Das waren noch Zeiten, als Häuptlinge nur zuschauen durften und alle wichtigen Entscheidungen von der Versammlung der wehrfähigen Männer gefällt worden sein sollen. So jedenfalls beschrieb der römische Dichter Tacitus das "Parlamentsleben" der Germanen. Wer zustimmte, schlug mit seinem Schwert aufs Schild, Unwillen wurde durch Murren ausgedrückt. Stimmzettel waren noch nicht nötig, Handaufheben wohl auch nicht. Man traf sich je nach Bedarf alle paar Monate oder Jahre an "Thing-Stätten".
Später wurden Wahlen gern mit Geld und Privilegien geregelt, wobei die Wahlbeteiligung des einzig zugelassenen Hochadels schon vor 700 Jahren ein Problem gewesen sein soll: Damals, im Hochmittelalter, sollen sich immer weniger Stimmberechtigte an der Königswahl beteiligt haben, wobei die einen gelangweilt, die anderen erbost waren, weil sie zum Beispiel mit dem Nominierten nicht einverstanden waren. Jedenfalls blieben am Ende des 13. Jahrhunderts nur noch sieben Stammwähler übrig, die den deutschen König fortan unter sich ausmachten. Zu diesen Kurfürsten gehörten anfangs die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, sowie die Landesherrn von Böhmen, Sachsen, Brandenburg und der Pfalz.
So blieb es im Wesentlichen bis 1792, und bis dahin redete dem jeweiligen Monarchen auch selten jemand rein: Adel, Kirche und Städtevertreter, die in Landständen organisiert waren, durften sich vor allem dann zu Wort melden, wenn ihr Geld und Personal für Kriege gebraucht wurde. Ansonsten hatten sie sich vor allem ruhig zu verhalten. Erst die Französische Revolution schaffte nach 1789 neue Verhältnisse und machte die Idee einer Volksrepräsentation populär.
Nur die Reichsten durften wählen
In Bayern sollten nach der ersten Verfassung von 1808 nur die 200 reichsten Grundeigentümer in jedem Wahlkreis berechtigt sein, über Mandate der Volksvertretung zu entscheiden. Damals galt es unter "Fachleuten" als ausgemacht, dass nur Immobilieneigentümer wirkliches Interesse an öffentlichen Angelegenheiten haben könnten. Ab 1818 war die zweite Parlamentskammer in fünf Klassen eingeteilt: 12,5 Prozent der Mandate standen adeligen Grundbesitzern zu, die Universitäten in Landshut, Erlangen und Würzburg durften jeweils einen Abgeordneten entsenden, weitere Mandate waren anteilsmäßig Kirchenvertretern und Städten zugeteilt. Aus heutiger Sicht war es also mehr eine Lobby-Organisation.
Nur sechs Prozent der Bevölkerung waren damals wahlberechtigt, weil das von Grundbesitz und Steueraufkommen abhängig gemacht wurde. Ab 1848 erweiterte sich der Kreis der Wähler: Jeder volljährige männliche Steuerzahler durfte seine Stimme abgeben, wobei der Zettel zu unterschreiben war. Die so ermittelten Wahlmänner machten die Abgeordnetensitze dann unter sich aus.
Reisekosten schreckten ab
Im Revolutionsjahr 1848 war die Frankfurter Nationalversammlung, das erste deutsche Parlament, das leidlich demokratisch gewählt wurde, in etwa so groß, wie künftig der Bundestag: Rund 600 Abgeordnete wurden nach Frankfurt/Main geschickt, wobei die Zahl der Anwesenden wegen der hohen Reisekosten und den Ersatzmitgliedern stark schwankte und das Wahlrecht in den Einzelstaaten höchst unterschiedlich geregelt war.
Rund achtzig Prozent der Männer sollen wahlberechtigt gewesen sein, was als fortschrittlich galt. In Preußen zum Beispiel durften Männer ab 24 wählen, wenn sie einen eigenen Hausstand hatten und keine Armenunterstützung erhielten. In Bayern mussten Männer 25 Jahre alt sein und Steuern zahlen, um zu den Urnen zugelassen zu werden. Die 71 bayerischen Abgeordneten wurden indirekt bestimmt, pro 400 Urwähler-Stimmen gab es jeweils einen Wahlmann.
In Staaten wie Württemberg und Hessen wurde direkt gewählt, allerdings teilweise mündlich gegenüber den jeweiligen Kommunalbehörden. Deutschlandweit war für jeweils 50.000 Einwohner ein Mandat vorgesehen, wobei nicht die tatsächlichen Bevölkerungszahlen ausschlaggebend waren, sondern die aus veralteten Statistiken. Das stark wachsende Preußen bekam daher anteilsmäßig zu wenig Mandate zuerkannt.
Bismarck hoffte auf Stimmen vom Land
Für den Deutschen Reichstag mit seinen zunächst 382, später 397 Wahlkreisen hatte Kanzler Bismarck 1871 ein vergleichsweise modernes Wahlrecht durchgesetzt, weil er darauf hoffte, als "starker Mann" und erfolgreicher Kriegsheld die Stimmen der männlichen Landbevölkerung zu bekommen. Wählen durften alle Männer über 25 Jahre, was aber keineswegs hieß, dass ihre Stimmen gleiches Gewicht hatten.
Es gab durch die höchst unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung nämlich Wahlkreise mit weniger als 75.000 Einwohnern und welche mit mehr als 400.000. Im Wahlkreis Potsdam/Charlottenburg wohnten sogar knapp 1,3 Millionen Menschen. Trotzdem wurde der Zuschnitt der Wahlkreise bis zum Ende des Kaiserreichs nicht geändert: Die Landesfürsten hatten kein Interesse daran, den überwiegend linken Wählern in den dynamisch wachsenden Industriestädten mehr Einfluss zu geben.
Gewählt war, wer in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit der Stimmen erzielt hatte, weshalb es immer mehr Stichwahlen zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten gab. Wirklich wichtige Dinge wurden nach Bismarcks Auffassung ohnehin durch "Blut und Eisen" entschieden und die eigentliche Macht lag beim Kaiser und den souveränen Fürsten der Mitgliedsstaaten.
Kanzler Bülow zählte zu den "Ärmsten"
In Preußen galt bis 1918 noch das altertümliche Dreiklassenwahlrecht, wonach alle männlichen Wähler ab 25 nach ihrem Steueraufkommen aufgeteilt wurden, und zwar auf Wahlkreisebene, was zu teils grotesken Verzerrungen führte. Das jeweils reichste Drittel am Ort hatte ebenso viele Stimmen wie das mittlere und das ärmste Drittel des Gesamtsteueraufkommens, wobei es sehr von der Wohngegend abhing, in welcher Abteilung der jeweilige Wähler landete. So musste der gewiss nicht "arme" Reichskanzler Bernhard von Bülow 1903 in seinem Berliner Villen-Viertel in der 3. Klasse abstimmen, weil er dort mit seinem Einkommensteuerbescheid vergleichsweise "unterprivilegiert" war.
1913, am Ende des Kaiserreichs, gab es in ganz Preußen gerade mal knapp 200.000 Wähler in der ersten Klasse, die insgesamt ebenso viele Steuern zahlte wie die zwei Millionen Wähler in der dritten. Im Übrigen waren die Urwahlkreise so geschnitten, dass es den Konservativen optimale Vorteile brachte. Die von den Wählern bestimmten Wahlmänner trafen sich dann, um die eigentlichen Abgeordneten zu küren. Auf dieser zweiten Ebene gab es keine Einteilung in Klassen mehr, jeder Wahlmann hatte gleiches Stimmengewicht. Für ein Mandat war die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen nötig.
Parteien ohne Hochburgen benachteiligt
In der Weimarer Republik durften ab 1919 erstmals Frauen und Soldaten wählen, was die Zahl der Wahlberechtigten über Nacht von 14,5 Millionen auf 37,4 Millionen erhöhte. Bis dahin galten Frauen als zu "emotional" für die Politik. Das Wahlalter sank von 25 auf 20 Jahre. Pro 60.000 Einwohner war ein Mandat vorgesehen, das innerhalb von 35 großen Wahlkreisen jeweils nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zugeteilt wurde.
Entscheidend war also die Wahlbeteiligung und die Stärke der Parteien: Je mehr Leute zu den Urnen gingen, desto größer wurde der Reichstag. Dabei gab es Verzerrungen durch Listenverbindungen und unterschiedlich bevölkerungsreiche Wahlkreise. Außerdem waren Parteien benachteiligt, die keine "Hochburgen" hatten, denn sie bekamen auch mit mehr als reichsweit 60.000 Stimmen kein Mandat, solange sie nicht in einem Wahlkreis mindestens 30.000 Stimmen erzielt hatten.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!