf Opulenz setzt und einen Welterfolg national verfilmen möchte. Dafür allerdings fehlten das Geld sowie die erzählerische Stringenz – und der Film wurde ein Flop.

Fulminant und kongenial wird man wohl nur wenige Appropriationen nennen können. Ein Beispiel wäre Sergei Bondartschuks Krieg und Frieden: ein Opus als Kinofilm, keine Serie, mit einer Laufzeit von rund 8 Stunden, je nach Schnittfassung, welcher der Detailfülle des Romans von Lew Tolstoi naturgemäß nicht gleichkommen kann, aber doch erstaunlich viel bewahrt vom Zeitkolorit, von der psychologischen Zeichnung der Figuren, vom epischen Gang der verästelten Handlungen.

Der kleine Exkurs sollte das Grundproblem erhellen, dem sich die transmediale Vernetzung als Nobilitierungsstrategie ausgesetzt sieht. Nur wenn auch das filmische Pendant sein künstlerisches Eigengewicht behauptet – und noch dazu von vielen verstanden wird –, greift der Mechanismus der Wertsteigerung im literarischen Feld, bildet sich ein Zuwachs an symbolischem Kapital.

3 Die filmischen Adaptionen der Romane Juli Zehs – im Überblick

Die nachfolgende Überblicksdarstellung entnimmt eine Passage aus Preußer: „Juli Zeh auf allen Kanälen“ (wie Anm. 12), 20–22.

Drei größere Produktionen sind als Verfilmungen der Romane Juli Zehs im engeren Sinne zu verzeichnen: Schilf, Spieltrieb und Unterleuten. Doch hier gibt es einige auffällige Diskrepanzen zum Bucherfolg. Der Aufwand ist jeweils nicht gering gewesen, dennoch haben den Film Schilf von Claudia Lehmann, bei 800.000 € Förderung,Footnote 17 nur 10.000 Zuschauer im Kino gesehen. Jede Kinokarte ist also mit 80 € subventioniert worden. Den Abschluss in theoretischer Elementarteilchenphysik, den Lehmann nachweisen kann,Footnote 18 merkt man dem Film und seinen beiden Protagonisten, die das Fachgebiet aber verkörpern sollten, nicht zwingend an. Spieltrieb von Gregor Schnitzler hat das Prädikat Besonders wertvoll erhalten. Die Fördersummen belaufen sich hier auf rund 1.350.697 €,Footnote 19 etwa so viel wie für eine Tatort-Folge.Footnote 20 Doch wer hat ihn angeschaut? „Besonders die Sprache von Ada und Alev wirkt gestelzt und so, als stünden die beiden immer mindestens drei Meter voneinander entfernt auf einer Theaterbühne. Oft klingen ihre Dialoge nicht geistreich, sondern auswendig gelernt“,Footnote 21 notiert die Rezensentin Anne-Sophie Balzer kritisch in der Zeit. Atmosphärisch brechen beide Spielfilme auseinander. Einige gute Kameraeinstellungen machen das nicht wett, was allein auf der Ebene des Sounds – besonders im zweiten Fall – billig verschenkt wird.

Unterleuten, unter der Regie von Matti Geschonneck, gelingt es noch am besten, die Komplexität der Romanvorlage zu reduzieren und zugleich sinnvoll zu adaptieren. Doch auch hier ist die extradiegetische Musik ein kaum zu ignorierendes Manko. Statt unterschwellig Spannung zu generieren (offenkundig die Intention), verklebt der einfallslose Score alle harten Schnitte und Einstellungswechsel, überdeckt die Geräuschkulisse – und wird mit stupider Regelmäßigkeit immer dann heruntergefahren oder ausgeblendet, wenn der Dialog verstanden werden soll. Ein Teil der Lösung hingegen liegt im Serienformat: Mit immerhin gut 270 Minuten Laufzeit (3 × 90) kann sich die Umsetzung Zeit lassen, Konstellationen episch zu entfalten. Hierin stecken sechs Millionen an ProduktionskostenFootnote 22 – und damit deutlich mehr als die knapp 4,5 Millionen für drei Tatort-Folgen: bei gleichbleibendem Set und Personal. Doch auch in der TV-Version bricht auseinander, was im Roman der entscheidende Twist ist. Figuren, die in der Miniserie auf naturalistische Glaubwürdigkeit hin angelegt werden – dies erfordert die geplante Ausstrahlung im ZDF nahezu –, wie Dr. Gerhard Fließ, der habilitierte Soziologe, zerreißen förmlich in einem psychologisch nicht mehr nachvollziehbaren Exzess der Gefühlsausbrüche. Man glaubt Ulrich Noethen nicht den Showdown, der ihn zum Rasenden bestimmt: gegen „das Tier“ Schaller, den Nachbarn, von dem seine Frau Jule annimmt, er sei für jedwede Bösartigkeit prädestiniert – und ihn entsprechend tituliert.

Möglicherweise zeigt das Scheitern der Filme auch einen Grundkonflikt der Romane bei Zeh auf: Es geht oft um (apokalyptische) Überbietung auf der Ebene des Plots.Footnote 23 Die Filme freilich wollen ihrerseits in der Regel zu viel sagen und treffen deshalb wenig. Diese Gefahr weisen auch die Bücher auf, die flott geschrieben sind und der eigenen Sprache selten, eigentlich nie misstrauen. Aber hier tritt die Gewagtheit der Konstruktion dem positiv entgegen. Sie macht erst deutlich, dass wir keinen Realismus des Erzählens erwarten dürfen. Im Gegenteil: Die Konstruktion schafft Realität – unsere Deutungen des Wirklichen.

In ihrem Frühwerk hat sich Juli Zeh dafür in tollkühne Metaphern verstiegen. Die Kritik sah diese ästhetische Ambitioniertheit durchaus kritisch, denn sie sollte den Kunstwerkanspruch markieren – und verkam letztlich zu barockem Ballast. Jetzt hindert kaum eine Metapher den Lesefluss – aber die Konstruiertheit wird sichtbar in der Überreizung der Plot-Twists.Footnote 24 Die Filme zumindest missverstehen diesen Kipppunkt – und unterstreichen die bis ins Groteske verzerrte Wendung, indem sie diese einfach bebildern. Sie verfahren weiterhin so, als verstünden die Charaktere sich selbst. Das aber wäre ein Irrtum – in der Romanwirklichkeit und im wirklichen Leben.

Nachzutragen bleibt die Intention, zumindest für Corpus Delicti eine Verfilmung zu realisieren: was freilich misslang. Juli Zeh hatte am Drehbuch mitgewirkt – vor inzwischen rund zehn Jahren. Beteiligt waren auch David Finck, ihr Mann, sowie der Regisseur Stefan Schaller, an dessen Erkrankung das Projekt letztlich scheiterte: nach jahrelanger Arbeit daran. Bezogen auf unsere Ausgangsthese wäre dies eine adäquate Umsetzung der politischen Bedeutsamkeit in eine transmediale Breitenrezeption gewesen.Footnote 25 Sie könnte rekurrieren auf die ohnehin weit etablierte Machtkritik der Körperdiskurse bei Foucault.Footnote 26 Ob die Adaption (deshalb?) gelingen würde, ist damit freilich noch nicht entschieden: und, um von den Theaterinszenierungen auszugehen, durchaus fraglich.

4 Netze und Netzwerkcharakter der Nobilitierung

Stephanie Catani bemerkt zurecht, Zeh spare „die für das 21. Jahrhundert charakteristischen sozialen Medien“ wie Instagram, Facebook oder Twitter bewusst aus – und belegt dies zusätzlich mit einem Zitat aus dem Roman Neujahr.Footnote 27 Dennoch präsentiert sich die Autorin, insbesondere im Roman Unterleuten, durchaus als Angehörige einer Generation der digital natives. Schenk spricht hier sogar von einer Virtualisierung des ErzählensFootnote 28 – was Galli wiederum nachdrücklich bestreitet.Footnote 29 Wie man die Dinge auch wendet: Zeh spielt zunehmend mit der zusätzlichen, der simulierten Welt. Sie versetzt eine fiktive Figur in die virtuelle Realität, indem sie Werke publiziert, die eben diese Figur geschrieben haben soll. Sie konstruiert Orte, die nicht existieren – und im Netz dennoch als quasi reale greifbar sind, etwa als Lageplan der Gemeinde Unterleuten. Doch erreicht sie so den Diskurs der digitalen Medien? Wohl kaum. Auch ist der Ertrag kein vordergründig politischer. „Trotzdem sind alle meine Romane Gesellschaftsromane“, sagt Zeh selbst.Footnote 30 Der Kontext ist also einigermaßen vertrackt. Das Netz, als Internet, wird thematisch, greift in das Romangeschehen ein, vor allem in Unterleuten – und ist in den Öffentlichkeitsstrategien der Autorin doch weitgehend ausgeschlossen. Es ist quasi eine Buchform des Internets, mit der sie operiert – und die im Film von Geschonneck bezeichnenderweise außen vor bleibt. Hierzu ein zweiter Exkurs: Szilvia Gellai untersucht die Netzwerkpoetiken in der Gegenwartsliteratur.

„Wie digitale Vernetzung unsere Gesellschaft verändert, gehört zu den drängendsten Fragen der Gegenwart. Wie jedoch dieser Prozess die zeitgenössische Literatur prägt, erfährt seit der enthusiastischen Erforschung von Hypertexten um die Jahrtausendwende wenig kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit. Dabei lohnt es sich, die Beobachtungsperspektive von der Literatur im Netz auf das Netz in der Literatur zu verschieben. Denn informations- und kommunikationstechnologische Netzwerke – und vor allem das Internet – schreiben sich zunehmend in die Romane der Gegenwart ein. Nicht selten avanciert das ‚Netz der Netze‘ sogar zum inhaltlichen Kernelement von erzählten Welten und wird dort vielfältig wirksam: von der räumlichen und temporalen Inszenierung des Motivs über das Zusammenspiel von Figurenkonstellationen und Erzähltechnik bis hin zur formalästhetischen und symbolischen Ausgestaltung der Texte.“Footnote 31

Offenbar hat Gellai hier Juli Zeh nicht im Blick, behandelt sie die Schriftstellerin doch lediglich als Rezensentin von Dave Eggers Roman The Circle.Footnote 32 Doch genau diese Form – nicht „Literatur im Netz“, sondern „das Netz in der Literatur“ – wäre deren Annäherung an das Phänomen: wie bei Eggers! Auch dessen Roman Every hat die Autorin wohlwollend besprochen.Footnote 33 Dennoch ist nicht zu übersehen, dass eher die Essayistin diese Thematik forciert, etwa in dem gemeinsam mit Ilija Trojanow verfassten Band Angriff auf die Freiheit.Footnote 34 Im Romangeschehen hingegen ist die Netzgesellschaft eine mitschwingende Determinante unter vielen, nicht der zentrale Gegenstand.

Ein Netzwerk – nun im Sinne transmedialer Verflechtungen oder als „Werknetz“ (Latour)Footnote 35 – hat Juli Zeh, soweit ich sehe, hingegen nicht bewusst aufgebaut, sondern es kam auf die Autorin zu. Dieses ist also nicht Teil einer komplexen medienpraktischen Strategie, sondern die Summe von Verbindungen,Footnote 36 die eine ‚Einzelkämpferin‘ unterhält, weil sie ihr Werk voranbringen will, vornehmlich ein Buchwerk. So kann sie einerseits Themen und Motive aus der digitalen Welt inkludieren und andererseits die tradierten Formen politischer Öffentlichkeit suchen, um gesellschaftlich zu wirken. Feuilletonbeiträge, Essaybände, Rundfunk- und Fernsehsendungen, Theaterstücke, selbst Poetikvorlesungen geraten so zum politischen Statement, das die Romane wiederum, komplex und gebrochen, spiegeln. Letzteres gelingt nicht immer zur Zufriedenheit der Verfasserin – oder des Publikums. Netze und Netzwerkcharakter der Nobilitierung freilich gehören in der digitalen Gegenwart zwingend zusammen, werden von Zeh aber offensichtlich nicht so verstanden. So ist die Autorin präsent ‚auf allen Kanälen‘ – und doch ein kontemporärer Anachronismus. Der transmediale Aufwand ist Beiwerk. Die Nobilitierung durch ein vielfach geknüpftes mediales Netzwerk fungiert also, strikt gesehen, nicht als intendiertes Programm. Juli Zeh verzichtet hier auf eine aktivere Rolle: Im Zentrum steht, für die Autorin, das Buch.Footnote 37