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FOCUS Magazin | Nr. 41 (2022)
Interview: „Ist das der Ausstieg aus dem Ausstieg, Frau Lemke?“
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Steffi Lemke, Bundesministerin fuer Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, aufgenommen im Rahme
imago images/photothek Steffi Lemke ist als Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz zuständig

Ausgerechnet die Grünen sorgen dafür, dass zwei Kernkraftwerke länger am Netz bleiben. Hier erklärt die Umweltministerin Steffi Lemke eine der schwersten Entscheidungen der Partei.

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Jetzt dürfen die Grünen wieder regieren, nach aus ihrer Sicht 16 quälenden Oppositionsjahren. Und ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Ziel, könnte der über Jahrzehnte erstrittene Atomausstieg in der Ampelkoalition scheitern. Es wäre ein – Verzeihung – GAU für die Ökopartei.

Niemand kann leugnen, dass die Zeichen der Zeit in dieser Frage gegen sie stehen. Der Atomausstieg wackelt. Angesichts von drohenden Blackouts und möglicher Gasmangellage werden die Stimmen der Befürworter lauter.

Nach wochenlanger Kritik hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck angekündigt, die Kraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim in den „Streckbetrieb“ bis April 2023 zu schicken. Ein auf den ersten Blick verschmerzbares Zugeständnis, doch in Partei und Fraktion gibt es durchaus Stimmen, die auf das vereinbarte Aus am 31.12.2022 bestehen. Vor dem Bundesparteitag, der diesen Freitag in Bonn beginnt, wollen die Grünen diesen Streit gern beilegen. Aber wie?

Spannend, aber gerade keine Zeit?

Schon jetzt gibt es einen Dringlichkeitsantrag, dessen Titel keinen Spielraum für Interpretationen lässt: „Keinen Tag länger – alle AKW abschalten!“ Bis zum Treffen in Bonn wird Habecks Ministerium sehr genau erklären müssen, wie die Einsatzreserve gesetzlich so ausgestaltet werden kann, dass der Ausstieg garantiert bleibt.

Bereits in der darauffolgenden Sitzungswoche soll das der Bundestag beschließen. Unter diesem Druck extrem beschleunigter Realpolitik in Kriegszeiten dürfte es laut, aber nicht wirklich existenziell werden für die grüne Partei und ihre Regierungsmitglieder.

Für die prinzipienfeste Umweltministerin Steffi Lemke sind Habecks Atomschwankungen dennoch eine politische Zumutung. Eigentlich hätte sie jene Politikerin sein wollen, die zu Silvester die letzten Reaktoren abschalten lässt. Nun findet sie sich in einer hitzigen Debatte mit Opposition, dem Koalitionspartner FDP und den eigenen Leuten wieder.

Steffi Lemke steht atomuhrpünktlich bereit

Am Donnerstag vergangener Woche, der Interviewtermin ist angesetzt für 17 Uhr, sickern Meldungen über die wechselseitigen Schuldzuweisungen zwischen Polen und der Bundesrepublik durch. Wer ist schuld am Fischesterben in der Oder? In diesen Tagen geht es ja dauernd um Schuld. In der Koalition. In der Außenpolitik. In der Wirtschaft. In ihrem Haus.

Steffi Lemke steht in ihrem Büro atomuhrpünktlich bereit für Foto und Fragen. An der Wand hängt ein großes Foto mit geschwungener Landschaft in mystischem Dunst. Romantisch. „Bielefeld“, sagt Lemke.

Die Frau, die für den sicheren Betrieb von Atomkraftwerken die Verantwortung trägt, spricht immer leise und dennoch fest. Jedes Wort scheint sie abzuwägen – um sich dann für die vorsichtige Variante zu entscheiden. Bei dieser Frau ist kein Raum für Gefühl oder Laune. Zumindest nicht in Interviews.

FOCUS: Frau Lemke, die Bundesregierung will Ende des Jahres aus der Kernkraft aussteigen. Jetzt hat sie sich aber für den Weiterbetrieb zweier Kraftwerke entschieden. Wie passt das zusammen?

Steffi Lemke: Im Winter zeichnet sich als Folge des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine eine Notlage in der Energieversorgung ab, auf die wir – so gut es nur geht – vorbereitet sein müssen. Deshalb bereiten wir vor, dass die AKW Isar 2 und Neckarwestheim bis Mitte April weiterbetrieben werden können, falls das nötig ist. Der Atomausstieg wird aber spätestens zum 15. April umgesetzt.

Aber was bringt eine Verlängerung um voraussichtlich ein Vierteljahr? Die Brennstäbe der beiden Kraftwerke werden ja im April aufgebraucht sein. Was dann?

Lemke: Dann gehen die beiden AKW endgültig vom Netz. Noch einmal: Wir treffen Vorsorge für eine erwartbar schwierige Lage im Winter und bauen parallel die erneuerbaren Energien mit Hochdruck aus. Die Hochrisikotechnologie Atomkraft ist nicht die Lösung all unserer Probleme, wie es CDU und CSU suggerieren.

„Eigentlich müssten wir Neubewertung des Risikos von AKWs vornehmen“

Also geht es nicht um die zwei Atomkraftwerke, sondern doch wieder um das große Ganze, um den Ausstieg aus dem Ausstieg?

Lemke: Es ist klar erkennbar, dass Union und FDP den Wiedereinstieg in die Atomenergie favorisieren. Absurderweise, muss man sagen. Denn es war ja die Union, die 2011 unter dem Eindruck von Fukushima nicht schnell genug aus der Atomenergie aussteigen konnte. Schwarz-Gelb hat damals unter Angela Merkel innerhalb kürzester Zeit mehrere AKW runtergefahren, nachdem dieselbe Koalition kurz zuvor auf eine Laufzeitverlängerung gesetzt hatte. Dieser Zickzackkurs war extrem teuer für die Bundesrepublik. Und jetzt wollen sie wieder zurück? Das ist riskant und unvernünftig.

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Aber müsste man nicht in Anbetracht der unsicheren Lage die Möglichkeit der Verlängerung des Streckbetriebs zumindest offenhalten?

Lemke: Auf keinen Fall. Eigentlich müssten wir eine Neubewertung des Risikos von Atomkraftwerken vornehmen. Denn jetzt sind die Kraftwerke auf einmal Ziel in einem Krieg geworden, mehrere Hundert Kilometer von uns entfernt. In einer solchen Situation neu in die Atomkraft einzusteigen – das wird diese Bundesregierung nicht tun.

Eine Neubewertung wird auch von Atomkraftbefürwortern verlangt: Kernenergie könne helfen, die Klimaschutzziele zu erreichen. Die finnischen Grünen sehen das längst so. Vielleicht muss auch aus Sicht der deutschen Grünen eine Neubewertung der Technologie erfolgen?

Lemke: Ich finde es schwierig, immer wieder zu versuchen, die Grünen in eine ideologische Ecke zu stellen. Wir treffen unsere Entscheidungen sehr rational und haben potenzielle Notlagen immer im Blick, während die Union die Gefahren der Atomkraft systematisch unterschätzt. Bei mir zu Hause sprechen die Menschen übrigens nicht über Atomkraft. Da geht es darum, wie man Photovoltaik aufs Dach bekommt.

Wie sicher ist der Betrieb der beiden alten Kraftwerke?

Lemke: Die Bürger dürfen erwarten und müssen sich darauf verlassen können, dass die Betreiber alles unternehmen, damit die Sicherheit gewährleistet ist – und zwar jederzeit.

„Längere Laufzeiten bedeuten bis zu 250 Tonnen mehr Atommüll“

Das klappt offensichtlich noch nicht so ganz. Isar 2 kämpft mit Ventilproblemen, Neckarwestheim hat angeblich Risse in den Röhren. Wer kontrolliert die Betreiber?

Lemke: Die jeweiligen Landesumweltministerien haben die Atomaufsicht inne, und das Bundesumweltministerium ist am Ende für die nukleare Sicherheit zuständig.

Die Periodische Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) wäre bei beiden AKW 2019 fällig gewesen, sie wurde ausnahmsweise wegen des beschlossenen Atomausstiegs ausgesetzt. Nun laufen beide Kraftwerke weiter. Was macht Sie so sicher, dass da nichts passiert?

Lemke: Bei der Periodischen Sicherheitsüberprüfung wird ein Kraftwerk in einem längeren Prozess auf Herz und Nieren geprüft. In der Tat hat der Gesetzgeber damals mit Blick auf einen Atomausstieg Ende 2022 entschieden, dass die PSÜ für drei Jahre nicht mehr vorgenommen werden muss. Richtig ist: Ein Weiterbetrieb für dreieinhalb Monate müsste ohne PSÜ erfolgen, weil sie allein zeitlich nicht mehr machbar ist. Ich halte das für schwierig, aber angesichts der potenziellen Notsituation für einen kurzen Zeitraum für verantwortbar. AKW werden permanent streng überwacht, sie unterliegen der staatlichen Aufsicht. Diese Aufsicht wird durch die atomrechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden der Länder im Auftrag des Bundes wahrgenommen. Dabei lassen sich die Länder durch unabhängige Sachverständige unterstützen. Wie bisher wird es auch für die Einsatzreserve keinen Rabatt bei der nuklearen Sicherheit geben.

Drei Monate dürfen sie weiterlaufen, sechs Monate nicht – wer soll das verstehen?

Lemke: Ein längerer Zeitraum würde bedeuten, dass die Kraftwerke neue Brennelemente bräuchten. Dann müssten sie nach Betreiberangaben einige Jahre am Netz bleiben – das wäre wirklich das Aufkündigen des Atomkonsenses.

Vielleicht verlangt aber die Zeit genau das?

Lemke: Die Zeit verlangt, dass wir jetzt endlich massiv in die Erneuerbaren investieren, und genau das tut diese Bundesregierung. Den Zickzackkurs der CDU/CSU in der Frage einer Hochrisikotechnologie halte ich für unverantwortlich. Auch der Endlagerkompromiss wäre dann Makulatur. Der radioaktive Abfall, der bei einer mehrjährigen Laufzeitverlängerung samt neuen Brennelementen durch die zwei süddeutschen AKW produziert würde, wäre beträchtlich. Wir haben ausgerechnet, dass zusätzlich 250 Tonnen hoch radioaktive Abfälle anfallen würden. Wo sollen die hin? Die Zwischenlager sind annähernd voll, bis wir einen Endlagerstandort gefunden haben, werden noch Jahre vergehen.

Würden die beiden Kraftwerke den großen Sicherheitscheck schaffen?

Lemke: In mehr als zehn Jahren hat sich technisch eine Menge getan, deshalb könnte diese Frage erst durch die PSÜ beantwortet werden.

„Die Grünen sind eine lebendige Partei“

Sie hätten die erste Politikerin, noch dazu aus der Partei der Grünen, sein können, die am 31. Dezember das Kapitel Atomkraft in Deutschland zuklappt. Sie werden sich während des Parteitags, der bei den Grünen „Bundesdelegiertenkonferenz“ heißt, einiges anhören müssen.

Bundestag - Haushalt
Foto: dpa Bundeswirtschaftsminister Habeck im Bundestag am Mittwoch.

Lemke: Ich rechne natürlich mit einer heftigen Debatte. Auch die Fraktion wird den Gesetzentwurf kritisch begleiten. Wenn dem nicht so wäre, wäre ich besorgt. Die Grünen sind eine lebendige Partei und haben schon oft kontroverse Debatten auf Parteitagen geführt, statt kritische Fragen einfach unter den Teppich zu kehren.

In der Atomfrage hat die FDP eine völlig andere Meinung als die Grünen. Und nicht nur da. Wir haben den Eindruck, dass die Ampelkoalition zwar gut gestartet ist, jetzt aber immer hektischer wird. Hat die Regierung ihren Kompass verloren?

Lemke: Wir sind in einer extrem schwierigen Lage. Da kann nicht alles glattgehen. Der Angriffskrieg Russlands verändert die komplette Weltordnung. Das macht politische Entscheidungen gerade unendlich viel schwieriger.

Man könnte auch umgekehrt argumentieren, dass gerade in Kriegsund Krisenzeiten die Regierung eine gemeinsame Linie haben sollte.

Lemke: Ich bin froh, dass meine Partei sehr verantwortlich handelt, wie sie es im Übrigen auch schon in früheren Krisen in der Opposition getan hat. Wir versuchen nicht, daraus politisches Kapital zu schlagen, sondern wollen das Richtige tun.

Zuletzt musste Wirtschaftsminister Robert Habeck kräftig einstecken. Zu Recht?

Lemke: Er ist eine exponierte Person innerhalb der Regierung, und deshalb wird er auch exponiert kritisiert. Ich unterstütze Robert Habeck selbstverständlich bei der Frage, wie wir Energiesicherheit in Deutschland in dieser Krise gewährleisten können.

Aber Sie haben sich auch nicht vor ihn gestellt.

Lemke: Ich habe mich an seine Seite gestellt. Wir haben uns bei der AKW-Einsatzreserve permanent eng abgestimmt und waren uns inhaltlich einig.

Die Grünen sind in der relativ kurzen Regierungszeit einen recht weiten Weg gegangen. Haben Sie das Gefühl, dass Sie in dieser Koalition kompromissbereiter sein müssen als Ihre Koalitionspartner?

Lemke: Meine Partei ist in der Lage, angesichts multipler Krisen das Notwendige zu tun. Wir machen es uns nicht in alten Denkmustern gemütlich. Darüber bin ich sehr froh.

Liebe Frau Lemke: Wird im Oktober 2023 in Deutschland noch Atomkraft genutzt?

Lemke: Nein, am 15. April 2023 ist spätestens Schluss.

Und wird dann die Ampel noch regieren?

Lemke: Davon können Sie fest ausgehen. Diese Regierung hat noch viel vor.

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