Es war 1992 im Advent, die Pogues aus Irland waren in Berlin für einen Abend in der Eissporthalle. Shane MacGowan, ihr Poet und Sänger, hatte sich am Nachmittag zum Interview bereit erklärt. Er lag im Bett seines Hotelzimmers und schlief. Ein Mann betrat den Raum, ein Riese mit einer karierten Mütze auf dem Kopf und einer kleinen Flöte in der Hand. Er wisse alles über Shane, erklärte er, und werde für ihn sprechen, was er, Spider Stacy, eine Stunde lang ausführlich tat. Über das Irischsein, die Lyrik und den Folk, das Trinken und den Tod. Vielleicht werde sein Freund in seinem Vollrausch morgen schon nicht mehr am Leben sein. Woraufhin Shane erwachte und verkündete: „Ich sterbe, wenn ich es für richtig halte und wenn ich es will.“ Am Abend auf der Bühne trank er weiter und besang die „Streams of Whiskey“.
Immer ging es um das Saufen und das Sterben, wenn es um ihn ging. Am Donnerstag, am 30. November 2023, ist Shane MacGowan nun gestorben, an einer viralen Enzephalitis, einer Hirnentzündung. Was er auch einmal gesagt hat: „Alle denken, ich würde mich nach dem Tod sehnen. Aber ich trinke, um zu leben.“
Es war ein grandioses Leben. Shane MacGowan kam zwar in der ostenglischen Grafschaft Kent am Weihnachtstag zur Welt, aber er wuchs im südirischen Tipperary auf. Sein Vater war ein glühender Anarchist und seine Mutter eine Missionarin der irischen Volksmusik. Shane schwankte lange zwischen vier Berufswünschen: Poet und Sänger, Revolutionär und Priester. In der Kirche lernte er das Trinken, in den Dünen, wo er mit den Freunden die irischen Freiheitskämpfe nachspielte und die Gebeine der Gefallenen vom Osteraufstand 1916 fand, lernte er unbritisch zu sein.
Dass seine Mutter mit ihm zu den Erzfeinden nach London zog, wo er beim „Paddyklatschen“ auf dem Pausenhof ein halbes Ohr einbüßte, hat er nie verwunden. Shane, geschult durch die Lektüre von Beckett und Joyce, O’Brien und Behan, gewann einen Lyrikwettbewerb des „Daily Mirror“. Als Stipendiat kam er nach Westminster an eine höhere Schule, wo er sich unter den künftigen Eliten tödlich langweilte. Er floh ins Londoner Nachtleben und sah die Sex Pistols, wie sie den Punk der Straße auf die Bühne brachten. „Etwas Besseres konnte mir nicht passieren“, sagte er: „Die Sex Pistols haben mein Leben verändert. Es war egal, hässlich zu sein. Wir kämpften gegen die Moral, die man uns eintrichtern wollte.“
Kreuzzug der irischen Musik
Er verließ die Schule, handelte mit Drogen, arbeitete auf dem Bau und auf dem Straßenstrich und brach zusammen. In einer Entzugsklinik erlernte er die nötigen Gitarrengriffe. Er gründete eine eigene Band, die Nipple Erectors, und zog aus Protest gegen die Monarchie mit einem Schaf zum Buckingham-Palast. Er war als blutender Märtyrer bei einem legendären Auftritt von The Clash in allen Zeitungen des Königreichs zu sehen. Shane MacGowan wurde zum Gesicht der Popkulturrevolution von 1977, bevor er als singender Dichter selbst berühmt wurde.
Schon kurz darauf wurde der Punk gewöhnlich, und Popmusik verödete. Mit Spider Stacy, dem Flötisten, der wie viele Punks in England aus dem Proletariat der irischen Migranten kam, rief er die Pogues ins Leben, um den Punk auf seine volkstümlichen Ursprünge zurückzuführen, auf den Folk. Für Shane MacGowan war die Band auf einem „Kreuzzug“, ihre heiteren Lieder waren ihm so heilig wie seine Identität als Ire. Auch wenn sie vom Trinken handelten oder vom Tod. Die Pogues waren die Barden der Diaspora. Shane radikalisierte sich politisch, er sympathisierte mit der IRA und den Birmingham Six. Und haderte mit seiner eigenen Band, die in den späten Achtzigern an ihrem eigenen Erfolg zugrunde ging: „Wir wurden zur Rockband. Wir wurden, was wir hassten.“ 1987 schrieb er sogar einen Hit, „Fairytale of New York“, gesungen im Duett mit Kirsty MacColl.
Er selbst hielt seine inneren Widersprüche immer besser aus als alle, die mit ihm zu schaffen hatten. Als er Marx für sich entdeckte, machte ihm der vorgeschriebene Atheismus Angst, den er sich kurzzeitig verordnet hatte; er beschloss, wieder zu glauben, um im Tod bei seinen Angehörigen zu sein. Als junger Punk war er in London für sein Union-Jack-Sakko berühmt, das er als Ire täglich trug, um die britische Flagge zu entweihen, was er aber niemandem verriet. Und seine letzte Band, die Popes, mit der er im Talar auftrat, war Blasphemie und Religion zugleich.
„Shane“ hieß ein Filmporträt, das Julian Temple, der bereits den Punk der Sex Pistols dokumentiert hatte, über und mit MacGowan vor drei Jahren noch gedreht hatte. „Die irische Musik war museale Volkskunst. Shane hat sie befreit und sie jenen zurückgegeben, denen sie gehört, den Lebenden“, sagte der Regisseur über sein Filmdenkmal für Shane MacGowan, der im Film auch selbst sein Todesmantra wiederholte: „Wenn ich hätte sterben wollen, wäre ich längst tot.“ Darüber lachte er sein keuchendes Lachen, trank und nickte ein.
Am Schluss des Films spielten sie ein Konzert zu seinem 60. Geburtstag. Bono und Nick Cave, die Folklegende Finbar Fury und der Filmstar Johnny Depp. Shane saß im Rollstuhl neben einem Jugendbild von sich mit Augenklappe, Segelohren und seinem verstörenden Lächeln mit dem schadhaften Gebiss. Mit 60 war er frisch verheiratet, und seine Zähne waren aus Gold. Der Präsident von Irland, Michael Higgins, selbst ein Dichter, ehrte ihn mit einer Messingtafel für sein Lebenswerk und seine vaterländischen Verdienste. Shane erhob gerührt sein Glas und flüsterte: „Für Gott und Irland.“
Nun ist er im Himmel über seiner Heimat. Shane MacGowan wurde 65 Jahre alt.