Erinnerungen ehemaliger Bewohner des Kreises Schlawe
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"Mein Schicksal ist nur eines<br />

unter vielen Millionen ..."<br />

<strong>Erinnerungen</strong> <strong>ehemaliger</strong><br />

<strong>Bewohner</strong> <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> <strong>Schlawe</strong><br />

Redaktion Brygida Jerzewska und Jan Sroka<br />

Sławno 2008


Übersetzungen der Texte ins Deutsche: Brygida Jerzewska<br />

Titelfoto: <strong>Schlawe</strong>r Marktplatz am 6. März 1945. Abdruck aus: Aus der<br />

Heimat Rügenwalde (Kreis <strong>Schlawe</strong>)-Pommern, Jahrbuch 1991-1992 von<br />

Carlheinz Rosenow, S. 144<br />

© Copyright by: Stiftung „Dziedzictwo”<br />

Veröffentlichung gesponsert vom Landratsamt <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> Slawno.<br />

Verlag: Wydawnictwo „Margraf”, 76-100 Sławno, ul. A. Cieszkowskiego<br />

12 d, email: magraf1@interia.pl<br />

Fundacja „Dziedzictwo” . 76-100 Sławno, ul. A. Cieszkowskiego 2<br />

Druck: Sowa – Druk na życzenie, www.sowadruk.pl, tel. 022 431 81 40<br />

ISBN: 978-83-924286-7-1<br />

2


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort <strong>des</strong> Landrates <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> Slawno .....................................5<br />

Einführung ......................................................................................... 7<br />

Anita Buchheim<br />

<strong>Erinnerungen</strong> an Rügenwalde / Kreis <strong>Schlawe</strong> –<br />

Rügenwalder Briefe .............................................................................13<br />

Horst Erdmann<br />

<strong>Erinnerungen</strong> aus Jahre 1945................................................................69<br />

Błażej Gibaszek<br />

Meine 40 Jahre ........................................................................81<br />

Mieczysław Krych<br />

Gleich nach dem Krieg .......................................................................83<br />

Wilfried Lemm<br />

Die erste Flucht und die endgültige Vertreibung<br />

(die letzten Monate 1944, 1945 und die erste Zeit 1946) ................... 85<br />

Helga Matz<br />

Meine Erlebnisse in der Zeit 1944/45 nach dem 2. Weltkrieg in meiner<br />

Heimatstadt Rügenwalde ........................................................................89<br />

Horst Meissner<br />

<strong>Erinnerungen</strong> an Marienthl...................................................................91<br />

Kurt Mielke<br />

Ein Schicksal von Millionen. <strong>Schlawe</strong> in Pommern 1945<br />

Erlebnisbericht aus Tagebuchaufzeichnungen..................................105<br />

Kazimierz Omiotek<br />

Meine 66 Jahre...................................................................................237<br />

Czesław Plopa<br />

Natzmershagen seit Herbst 1945. <strong>Erinnerungen</strong> ...................................239<br />

Stanisław Poprawski<br />

Sławno – gesehen mit den Augen eines 13 - jähringen......................243<br />

Kazimiera Preś<br />

Meine 40-er Jahre in Dzierzecin ......................................................249<br />

Mieczysław Ratkowski<br />

<strong>Erinnerungen</strong> aus Karzin ...................................................................251<br />

3


Erna Rinklin<br />

Blaue Lupinen – Busin 1945 – 1947.....................................................255<br />

Hans Burghard Schmid<br />

Das sentimentale Sławno......................................................................327<br />

Derk Steggewentz<br />

März 1945 ............................................................................................333<br />

Derk Steggewentz (Sohn)<br />

Das Ende <strong>des</strong> Krieges - <strong>Erinnerungen</strong> .................................................349<br />

Christa Stuhlinger<br />

Auszug aus der Lebensgeschichte von Christa Stuhlinger,<br />

geb. Hoffmann .....................................................................................359<br />

Horst Uhrhan<br />

Flucht und Vertreibung. Katholische seelsorgliche Betreuung ...........363<br />

4


Vorwort <strong>des</strong> Landrates <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> Slawno<br />

Das Jahr 1945 war die Zeit großer Veränderungen in Europa. Es waren<br />

die letzten Monate <strong>des</strong> II. Weltkrieges und vieler Begebenheiten auf dem<br />

alten Kontinent, die fast ein halbes Jahrhundert andauern sollten Es war<br />

auch eine denkwürdige Zeit für den Kreis <strong>Schlawe</strong>. Aufgrund der Verträge<br />

in Jalta und Potsdam wurde aus dem "Kreis <strong>Schlawe</strong>" der<br />

"Powiat Slawno". Jahrhundertelang lebten hier Deutsche. Die deutschen<br />

<strong>Bewohner</strong> wurden 1945 ausgewiesen, polnische Bürger angesiedelt, meistens<br />

aus den früheren polnischen Ostgebieten, die aufgrund politischer<br />

Verträge der "Großen Vier" jetzt zur Sowjetunion gehören. Das Jahr 1945<br />

war die Zeit, in der im Kreis Slawno/ <strong>Schlawe</strong> Deutsche und Polen wohnten,<br />

auch Soldaten der Roten Armee stationiert waren.<br />

Seitdem vergingen schon 60 Jahre, jedoch es leben noch Menschen, die<br />

jene Zeit miterlebten und die jetzige Wirklichkeit mitgestalteten.<br />

Es sind die "Zeitzeugen" von damals.<br />

Eben diese Zeitzeugen möchte das Landratsamt und die Stiftung „Erbgut“<br />

ansprechen, die Realitäten jener Zeit, Ende 1944 bis Anfang 1946,<br />

aufzuzeichnen. Aus diesem Grund haben wir den Wettbewerb "Der Kreis<br />

<strong>Schlawe</strong>/Slawno im Jahre 1945" organisiert. Das Ergebnis ist dieses<br />

Buch.<br />

Ich habe die Hoffnung, dass die hier aufgezeichneten <strong>Erinnerungen</strong> dramatischer<br />

Erlebnisse der <strong>Bewohner</strong> <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong>, die Beschreibungen <strong>des</strong><br />

Überlebens und das Entstehen zwischenmenschlicher Kontakte uns helfen<br />

können, die Wahrheit über die damalige Zeit besser kennenzulernen und<br />

sie objektiv einzuschätzen. Ich hoffe, dass die Zeitzeugen -und ihre persönliche<br />

Einschätzung der damaligen Realität dem Leser helfen werden,<br />

sich ein eigenes Bild <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> im Jahre 1945 zu bilden, und dass die<br />

Informationen dieser Beschreibungen den Anstoß geben, die Geschichte<br />

der Region, aber auch der eigenen Familie, zu vertiefen.<br />

Bitte lesen Sie dieses Buch ! Es ist es wert !<br />

Andrzej Lewandowski<br />

Landrat <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> Slawno<br />

5


Einführung<br />

"Es war kein gutes Jahrhundert, aber es war unseres"<br />

aus "Der Triumphbogen" von Erich Maria Remarque.<br />

Das XX. Jahrhundert - ein besonderes Jahrhundert – eine Zeit vieler Erfindungen, die<br />

die, Welt verändert haben , aber such eine Zeit zweier Weltkriege und hunderten Lokalkriegen<br />

mit ihren Konflikten und Grausamkeiten.<br />

Der fast 6 Jahre dauernde II. Weltkrieg hat die Weltordnung Europas erheblich verändert<br />

und durcheinander gebracht.<br />

Anfang <strong>des</strong> Jahres 1945 rückte die Offensive der Roten Armee blitzartig voran, im Eiltempo<br />

die Ostgebiete <strong>des</strong> III. Reiches besetzend. Die deutsche Bevölkerung aus Ostpreußen,<br />

Pommern und Schlesien ließ ihre Heimat fluchtartig. Inzwischen hatten die<br />

"Großen Drei", teilweise von Stalin gesteuert, in Jalta schon beschlossen, die Ostgebiete<br />

Deutschlands an Polen abzutreten. Es sollte ein Ausgleich sein für die von der Sowjetunion<br />

übernommenen polnischen Ostgebiete. Besiegelt wurde dieser Entscheid auf der<br />

Potsdamer Konferenz. Am 2o.11.1945 verabschiedete der Vereinte Kontrollrat den konkreten<br />

Plan der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus den oben genanntem Gebieten,<br />

Die Ausweisung sollte bis Mitte 1946 beendet sein. Da jedoch die Aktion erst im<br />

Februar 1946 begann, war der Termin nicht einzuhalten. Die Vertreibung dauerte bis<br />

Oktober 1947, in einigen Fällen sogar bis 1950.<br />

In Pommern veränderten sich die politisch-gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, konfessionellen<br />

und nationalen Verhältnisse ganz abrupt. In einigen Regionen wurden ganze<br />

Volksgruppen verfolgt. Die Menschen kamen und gingen ganz willkürlich. Die, die<br />

länger blieben, blieben sich fremd, unterhielten keinen Kontakt zueinander 1 .<br />

In den Jahren 1945-1946 war der Austausch der Bevölkerung sehr groß. Die polnische<br />

Regierung beschleunigte diese Aktion, denn die Vorbereitungen zur Ausweisung der<br />

deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten war zeitig geplant worden. Sie war auch im<br />

Sinne derjenigen polnischen Bürgern die durch das Verhalten der Deutschen während<br />

de» Krieges und der Besatzung gelitten hatten. Es war aber ebenfalls im Sinne <strong>des</strong> polnischen<br />

Staates 2 .<br />

Gegnüber der deutschen Bevölkerung praktizierte man die Politik der starken Hand.<br />

Man wandte Terror an, um die Deutschen zur Umsiedlung zu zwingen. Der bekannte<br />

Aktivist der polnischen Arbeiterpartei Edward Ochab hat auf dem Parteitag im Mai 1945<br />

1 Andrzej Sakson, Procesy integracji i dezintegracji społecznej na Ziemiach Zachodnich<br />

i Północnych Polski po 1945 roku , s. 131-154, (w:) Pomorze - trudna Ojczyzna? Kształtowanie<br />

się nowej tożsamości 1945-1995. Praca zbiorowa pod red. A.Saksona, Poznań<br />

1996 , s. 132<br />

2 Zenon Romanow, Polityka władz polskich wobec ludności niemieckiej i ludności ukraińskiej<br />

na Pomorzu Zachodnim w latach 1945-1958 (w:) Pomorze - trudna Ojczyzna?<br />

Kształtowanie się nowej tożsamości 1945-1995..., s. 203-204<br />

7


erklärt: "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die 2-2,5 Millionen Deutschen, die<br />

noch in den wiedergewonnenen Gebieten 1& leben, loswerden können. Am besten teilen<br />

wir sie in 3 Gruppen: Die erste, gänzlich unbrauchbare Gruppe weisen wir gleich aus.<br />

Oder wie der schlesische Woiwode meinte "Sie wie eine Herde Vieh über die Oder und<br />

Neiße jagen". Die 2. Gruppe sind diejenigen , die in der Industrie arbeiten oder Fachkräfte<br />

sind. Die müssen wir so lange behalten, bis sie ersetzt werden können. Stadtbewohner<br />

verfrachten wir aufs Land, auf die Güter. Sie sollen so lange arbeiten, wie wir<br />

sie brauchen" 3 .<br />

Gleichzeitig begann man mit der Beschlagnahme <strong>des</strong> Eigentums von Privatpersonen. Es<br />

begann der sog. große Schaber (Raub) und das nicht nur an verlassenen Orten. Mit dem<br />

Erlass von 28. März 1946 wurde die Sache dann geregelt.<br />

Die in den polnischen Westgebieten lebenden Deutschen besaßen keine bürgerlichen<br />

Rechte. Sie mussten ohne Lohn überall dort arbeiten, wo sie gebraucht wurden, meistens<br />

auf den Gütern und Landwirtschaften<br />

Es begann die große individuelle heimliche Flucht der Deutschen aus Polen. Die organisierte<br />

Ausweisung erfolgte meistens in die sowjetische Besatzungszone (ca. 2 Mill.)%<br />

und in die britisch«-(ca. 1,5.Mill). Die Transporte fuhren ohne jegliche Schutzbegleitung<br />

daher fanden häufige Überfälle und Plündrereien statt.<br />

Immer mehr Neusiedler aus Zentralpolen kamen in die von Deutschen verlassenen Gebiete.<br />

Auch Rückkehrer aus Deutschland, Frankreich und Belgien. Aus den ehemals<br />

polnischen Gebieten wies die Sowjetregierung Millionen Polen aus, um das Land ethnisch<br />

zu säubern 4 . In die neuen Westgebiete wurden auch Menschen geschickt, die aus<br />

Unabhängigskeitsorganisationen kamen, Intelligenzler, ukrainische Bürger, die an der<br />

Aktion "Wisla" (Weichsel) in der Zeit vom 4.Mai bis 31.Juli 1947 teilgenommen hatten.<br />

* * *<br />

Im Mai 1939 frewohnten den Kreis <strong>Schlawe</strong> 77500 Personen, laut einer Volkszählung.<br />

Während <strong>des</strong> Krieges vergrößerte sich diese Zahl um viele Tausende Flüchtlinge aus<br />

Ost- und Westpreußen, die vor den Russen flüchteten. Dazu kamen die Evakuierten aus<br />

Westdeutschland, die sich vor den alliierten Luftangriffen retteten. Gegen Ende <strong>des</strong><br />

Krieges wieder, verließen viele Menschen den Kreis aus Angst vor der heranrückenden<br />

Roten Armee 5 .<br />

Im Februar und Mär« 1945 eroberten die Sowjets fast kampflos das Gebiet <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong><br />

<strong>Schlawe</strong>. Zuerst nahmen sie Pollnow ein,27.Febr., Malchow 6.März, <strong>Schlawe</strong> mund<br />

Rügenwalde am 7.März, Pustamin 8.März. Die Städte <strong>Schlawe</strong> und Pollnow wurden von<br />

den Russen gleich nach ihrem Einmarsch zerstört. Der ganze Kreis wurde von den Sowjets<br />

verwaltet. Fast alles, was transportfähig war, wurde nach Russland verschickt: Maschinen,<br />

Geräte, sogar Bahnschienen. Aufgrund <strong>des</strong> Dekretes <strong>des</strong> Ministerrates wurde<br />

schon am 14 März der Kreis Slawno anerkannt. Er bestand aus 4 Städten: Slawno, Dir-<br />

3<br />

cyt. za Zenon Romanow, Polityka władz polskich wobec ludności niemieckiej..., s.<br />

206-207<br />

4<br />

Tadeusz Gasztold, Przesiedleńcy z Kresów Północno-Wschodnich Drugiej Rzeczypospolitej<br />

na Pomorze w latach 1945-1948 (s.317-328), (w:) Pomorze - trudna Ojczyzna?<br />

Kształtowanie się nowej tożsamości 1945-1995.., s. 318<br />

5<br />

Stefan Żurawski Zagadnienia ludnościowe, (w:) Dzieje Sławna. Praca zbiorowa pod<br />

red. Józefa Lindmajera, Słupsk 1994, s. 375<br />

8


low (später Darlowo), Polanow und Sianow; aus 9 Gemeinden und 175 Ortschaften. Am<br />

1. Juli wurde Sianow dem Kreis Koszalin zugeteilt 6 .<br />

Im April 1945 kamen die ersten Polen nach Slawno, eingewiesen von verschiedenen<br />

Institutionen und Organisationen. Am 3. Mai meldete sich der Bevollmächtigte der Regierung<br />

Jozef Czarnecki bei der noch vorläufigen Verwaltung. Schon am nächsten Tag<br />

führte er Gespräche mit dem Kriegskommandanten Kabanow und am 5.Mai übernahm<br />

der polnische Bevollmächtigte die Verwaltung. Die Übernahme verlief nicht ohne<br />

Schwierigkeiten, vor allem die Besichtigung <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong>. Es gab zahlreiche Konflikte<br />

mit den stationierten Sowjets, mit Polen und Deutschen. Durch Feindseligkeiten der<br />

Russen ergaben sich negative deutsch-polnische Beziehungen.<br />

Im April 1945 wohnten im Kreis 55700 Menschen nur vorübergehend. Durch individuelle<br />

Ausreise und Verteibung war die Anzahl der <strong>Bewohner</strong> um ca. 75% vermindert 7 .<br />

Die hohe Anzahl der sich noch im Kreis befindlichen Deutschen, so wie die hier zurückgebliebenen<br />

Flüchtlinge, erschwerten die Ansiedlung polnischer Bürger. Die Verwaltung<br />

<strong>des</strong> <strong>Kreises</strong>, der Städte und der Gemeinden begannen schnell, die Ausweisungen der<br />

Deutschen durchzufrühren. Im September 1945 stellte man die ersten Transporte zusammen«<br />

Da es jedoch an Transportmitteln fehlte und die Russen die Ausweisung der<br />

für sie auf den Gütern arbeitenden Deutschen nicht zuließen, blieb die Aktion sehr begrenzt.<br />

Anhand der Schätzung <strong>des</strong> Bezirksamtes in Danzig/Gdansk haben bis Dezember<br />

1945 rund 28509 Personen den Kreis Slawno verlassen. Die Ausweisungen nach den<br />

Potsdamer Regelungen begannen erst im Juni 1947. Nach der Beendigung im Herbst<br />

1947, verblieben im Kreis noch 7694 Deutsche. 8<br />

Gleichzeitig mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung begann die Ansiedlung der<br />

polnischen, z. B. wohnten im September 1945 in Slawno sehen 4123 Polen und nur<br />

noch 1025 Deutsche 9 .<br />

* * *<br />

In diesem Buch veröffentlichen wir <strong>Erinnerungen</strong> von 19 Autoren, die uns auf die Ankündigung<br />

<strong>des</strong> Wettbewerbs "Der Kreis <strong>Schlawe</strong>/ Slawno, im Jahre 1945" geantwortet<br />

haben. Im September 2006 hatten die Stiftung "Dziedzictwo/Erbgut" und der Landrat<br />

<strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> dazu aufgerufen.<br />

Mit diesem Wettbewerb wollten wir polnische und deutsche Zeitzeugen der letzten Monate<br />

<strong>des</strong> Jahres 1944, der Jahre 1945 und 1946 auffordern uns ihre Ansichten über die<br />

damalige Wirklichkeit mitzuteilen. Wir erhielten 12 Berichte von ehemaligen Bürgern<br />

<strong>des</strong> deutschen <strong>Kreises</strong> <strong>Schlawe</strong> und 7 von Polen, die nach dem Kriege in den Kreis<br />

Slawno gekommen sind. Die Memoiren sind eine persönliche Darstellung de£ gesellschaftlichen,<br />

wirtschaftlichen und politischen Geschehnisse der damaligen Zeit, in der<br />

die Menschen gelebt und sie gestaltet haben. Dies erlaubt uns, die vergangenen Verhältnisse<br />

besser kennen- C zulernen und die Wahrheit über die schwierige Zeit, für Deutsche<br />

und Polen, zu erfahren.<br />

6 Stefan Żurawski: Podziały administracyjne (w:) Dzieje Sławna. Praca zbiorowa pod<br />

red. Józefa Lindmajera, Słupsk 1994, s. 311<br />

7 Józef Lindmajer, Z lar drugiej wojny światowej 1939-1945, (w:) Dzieje Sławna. Praca<br />

zbiorowa pod red. Józefa Lindmajera, Słupsk 1994, s. 309<br />

8 Maciej Hejger, Wysiedlenie ludności niemieckiej z Ziemi Sławieńskiej po II wojnie<br />

światowej, (w:) Sławno i Ziemia Sławieńska. Historia i kultura, pod red. Wojciecha<br />

Łysiaka, Poznań 2002, s. 208<br />

9 Stefan Żurawski , Zagadnienia ludnościowe (w:) Dzieje Sławna...., s. 375<br />

9


Erneu Rinklin, eine Zeitzeugin, schreibt in einem Brief an die Organisatoren: "Ich schicke<br />

Ihnen mein Manuskript mit den Erlebnissen aus meiner Kindheit 1945-1947. In den<br />

vergangenen Jahren habe ich meine Heimat Krangen und Buszyno oft besucht. Die Polen<br />

haben uns sehr herzlich empfangen und uns mit selbstgebackenem Kuchen bewirtet„<br />

Wir fühlten uns wie bei guten Freunden! Während dieser Besuche haben wir unsere<br />

gemeinsame Geschichte aufgearbeitet! Unsere Freundschaft mit den Polen werden wir<br />

weiterhin pflegen!"<br />

<strong>Erinnerungen</strong> an die vergangenen Jahre erlauben den heutigen <strong>Bewohner</strong>n die vergangene<br />

Zeit besser kennenzulernen, in der der Kreis <strong>Schlawe</strong> zum Powiat Slawno wurde.<br />

Eine schwierige und schmerhafte Zeit für Deutsche und Polen"<br />

Wir haben fast keine literarischen Aufzeichnungen aus jenen Tagen (1945). An <strong>Erinnerungen</strong><br />

in Buchform über den Kreis <strong>Schlawe</strong>/Slawno gibt es eigentlich nur die <strong>des</strong> Bürgermeisters<br />

der Stadt Darlowo Stanislaw Dulewicz, veröffentlicht im Band "<strong>Erinnerungen</strong><br />

der Neusiedler in den Wiedererlangten Gebieten" 10 . Das Buch entstand aufgrund<br />

eines Wettbewerbs (1956), den die Soziologische Sektion <strong>des</strong> Westinstitutes in Poznan<br />

organisiert hatte. Es wurden 227 Arbeiten eingeschickt, veröffentlich 45. In den Texten<br />

trat der Geist der damaligen Zeit hervor, vor alle» die These über die "Wiedererlangung"<br />

der urpolnischen Westgebiete nach Jahrhunderten. Texte mit anderen Ansichten durften<br />

nicht geschrieben und nicht gedruckt werden. Andere Meinungen als die <strong>des</strong> Staates<br />

wurden nicht toleriert.<br />

Aufzeichnungen der deutschen Bevölkerung aus der Zeit nach dem Kriege waren in<br />

Polen bis 1990 praktisch unbekannt. In Deutschland dagegen gab es sehr viele Veröffentlichungen<br />

dieser Art. Sie bilden ein wichtiges Element der Deutschen, die in<br />

Pommern immer ihre verlorene Heimat sehen werden, das Land ihrer glücklichen Kindheit.<br />

Die Ansichten über die Zeit der Veränderungen in Pommern nach dem II. Weltkrieg<br />

tragen einen einseitigen Charakter. Die veröffentlichten Aufzeichnungen der polnischen<br />

Neusiedler in den Westgebieten Polens unterlagen einer strengen ideologischen Kontrolle.<br />

Diese Situation änderte sich nach 1990. Die Veröffentlichungen unterlagen nicht mehr<br />

der strengen Kontrolle. Es durfte frei gedruckt werden. Publikationen und wissenschaftliche<br />

Bearbeitungen der Vertreibungsthemen und der Neubesiedelung erlebten nach<br />

1990 eine gewisse Renaissance. Deutsche Texte wurden ins Deutsche übersetzt, u. a. die<br />

Bücher von Christian v. Krockow 11 .<br />

* * *<br />

Der Titel <strong>des</strong> Buches "Mein Schicksal ist nur eines von vielen Millionen anderer ..."<br />

stammt von Kurt Mielke, einem der Zeitzeugen. Wir denken, dass seine Worte zu den<br />

Aufzeichnungen in unserem Buch passen. Das Jahr 1945 war für die deutschen <strong>Bewohner</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> <strong>Schlawe</strong> das Ende der deutschen Geschichte, für die neuen polnischen<br />

der Anfang der Geschichte <strong>des</strong> Powiat Slawno. Aus diesen Berichten geht aufschlussreich<br />

hervor.<br />

10 Stanisław Dulewicz, Burmistrz z Darłowa, (w:) Pamiętniki Osadników Ziem Odzyskanych,<br />

opracowali: Zygmunt Dulczewski i Andrzej Kwilecki, Poznań 1963, Wydawnictwo<br />

Poznańskie, s. 456- 524; w oddzielnym wydaniu książkowym wybór z pamiętnika<br />

S. Dulewicza ukazał się w roku 2003<br />

11 Christian von Krockow, Czas kobiet: wspomnienia z Pomorza 1944-1947 według<br />

relacji Libussy Fritz – Krockow, Warszawa 1990<br />

10


Die meisten Texte haben wir original wiedergegeben. Einige mussten wir etwas kürzen,<br />

was jedoch ihre Aussage nicht beeinflusst. Wir haben auch keine Kommentare hinzugefügt.<br />

Die kritische Rezension gehört den Lesern. Die <strong>Erinnerungen</strong> werden erst 60 Jahre<br />

nach den Geschehnissen veröffentlich. Einige wurden schon vor Jahren aufgezeichnet,<br />

andere erst jetzt. Einige enthalten nicht nur Gedanken von früher, von der Zeit nach de«<br />

Kriege, sonder nauch Überlegungen, die jahrelang wuchsen.<br />

Das Buch berichtet über individuelle Schicksale, über Versuche, das grausame Los zu<br />

verarbeiten. Wir hoffen, dass diese Ausgabe den jetzigen <strong>Bewohner</strong>n <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> Slawno<br />

die Anfänge dieses Gebietes verständlicher macht und ihnen näher bringt.<br />

Jan Sroka<br />

11


Anita Buchheim 12<br />

<strong>Erinnerungen</strong> an Rügenwalde / Kreis <strong>Schlawe</strong> –<br />

Rügenwalder Briefe<br />

Das Kriegsjahr 1944<br />

Ostwallbau und Bunkermatten aus Stroh<br />

Ab Mitte August 1944 bis Ende November 1944 wurde ich mit vielen anderen Mädchen<br />

und Frauen zur Organisation Todt für den Ostwallbau eingezogen.<br />

Zuvor hatte ich mehrmals Einberufungen zum Arbeitsdienst bekommen. Da aber die<br />

Sparkasse als „kriegswichtig“ galt, wurden die Einberufungen je<strong>des</strong> Mal von meinem<br />

Direktor Treichel beim Stadtrat rückgängig gemacht.<br />

So waren fast alle gleichaltrigen Mädchen inzwischen eingezogen worden, und ich<br />

verblieb als eines der wenigen älteren BDM-Mitglieder in Rügenwalde. Deshalb wurde<br />

ich als Schaftsführerin mit der rot-weißen Schnur bestätigt, das war der niedrigste Rang<br />

einer BDM-Führerin, und musste dann eine Schar übernehmen.<br />

Zu meinen Aufgaben gehörte es, Heimabende mit politischen Themen durchzuführen.<br />

Das mochte ich jedoch nicht und nutzte lieber meine in Lehrgängen erworbenen Kenntnisse,<br />

um Puppen und Spielzeug mit den Mädchen herzustellen - so wie ich es schon<br />

beschrieben habe. Wir unternahmen zusammen auch Fahrten, zum Beispiel in die Jugendherberge<br />

Neuwasser (heute polnisch Dabki). Ein andermal waren wir in Köslin und<br />

wanderten ein Stück durch den Gollenwald. Ab und zu sahen wir Männer hinter Bäumen<br />

verschwinden, das war uns mit der Zeit unheimlich, und wir beeilten uns, aus dem Wald<br />

herauszukommen. Und das im Sommer 1944, wir waren wohl etwas naiv und leichtsinnig.<br />

Ich war immer darauf bedacht, in meiner BDM-Funktion niemanden zu schaden. Dieser<br />

Einstellung habe ich sicher zu verdanken, dass mich später keiner denunziert hat, als die<br />

BDM- und HJ-Führer gesucht und ins Lager gebracht wurden. Es war manchmal nicht<br />

so leicht, menschliche Würde zu bewahren und Haltung zu zeigen.<br />

Als ich eines Abends ein Mädchen, das wegen der politischen Einstellung ihrer Eltern<br />

mehrfach dem Heimabend fern geblieben war, von zu Hause abzuholen hatte, ließ diese<br />

unvorsichtig hinter sich die Tür offen stehen. So sah ich ihre Eltern mit dem Kriegsgefangenen<br />

im Wohnzimmer gemeinsam Radio hören, was strengstens verboten war. Ich<br />

hätte es melden müssen. Schnell verließ ich das Haus - ich hatte nichts gesehen und<br />

gehört!<br />

Zu meinem 18. Geburtstag am 08.06.1944 gab unser französischer Kriegsgefangener<br />

Manuel meiner Mutter eine dicke Tafel französische Schokolade. Sie sei für mich be-<br />

12 Anita Buchheim - geb. 1926 in Zanow /Sianow/Kreis <strong>Schlawe</strong>/Slawno.<br />

Seit 1932 bis 3. Juli 1947 lebte sie in Rügenwalde/Darlowo, ab 24.Juni 1947 in Leubingen/Thüringen.<br />

2006 kam ihr Buch „Blondinen wurden aussortiert. Rügenwalder Briefe“<br />

heraus. Die Artikel für dieses Buch hat die Autorin selbst ausgesucht.<br />

13


stimmt, denn der 18. Geburtstag wäre doch etwas Besonderes im Leben. Ich wollte die<br />

Schokolade nicht annehmen: „Das darf ich doch nicht!“ Aber Mutti sagte: “Du gehst<br />

jetzt zu Manuel in die Küche und bedankst Dich!. Solche menschliche Geste steht über<br />

Gebot und Verbot, Du wür<strong>des</strong>t Manuel beleidigen, wenn Du die Tafel nicht annimmst!“<br />

Also bedankte ich mich bei Manuel, Mutti hatte ja Recht. Ich achtete auch immer darauf,<br />

dass die beiden Kriegsgefangenen den gleichen Nachtisch wie wir bekamen, denn Franzosen<br />

sind doch Feinschmecker.<br />

Aber nun zum Thema Ostwallbau: Zu diesem „Schippeinsatz“ mussten 50 Prozent der<br />

noch vorhandenen Belegschaften der Betriebe und Verwaltungen, zuerst die Jüngeren,<br />

abgegeben werden. Der Rest der Berufstätigen musste zu den Wochenenden als „Sonntagsschipper“<br />

raus in die Gräben. Das gab immer ein Hallo, wenn sie teils mit Stöckelschuhen<br />

an unserer Einsatzstelle in Karwitz (heute polnisch Karwice) ankamen. Unter<br />

Anleitung von Schachtmeistern lernten wir Zickzack-Gräben, MG-Tische, Panzergräben<br />

u.a. anzulegen.<br />

Versorgt wurden wir von einem Feldkoch mit Gulaschkanone. Da es in dieser Zeit Äpfel<br />

und Kartoffeln noch am ehesten gab, zauberte der Koch sehr oft unser Leibgericht:<br />

„Himmel und Erde“. Hierzu kochte er Äpfel und Kartoffeln zusammen, das gab einen<br />

richtigen Schlag Brei auf den Teller und darüber geröstete Zwiebeln. Jedenfalls<br />

schmeckte es ganz gut und machte ordentlich satt.<br />

Später wurde ich dann, da ich dem Gesundheitsdienst angehörte und eine Erste-Hilfe-<br />

Ausbildung hatte, als BDM-Schwester für eine Hundertschaft in eine Feldscheune bei<br />

Bartlin (heute polnisch Bartolino) abkommandiert. Den meisten Kummer unter allen<br />

Krankheitsfällen machte mir ein junges Mädchen, das an Nachtepilepsie litt. Sie blieb<br />

förmlich weg, und ich dachte immer, sie stirbt mir unter den Händen. So etwas hatte ich<br />

doch noch nicht gekannt. Dem Stabsarzt, der oben im Bartliner Schloss „residierte“, und<br />

dem ich die Kranken zuzuführen hatte, konnte ich es nicht glaubhaft machen. Er bestand<br />

darauf: Die Kranke simuliert. So bin ich dann je<strong>des</strong> mal nachts mit Schwesternschürze<br />

und -Haube mit dem Fahrrad zum Schloss hochgefahren, wenn sie wieder einen Anfall<br />

hatte. Das Beängstigende war dabei, ich musste durch ein Stück Wald und vorbei an<br />

einem Kriegsgefangenenlager – und das gegen Ende 1944.<br />

Endlich war es wohl dem Stabsarzt zuviel, und er schrieb die Entlassung für dieses Mädchen<br />

aus. Keiner war froher als ich, denn es ist doch eine große Verantwortung – und ich<br />

war ja gerade 18 Jahre alt.<br />

Ende November 1944 war dann trotz Kreuzhacken und Biwakfeuer durch den einsetzenden<br />

starken Frost nichts mehr zu machen, und wir wurden endlich nach Hause entlassen.<br />

Es war so sinnlos, das Land so aufzuwühlen!<br />

Rügenwalde hatte sich inzwischen zu einem großen Lazarett verwandelt. Alle Schulen<br />

waren zu Lazaretten umfunktioniert worden. Die Schüler mussten in Gaststätten, die<br />

geschlossen waren, ihre Hausaufgaben in Empfang nehmen und die fertigen Aufgaben<br />

zum Prüfen abgeben. Direkter Schulunterricht fand nicht mehr statt.<br />

Wir Mädels mussten zusammen mit Hitler-Jungen vom Boot aus Schilf schneiden und<br />

abends Bunkermatten aus Stroh und Schilf flechten . Ob die jemals noch in Bunker gekommen<br />

sind?<br />

Mein Vater musste mit allen Pferdegespannen mit den flachen Rollwagen Verwundetentransporte<br />

vom Bahnhof zu den Lazaretten vornehmen, wann immer Transporte eintrafen.<br />

Ganz empört kam er eines Abends nach Hause und erzählte was vorgefallen war.<br />

Ein Bahntransport mit Schwerverwundeten war angekommen , und jede Hand wurde<br />

gebraucht, die Verwundeten auf die Rollwagen zu bringen. Mehrere politische Leiter in<br />

14


ihren betressten Uniformen standen zum Empfang da und schauten zu. Er habe sie mit<br />

folgenden Worten zum Helfen aufgefordert: „Diese Jungen haben auch für Euch ihr<br />

Leben eingesetzt und ihre Knochen hingehalten, also fasst gefälligst mit an und helft<br />

statt herumzustehen.<br />

Habt Ihr Angst, Eure feinen Uniformen blutig zu machen?“<br />

Mein Bruder Wilhelm hatte zu seinem 12. Geburtstag ein Ponygespann geschenkt bekommen,<br />

auch das wurde für Transporte herangezogen. Er hatte die Lazarette in Rügenwalde<br />

mit Brot und anderer Verpflegung zu versorgen.<br />

Das Schicksalsjahr 1945<br />

Für Flüchtlinge das Mädchenzimmer geräumt<br />

Die Flüchtlingstrecks aus dem Osten nahmen immer mehr zu, und im Februar kamen<br />

Wagen, die im Januar schon bei uns Quartier gemacht hatten. Mein Vater hatte die Pferde<br />

wiedererkannt – also wurden die Trecks schon rundum geleitet – ohne Ziel....<br />

Fast täglich nahmen wir Flüchtlinge auf. Manchmal waren Kranke dabei, kein Wunder<br />

bei dieser eisigen Kälte, und sie blieben etwas länger bis sie sich erholt hatten.<br />

Die Versorgung mit heißen Getränken und kräftigen Suppen war Muttis Aufgabe, während<br />

mein Vater die Unterbringung und Versorgung der Pferde übernahm; die Treckwagen<br />

wurden im Hof untergestellt.<br />

Ich räumte unser Mädchenzimmer für die Flüchtlinge und schlief im Wohnzimmer auf<br />

dem Chaiselongue. Mehr konnte ich nicht tun, denn ich musste ja nach wie vor tagsüber<br />

in den Dienst zur Sparkasse, sah die Leute nur früh und abends. Im „Flüchtlingszimmer“<br />

wurden auf den Fußboden Matratzenteile nebeneinandergelegt, je nach Bedarf haben bis<br />

zu 8 Personen dort geschlafen.<br />

Mein Vater sah sich die Treckwagen genau an, wie die Schlafplätze eingerichtet waren.<br />

Als Dach hatten sie ihre Teppiche unter die Planen genagelt.<br />

Meine Familie war einer Meinung, alles für die Flüchtlinge zu tun, immer mit dem<br />

Angstgefühl: Hoffentlich erwischt uns dieses Schicksal nicht auch noch, und wir können<br />

hier bleiben. Wir klammerten uns an diesen Gedanken, der doch ein Selbstbetrug war. -<br />

Meine Schwester Erika befand sich im Januar 1945 noch in der Lehrerbildungsanstalt in<br />

Prenzlau. Noch existierende Briefe aus dieser Zeit von Zuhause spiegeln das Geschehen<br />

dieser Zeit am besten wider:<br />

Rügenwalde, den 22.1.1945<br />

Meine liebe Erika!<br />

Heute Mittag geht Dein Expresspaket noch mit. Ich schicke Dir vielleicht noch ein Paket<br />

mit Deinen Sommerkleidern, denn wir müssen vielleicht räumen und unser schönes Rügenwalde<br />

verlassen. Gestern Abend kam die Mitteilung, dass wir uns bereithalten sollen<br />

und wenn noch ein Befehl kommt, geht es los. Es kann bald, vielleicht aber auch gar<br />

nicht sein, wollen das Letztere hoffen. Ich will nun heute packen. Papa muss hier bleiben.<br />

Die Bauern fahren mit dem Treck nach Naugard. Wo wir hinkommen, wissen wir<br />

nicht, vielleicht auch dahin. Wir werden wohl mit der Bahn wegkommen. Vielleicht<br />

schickt Papa alles nach Pyritz, er will heute telefonieren. Was wird nun mit all unserem<br />

Fleisch, das kann ich doch nicht mitnehmen. Auch soviel Zucker hab ich. Ich will heute<br />

noch waschen, aber es ist eine Kälte.<br />

Die Lehrerbildungsanstalt in Neuwasser wird heute geschlossen, die Mädels fahren<br />

morgen früh alle ab. Nun haben wir Sorge, ob bei Euch auch geschlossen wird. Wenn<br />

nicht, schicke ich Dir noch Deine anderen Sachen. Es ist da doch sicherer, hier kann ich<br />

sie nicht lassen. Ich schreibe Dir sofort, wenn sich was Neues ereignet. Hoffentlich gibt<br />

es keine Expresssperre.<br />

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Nun mein liebes Kind viele Grüße und Küsse von uns allen, Mutti.<br />

Rügenwalde, den 30.1.1945<br />

Meine liebe Erika!<br />

Gestern erhielt ich Deinen lieben Brief. Vielen Dank. Nun ist die Briefsperre aufgehoben<br />

und da will ich Dir schnell schreiben. Soeben ist Gerdi abgefahren, es ist 6 Uhr. Sie hat<br />

Vormittag Bescheid bekommen, dass sie sofort zum Flüchtlingseinsatz nach Köslin muss.<br />

Nun kam der 9-Uhr-Zug erst um 2 Uhr und fährt erst um 6 Uhr wieder. Also keiner um<br />

1, nun ist auch ab heute noch Zugsperre. Von Lauenburg bis Belgard kein Zugverkehr.<br />

Es fahren nur Flüchtlingstransporte. Nun kann Gerdi auch nicht mit der Bahn nach<br />

Köslin, sie will nun sehen, ob sie mit der Kleinbahn um 8 Uhr nach Latzig kommt. Von<br />

da soll Kalli sie abholen und morgen muss er sie dann nach Köslin fahren. Sie hat alle<br />

Sachen mit bis auf ihr Rad und ihr Akkordeon. Nun sind wir wieder ein Mädchen los.<br />

Auch Irmgard Ullrich war hier, sich zu verabschieden, ihr Vater ist zurückgekommen<br />

und hat beide nachgeholt. Sie wollen sehen, ob sie mit den Soldatenzügen mitfahren<br />

können.<br />

Du bist nun also auch zum Flüchtlingseinsatz, da wird nicht viel vom Schlafen werden.<br />

Ihr könnt aber froh sein, wenn ihr da bleiben könnt. Wir wissen nicht, ob wir wegkommen.<br />

Papa meint, wir kommen hier nicht weg, der kleine Bahnhof und all die Menschen,<br />

alles überfüllt. Wir sollen ja dann weiter nach Thüringen oder Bayern. Da fahre ich<br />

dann eben nach Leubingen. Aber Papa lässt uns nicht gerne weg, und ich bleibe auch<br />

solange es geht. Mit dem Möbelwagen, das lassen wir, noch ist ja nichts zu befürchten.<br />

In Ratteick haben alle gepackt, Rosins haben ihren neuen Plüschteppich als Plane auf<br />

den Wagen genagelt.<br />

Anita hat Anträge für Kennkarten mitgebracht. Nun müssen wir zum Fotografieren.<br />

Sie ist alle Abende zum Strohmattenflechten. Ihre Gruppe, die Mädels, die keine Schule<br />

haben, müssen alle Tage zum Schneeschaufeln, heute nach Rußhagen. Die Schule ist<br />

geschlossen bis Kriegsende. Am Freitag wurden Jungen eingesegnet, die kamen schon<br />

am Sonnabend weg zum Schippen. Sonntag wurden dann die übrigen eingesegnet.<br />

Wir dürfen nur 50 Pfund Gepäck mitnehmen, wenn es losgeht.<br />

Herzliche Grüße von Papa, Anita, Wilhelm und besonders von Deiner Mutti.<br />

Rügenwalde, den 3.2.1945<br />

Meine liebe Erika!<br />

Heute will ich Dir noch mal einen Brief schreiben. Wir haben seit dem 23.1. keine Post<br />

von Dir. Es ist ja so wenig Zugverbindung. Wir kriegen keine Post und keine Zeitung<br />

mehr. Ich habe mit Frau Bäckert zusammen Seife gekocht.<br />

Viele Leute sind schon mit dem Schiff abgefahren. Die Kommandantur fährt morgen ab,<br />

die Verwundeten sollen auch weg. Heute war ein Treck hier auf der Durchfahrt aus<br />

Elbing.<br />

Eva-Maria Schiffmann hat sich plötzlich mit einem Oberleutnant verheiratet und ist<br />

heute mit ihm abgefahren.<br />

Es sind fast alle Soldaten weg von der Münde. Nun haben Soldaten die Wipperbrücke<br />

zum Sprengen fertiggemacht. Morgen kommt Einquartierung, sagt Frau Nünke.<br />

In <strong>Schlawe</strong> ist ein Güterwagen ausgeraubt worden, es wird so viel gestohlen, was sind<br />

das nur für Zeiten.<br />

Papa ist nun froh, dass er den Möbelwagen nicht nach Pyritz geschickt hat, es ist doch<br />

nicht weit von Küstrin, wo schon die Panzer sind.<br />

Die Kutter von der Münde fahren mit ihren Angehörigren nach Travemünde – 5 Tage<br />

und 5 Nächte Fahrt auf See – bei dieser Kälte!<br />

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Wenn ich nur bald Post von Dir hätte. Schreib bald.<br />

Herzliche Grüße und Küsse von Mutti, Papa, Anita und Wilhelm.<br />

Rügenwalde, den 11.2.1945<br />

Meine liebe Erika!<br />

Dein letzter Brief vom 30.1. kam am Montag. Diese Woche sollen wieder 2 Züge verkehren,<br />

einer hin und einer zurück. Heute wurde schon Stargard im Wehrmachtsbericht<br />

genannt, so wird der Russe immer näher zu uns kommen. Alle Tage kommen endlos<br />

Trecks hier durch, sie fahren und wissen nicht wohin. Alles ist verstopft, der einzige Weg<br />

durch die Ostsee.<br />

Hier kam Bescheid, dass ein Lazarettschiff auf der Fahrt ist und mittags hier eintrifft.<br />

Papa hatte 2 Rollwagen fertig gemacht, quer rüber lauter Tragbahren gestellt und gewartet.<br />

Nun wurde bekannt, dass das Schiff gesunken ist. Es waren 3.000 Verwundete<br />

drauf. Alle Kutter und Schiffe waren ausgelaufen und haben nichts mehr retten können.<br />

Einige sollen nach Stolpmünde gerettet worden sein.<br />

Soeben geht Anita mit ihren BDM-Mädels los zum Lazarett. Sie haben den großen viereckigen<br />

Waschkorb voll, 6 Teller voll Plätzchen, 1 Torte, 1 Wurst, 2 Flaschen Wein, 1<br />

Schachtel Konfekt, 1 Teller Konfekt, sehr viele Bücher. Das kommt alles in ein Zimmer.<br />

Jede Gruppe hat ein Zimmer zu betreuen, ich glaube, immer 8 Mädels.<br />

Am Donnerstag hatten wir Alarm, wer weiß, wo die Flieger waren, die Ostsee hat gezittert<br />

vom Schießen, oder ob die Flieger Minen gelegt haben? Wir konnten nicht einschlafen.<br />

Straßenweise werden jetzt alle Gasherde verplombt. Es sind auch immer Sperrstunden.<br />

Ab und zu gibt es auch noch Brötchen, wenn Hefe da ist. Unsere Wurst ist aus dem<br />

Rauch.<br />

Bleib gesund mein liebes Mädchen, wollen hoffen, dass wir uns bald wiedersehen.<br />

Herzliche Grüße und Küsse Papa, Anita, Wilhelm und besonders von Mutti.<br />

Rügenwalde, den 18.2.1945<br />

Meine liebe Eka!<br />

Hoffentlich erreicht Dich mein Brief noch in Prenzlau. Morgen ist wieder Montag, dann<br />

kommt hoffentlich Post von Dir. Wir hatten 2 Nächte die selben Flüchtlinge, heute fuhren<br />

sie weiter. Der Opa war ihnen so krank geworden, der schlief bei Förderers, die<br />

Oma ist unterwegs schon gestorben. Bei uns waren die Frau und drei Kinder, die wollten<br />

am liebsten hier bleiben. Heute nachmittags kommt ein Transport, 900 Flüchtlinge<br />

zum Verteilen. Papa und Wilhelm müssen wieder Gepäck fahren. Gerade als die Flüchtlinge<br />

bei uns anspannen wollten, war Fliegeralarm. Es dauerte aber nur eine halbe<br />

Stunde, unsere Gespanne kamen alle zurück. Wilhelm fuhr wieder fürs Lazarett.<br />

Manuel ist weg von uns. Er kam und stellte sich in den Stall und sagte, er arbeitet nicht<br />

mehr, der Krieg ist bald aus. Papa hat ihn wieder zum Lager gebracht und ist zum Arbeitsamt<br />

gegangen. Nun behalten wir Thrun an seiner Stelle, Lehmann arbeitet auch<br />

wieder.<br />

Anita schläft nun immer auf dem Chaiselongue im Wohnzimmer, denn Euer Zimmer ist<br />

laufend mit Flüchtlingen belegt. Nun will ich schließen und noch an Oma schreiben.<br />

Viele, viele Grüße und Küsse Mutti und Alle.<br />

Rügenwalde, den 22.2.1945<br />

Meine liebe gute Erika!<br />

Zu Deinem 17. Geburtstag gedenke ich von ganzem Herzen Deiner und nimm von uns<br />

allen die besten Glückwünsche entgegen. Möge Dir das neue Lebensjahr nur Gutes<br />

bringen, vor allem, dass wir uns gesund wiedersehen.<br />

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Wie gern hätte ich Dir wieder einen Geburtstagskuchen gebacken, doch musst Du diesmal<br />

mit einem Brief zufrieden sein. Als kleine Freude besuche ich Dich bildlich. Ich<br />

hoffe doch, dass mein Brief Dich überhaupt erreicht. Ich habe seit dem 4.2. keine Post<br />

von Dir und warte so sehr, heute an meinem Geburtstag kam nur ein Brief von Oma. Ich<br />

denke heute sehr viel an Dich.<br />

Heute Nacht fahren Ullrichs mit dem Schiff nach Swinemünde und von da aus nach Hagen.<br />

Hoffentlich kommen sie glücklich an.<br />

Ich gratuliere ganz besonders herzlich und grüße recht herzlich, auch Papa, Wilhelm und<br />

Anita schließen sich an, Deine Mutti.<br />

Beraubt und mit der Peitsche davon gejagt<br />

Anfang März 1945 wurden alle Mitarbeiter in der Sparkasse vom Direktor, Herrn Siegfried<br />

Treichel, belehrt, dass niemand seinen Arbeitsplatz verlassen dürfe, es sei denn,<br />

man riskiert, von der Polizei zurückgeholt zu werden.<br />

Am 6. März 1945 ging ich also wie immer zum Dienst – im Radio war schon nichts<br />

mehr zu hören. Ob die Sendeanstalt zerstört war, weiß ich nicht. Das letzte, was ich Tage<br />

zuvor zusammen mit meiner Familie im Radio gehört hatte, prägte sich mir als sehr makaber<br />

ein: Kanonendonner, Glockenläuten und das Lied „Nichts kann uns rauben, Liebe<br />

und Glauben zu unserm Land, es zu erhalten und zu gestalten, sind wir gesandt.“ Wir<br />

heulten wie die Schlosshunde.<br />

Unser Direktor sagte, als alle Beschäftigten versammelt waren, dass die Stadt bis 14 Uhr<br />

geräumt sein muss, dann würden alle Brücken gesprengt werden. Daraufhin hastete ich<br />

nach Hause. Unsere Treckwagen waren schon vorbereitet, auch einer für die Familien<br />

Thrun und Lehmann, unsere ältesten Kutscher, auch Wilhelms Pony-Wagen mit ein paar<br />

lebenden Hühnern drauf. Ein Waschkorb voller Wurst und die Fleischtonnen mit Pökelfleisch<br />

wurden auch noch aufgeladen, denn wir hatten im Januar gerade ein Schwein<br />

geschlachtet.<br />

Die Wagen waren wie Planwagen hergerichtet, mit Teppichen und Planen überdacht,<br />

Matratzenteile und Bettzeug zu Schlafstätten gebaut. Wir hätten wochenlang unterwegs<br />

sein können. Von den bisher bei uns Station machenden Trecks hatten wir allerhand<br />

gelernt und immer gehofft, dass es uns nicht auch erwischt.<br />

Vom Hafen rief laufend ein befreundeter Kapitän an, er könne nicht länger auf uns warten,<br />

im Hafen sei schon Panik ausgebrochen. Die verzweifelten Menschen versuchen mit<br />

aller Kraft die überfüllten Schiffe zu betreten, stürzen ins eiskalte Wasser, versuchen<br />

vom Wasser aus, die Schiffe zu erklimmen.<br />

Wer nicht kam, waren mein Vater und seine Leute, sie waren alle unterwegs, um noch<br />

soviele Verwundete wie möglich auf die Schiffe zu verladen. Viele Schiffe sind aber<br />

gesunken, von Minen getroffen, man weiß also nicht, wofür es gut war, nicht auf den<br />

Schiffen gewesen zu sein. –<br />

Etwa gegen 13 Uhr kamen sie aber endlich, und wir verließen gegen 13.30 Uhr mit drei<br />

Wagen das Grundstück und durch das Steintor die Stadt Richtung Jershöft. Es ging aber<br />

nur schrittweise voran, alle Straßen waren mit Trecks verstopft. Es herrschte ein fürchterliches<br />

Schneetreiben.<br />

Richtung Lanzig / Jershöft – das war doch Richtung Osten – keiner wusste, warum und<br />

wohin eigentlich, nur von Zuhause weg, denn die Wipperbrücke sollte gesprengt werden,<br />

da wäre bestimmt unser Haus mit zerstört worden. Das Haus war ja nur fünf<br />

Grundstücke weit von der Brücke weg.<br />

Drei Tage später, am 9. März in Lanzig, ca. 20 Kilometer von Rügenwalde entfernt, war<br />

unsere Flucht vor den Russen schon beendet. Wir hatten in der Dorfschule übernachtet<br />

18


und wurden in aller Frühe geweckt. Russisches Militär zog auf das Schulgrundstück, und<br />

wir sollten auf deren Geheiß alle zurück nach Hause. Also sind wir auf die Wagen gestiegen,<br />

die Pferde wurden angespannt. Da spannten die Russen die Pferde sofort wieder<br />

aus. Mein Vater protestierte dagegen, da jagten sie uns mit der Peitsche von den Wagen.<br />

Vor Schmerzen und Angst liefen wir, was wir konnten, und sie schossen hinter uns her.<br />

So schnell war mein Vater seine Pferde los, die er um alles in der Welt nicht im Stich<br />

lassen wollte. Wilhelms Pony hatte einen Streifschuss abbekommen, das ließen sie laufen,<br />

so hatten wir wenigstens das. Wir liefen um unser Leben.<br />

Unterwegs begegneten uns immer mehr russische Truppen, auf Panjewagen total besoffene<br />

Soldaten, laut grölend. Diejenigen, die noch dazu in der Lage waren, kamen auf uns<br />

zu und nahmen uns mit vorgehaltener Waffe Uhren und Ringe ab. Mir raubte einer der<br />

Soldaten meine kleine achteckige Armbanduhr, auf die ich so stolz war und die mir viel<br />

bedeutete. War sie doch das Konfirmationsgeschenk meiner Oma Zanow.<br />

Als wir nichts mehr hatten, kamen immer noch Reitertrupps, und die Soldaten ritten auf<br />

uns zu und riefen „Uri, Uri, dawai!“ Wir hielten ihnen unsere leeren Arme entgegen,<br />

damit sie sehen sollten, wir haben keine Uhren mehr. Dafür kriegten wir eins mit der<br />

Reitpeitsche. Da rief mein Vater uns zu: „Genug geschlagen, jetzt gehen wir querfeldein<br />

so weit von der Straße weg, dass wir unbehelligt in die Stadt zurückkommen.“<br />

Unterwegs auf dem etwa 20 Kilometer langen Fußmarsch haben wir uns ab und zu etwas<br />

Schnee in den Mund gesteckt, wir hatten ja nichts gegessen – unsere ganze Habe war auf<br />

den zurückgelassenen Wagen.<br />

Kurz vor Rügenwalde warteten wir bis zur Dämmerung und wagten uns dann zu einem<br />

einzelnen Gehöft vor der Stadt. Gern ließen uns die dort wohnenden Leute nicht rein, sie<br />

waren ganz schlimm von den Russen heimgesucht worden, beraubt und die Frauen<br />

mehrfach vergewaltigt. Deshalb sind wir dann in die Stadt zurück zu unserem Grundstück.<br />

Beide Torfahrten standen weit offen, vorsichtig sind wir ins Haus. Alles war leer, im<br />

Wohnzimmer stank es fürchterlich. Wir hatten noch Essen stehen gelassen als wir abgefahren<br />

sind, denn es waren noch Leute vom Treck bei uns. In das stehen gelassene Essen<br />

hatten die Russen scheinbar Muttis Parfüm und Kosmetika reingeschüttet; es stank erbärmlich.<br />

Mitten im Wohnzimmer lag Papas dunkelblauer Marine-SA-Mantel ausgebreitet, auf<br />

dem steckten überall Messer und Gabeln, so als hätten die Soldaten Messerwerfen darauf<br />

veranstaltet.<br />

Wir räumten erst einmal alles auf, um es wieder einigermaßen wohnlich zu machen.<br />

Angst vor Soldaten und Freitod mit Stadtgas<br />

Plötzlich kamen in den Hof Pferdegespanne hereingefahren mit älteren Tataren als Kutscher.<br />

Sie kamen in unsere Wohnung, und Offiziere gingen in Träders Wohnung über<br />

uns. Ich bin zu Dubberkes im Haus gegenüber geflüchtet und habe mich mit den Töchtern<br />

von Dubberkes zusammen in einem der oberen Zimmer versteckt. Wilhelm brachte<br />

mir zu essen – das mussten die Russen beobachtet haben. Eines Abends kam ein total<br />

besoffener Offizier nach oben und wollte in das verbarrikadierte Zimmer rein. Wir waren<br />

unter das Bettzeug gekrochen und wagten nicht zu atmen. Er schlug mit der Faust in<br />

die Glastür und muss sich dabei so verletzt haben, dass er stark blutete – und zog fluchend<br />

ab.<br />

Dubberkes gaben mir zu verstehen, dass es für sie zu gefährlich sei, mich weiter zu verstecken,<br />

also bin ich im Dunkeln in eine Decke gehüllt über die Straße zurück zu meinen<br />

Eltern und meinem Bruder in unsere Wohnung gelaufen.<br />

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Mit den Russen bzw. Tataren hatten sich meine Eltern so geeinigt: Sie benutzten den<br />

Kücheneingang und somit Küche und Wohnzimmer, meine Eltern den Esszimmereingang,<br />

also Ess- und zwei Schlafzimmer. Das zwischen Wohn- und Schlafzimmer befindliche<br />

kleine Schlafzimmer von Wilhelm wurde mit Schränken zugestellt – und wenn<br />

irgend ein Fremder von draußen zu hören war, war das kleine Zimmer mein Versteck.<br />

In diesen Tagen, da ich mich versteckt hielt, mussten Papa und Wilhelm mit dem Pony<br />

Leichen aus den Häusern abfahren. Das Stadtgas war noch nicht abgesperrt. Und so<br />

haben sich ganze Familien in ihrer Not als letzten Ausweg das Leben genommen. Auch<br />

Sparkassendirektor Treichel – er hinkte und war nicht kriegsdienstfähig – suchte den<br />

Freitod. Zuerst soll er – wie es später hieß – seine Frau, dann sich selbst erschossen haben.<br />

Das kinderlose Ehepaar hatte vergeblich versucht, in Stolpmünde auf ein Schiff zu<br />

kommen, um sich in Sicherheit zu bringen.<br />

Hausdurchsuchung und Vaters Brot zertreten<br />

Im Johnschen Haus in der Langen Straße war von den russischen Besatzern eine Kommandantur<br />

eingerichtet. Der Kommandant, ein Major, gab in diesen Märztagen den Befehl<br />

heraus, dass sich alle Deutschen im arbeitsfähigen Alter melden müssten. Wer nach<br />

Ablauf einer gewissen Frist noch nicht registriert wurde, sollte – wie es hieß - standrechtlich<br />

erschossen werden.<br />

Bei uns war am 19. März 1945 Hausdurchsuchung. Das ganze Quartier wurde von mehreren<br />

Russen, ob vier oder fünf, kann ich nicht mehr sagen, durchsucht. Sogar die Asche<br />

im Kachelofen <strong>des</strong> von uns genutzten Esszimmers haben sie durchstochert. Was die<br />

wohl gesucht haben? Die mit Gewehren bewaffneten Russen sind vom Esszimmer durch<br />

die beiden Schlafzimmer bis an die Tür meines Verstecks gekommen. Nun holten sie<br />

mich aus meinem Versteck, dem kleinen Zwischenzimmer. Einer der älteren Tataren, die<br />

die Küche und das Wohnzimmer besetzt hielten, kam herüber zu uns und war sehr erstaunt,<br />

auch mich zu sehen, denn er wusste bis dahin nur von meinen Eltern und meinem<br />

Bruder. Er machte mir heimlich hinter dem Rücken der Russen mit Handzeichen deutlich,<br />

ich sollte doch weggehen, mich wieder verstecken. Aber ich hatte Angst, war wie<br />

versteinert, und die Russen befahlen mir und meinem Vater unmissverständlich mit vorgehaltenen<br />

Gewehren, uns Mäntel überzuziehen, wir müssten mit. Sie zerrten meinen<br />

Vater und mich aus dem Haus und trieben uns dann durch die Straßen bis in den<br />

Schlosskeller. Hier befanden sich schon viele Deutsche, und mehr und mehr kamen hinzu.<br />

Auch Superintendent Molzahn kam und versicherte, er hätte mit dem Kommandanten<br />

gesprochen, wir sollten nur nach <strong>Schlawe</strong> zu Aufräumungsarbeiten gebracht werden.<br />

Wir verbrachten dicht gedrängt die Nacht im Schlosskeller, von den Russen bewacht.<br />

Vor Angst und Aufregung war an Schlaf nicht zu denken.<br />

Am nächsten Morgen marschierten wir in einer langen Kolonne 22 Kilometer zu Fuß<br />

nach <strong>Schlawe</strong>. In <strong>Schlawe</strong> wurden wir in Siedlungshäuser am Stadtrand verteilt, die leer<br />

standen. Ob die Eigentümer geflüchtet oder verhaftet waren, weiß ich nicht. Von Rügenwalde<br />

aus hatten wir tagelang den roten Himmel in Richtung <strong>Schlawe</strong> gesehen, so<br />

hatte es dort gebrannt. Von Aufräumungsarbeiten war nicht mehr die Rede. Wir harrten<br />

der Dinge, die da kommen sollten, ständig unter Bewachung und voller Angst.<br />

Nachts ab 24 Uhr wurden wir einzeln zum Verhör in eines der Häuser gebracht und nach<br />

dem Verhör in ein anderes Siedlungshaus, sicher damit wir den noch nicht Verhörten<br />

nichts berichten konnten. So ging das in drei Nächten hintereinander. Bei den Verhören<br />

wurden mir Fotos von Männern in SA- und SS-Uniformen vorgelegt, und ich wurde<br />

befragt, ob ich die Personen kenne, dabei wurde ich mit Scheinwerfern angestrahlt. Ich<br />

habe, Gott sei Dank, niemanden davon gekannt.<br />

20


Danach wurden wir wieder in Marschkolonne, diesmal nach Männern und Frauen getrennt,<br />

etwa 45 Kilometer nach Stolp gebracht. Neben uns Wachposten zu Pferde, die<br />

das Tempo mit „Dawai!“ antrieben. Halb gehend , halb laufend, kamen wir in Stolp an<br />

und wurden bis vor das Gefängnis geführt. Da habe ich zum ersten Mal förmlich ein<br />

Stoßgebet gen Himmel geschickt, denn der Gedanke, ins Gefängnis zu müssen, war mir<br />

unerträglich. Es war aber anscheinend schon überfüllt. Wir bekamen im Gefängnishof<br />

von den Russen zum ersten mal seit Tagen Brot, ein Kommissbrot für 25 Frauen. Es fiel<br />

in den Händen zu Krümeln auseinander. Anschließend ging es mit der Kolonne weiter<br />

zur damaligen Reichsbank. Unser Trupp musste nach oben in die leere Wohnung <strong>des</strong><br />

Reichsbankdirektors Dr. Backhaus, die sich in der oberen Etage <strong>des</strong> Bankgebäu<strong>des</strong> befand.<br />

Aber wie sah es dort aus! Es waren wohl schon viele vor uns diesen Weg gegangen.<br />

Das ganze Bad war voller Scheißbrühe, die Wanne, alles, total verdreckt. Dort<br />

konnten wir vielen Frauen unmöglich unsere Notdurft verrichten. Raus durften wir aber<br />

auch nicht.<br />

Dank einer rührigen und unerschrockenen gewissen Marianne aus <strong>Schlawe</strong> (wir kannten<br />

uns inzwischen wenigstens im engsten Umfeld mit Vornamen) haben wir uns dann so<br />

geholfen – wenn auch mit allem Ekel: Marianne hat die Wachposten gefragt, ob wir das<br />

Bad sauber machen dürfen. Die Posten waren ganz verblüfft und sagten nur: „Da, da.“.<br />

Dazu mussten wir erst einmal viel Sand beschaffen. Marianne, ich und noch ein paar<br />

beherzte Mädchen fassten Mut und holten aus dem Luftschutzkeller <strong>des</strong> Reichsbankgebäu<strong>des</strong><br />

Sand und Schaufeln (da waren tatsächlich welche). Soviel Sand, wie wir kriegen<br />

und schleppen konnten, haben wir dann ins Bad geschafft. Rein – und mit der Brühe, die<br />

darin unterging, wieder rausgeschaufelt. Wasser lief auch, also wurde mit Sand und<br />

Wasser geschrubbt, bis alles benutzungsfähig war. Haben wir uns abgerackert und geekelt<br />

– aber es ging! Im wahrsten Sinne <strong>des</strong> Wortes sagte Marianne: „Seht Ihr, die Lage<br />

wird erst dann beschissen, wenn wir uns nicht zu helfen wissen!“ Solche Menschen, wie<br />

diese Marianne, sind einfach Gold wert, sie meistern die schlimmsten Situationen und<br />

reißen andere mit!<br />

So haben wir uns beschäftigt bis vor dem Haus eine lange Männerkolonne hielt. Einige<br />

Frauen hatten Rügenwalder darunter entdeckt – auch mein Vater war dabei! Sie riefen<br />

mich ans Fenster, und ich sah meinen Vater unten auf der Straße stehen. Er zeigte „Hunger“<br />

mit einer verzweifelten Handbewegung zum Mund hin und rief leise „Brot“, um die<br />

Posten nicht aufmerksam zu machen. Ich erbettelte mir schnell einen Brotkanten bei den<br />

Frauen und warf ihm diesen vorsichtig zu – aber ein Wachposten hat es doch gemerkt<br />

und das Brot bewusst mit dem Stiefel zertreten. – Die Kolonne mit meinem Vater zog<br />

dann weiter – wohin? Würden wir beide uns in Sibirien wiedersehen? Ich wusste es<br />

nicht, aber das würde wohl unser Schicksal sein.<br />

Hundekuchen und Abtransport ins Lager Graudenz<br />

Nach ein paar Tagen waren wir Frauen an der Reihe. Unter Bewachung mussten wir das<br />

Reichsbankgebäude verlassen und zum Bahnhof marschieren. Wir wurden in Güterwagen<br />

verladen, immer 60 Frauen in einen Waggon, vollkommen zusammen gepfercht.. Es<br />

klingt wie ein schlechter Witz; beim ersten Halt erhielt jede von uns ein Päckchen<br />

„Spratt´s Hundekuchen“ von den russischen Wachposten zugeteilt, so hatten wir die<br />

Fahrt über zumin<strong>des</strong>t etwas zu nagen. Auch gut, das Hundefutter belastete die Eingeweide<br />

nicht so. Ich bin jedenfalls während der ganzen Fahrt nicht einmal mit rausgesprungen,<br />

wenn der Güterwaggon zum Austreten geöffnet wurde, frühmorgens, bevor<br />

die Fahrt weiterging. Dann stellten sich die Posten mit aufgepflanzten Bajonetten im<br />

Halbkreis auf, drei Schritte vom Waggon weg – und alle mussten nun unter ihren Augen,<br />

21


ihrem Gelächter und ihren Witzen die Notdurft verrichten. Ich fand das als Frau so erniedrigend,<br />

lieber wollte ich kaputtgehen...<br />

Als wir nach wohl 10 Tagen in Graudenz ausgeladen wurden, waren in unserem Waggon<br />

zwei Frauen an Diphtherie gestorben. Ich wurde beim Marsch vom Bahnhof ins<br />

Lager durch zwei Mädchen von beiden Seiten gestützt, denn ich konnte vor Schmerzen<br />

nur krumm gehen, da ich so lange keinen Stuhlgang hatte.<br />

In Graudenz wurden wir zu 1000 Frauen in einem Lager untergebracht. Das Lagergebäude<br />

war wohl eine Schule gewesen und ziemlich zerschossen. Überall standen bewaffnete<br />

Wachposten. Auf den zerlöcherten Treppen mussten wir Frauen uns gegenseitig<br />

hochhelfen. In dem oberen Klassenzimmer, in das wir hineingepfercht wurden, soviel<br />

nur hineingingen, haben wir nach und nach die Schusslöcher in den Wänden mit Papier,<br />

das wir in den Trümmern fanden, zugestopft. Damit drang die Kälte nicht ganz so in den<br />

Raum.<br />

Es konnte immer nur ein Teil von uns liegend schlafen, der Rest stand rund an den Wänden<br />

<strong>des</strong> Klassenzimmers. So lernten wir im Stehen zu schlafen, irgendwann wurde gewechselt.<br />

Schlimm wurde die Situation für uns, als in einer der ersten Nächte drei<br />

Deutsch–Polinnen, die aus der Gegend waren, geflohen sind. Von da an hatten wir verschärfte<br />

Bewachung, vor jedem Zimmer standen ab sofort Wachposten. Nur einmal,<br />

wohl früh gegen 6 Uhr, wurden wir truppweise mit starker Bewachung und aufgepflanzten<br />

Bajonetten auf die Latrine geführt. Bis dahin habe ich nachts manchmal wahnsinnige<br />

Schmerzen ausgehalten, wenn ich musste und nirgendwohin konnte. Ich habe oft gedacht,<br />

ich ertrage es nicht – viele Jahre später hatte ich noch Alpträume: Ich musste immer<br />

auf die Toilette, und es gab weit und breit keine.<br />

Das war schlimmer als die schwere Arbeit. Wir mussten zum Beispiel auf dem Bahnhof<br />

die Trümmer, Bahnschwellen und Schienenteile wegschleppen, um die Folgen von Beschuss<br />

und Bombardierung zu beseitigen. Aber wir waren immer im Trupp und so sicherer<br />

vor Vergewaltigungen, denn die Russen hatten es offensichtlich besonders auf Blondinen<br />

abgesehen.<br />

Dann mussten wir einige Tage im strömenden Regen stehen und wurden zu Hunderter-<br />

Kolonnen zusammengestellt. Unsere 100 waren nach dem komplizierten namentlichen<br />

Aufruf zum zweiten Mal 101, da sollten wir alle erschossen werden – Sabotage! – Der<br />

Kommandant war wütend. Endlich wurde eine ältere Jüdin geholt, die besser deutsch<br />

konnte als die Russen, denen die Aussprache der deutschen Namen offensichtlich sehr<br />

schwer fiel. Sie kam auf die Idee, uns nicht nur mit Namen, sondern auch mit Geburtsjahr<br />

aufzurufen. So stellte sich heraus, dass eine Hedwig Meyer übrig blieb, denn beim<br />

namentlichen Aufruf waren immer zwei Frauen mit dem Namen Hedwig Meyer in den<br />

Block getreten. Die zweite Hedwig Meyer gehörte der nächsten Hundertschaft an. Auf<br />

diese Weise hat uns die Jüdin das Leben gerettet.<br />

Es dauerte nicht lange, da grassierten im Lager Ruhr, Hungertyphus, und Läuse kamen<br />

auch noch hinzu. Es war schrecklich, was da alles über uns kam.<br />

Wer es nicht fertig brachte, auf die Dauer die Wasserbrühe, in der ein paar Graupen oder<br />

Körner herumschwammen, zu schlucken, der hatte bald Hungertyphus. Das einzige, was<br />

dagegen unternommen wurde: Die sehr Kranken wurden in einem Extraraum untergebracht.<br />

Die Latrinenzeremonie erweiterte sich dahingehend, dass hinter der Latrine noch<br />

eine große Grube ausgehoben wurde, in die die Toten geworfen wurden. Vorher wurden<br />

sie allerdings von den Soldaten erst noch um Brauchbares erleichtert , wie Schuhe, Stiefel<br />

etc., soweit noch vorhanden.<br />

Eines morgens, als wir auf die Latrine geführt wurden, passierte etwas Makaberes, über<br />

das ich im Nachhinein sogar lachen musste. Was war geschehen? Ein Lastwagen fuhr in<br />

22


den Lagerhof herein, beladen mit Brot. Ein Deutscher stand oben auf dem Hänger, sah<br />

uns auf der Stange sitzen und rief: „Schnell, Mädchen, macht mir Platz, ich habe die<br />

Ruhr und keine Hose zum Wechseln. Ich springe zu Euch runter, sonst passiert ein Unglück!“<br />

Er sprang herunter und erleichterte sich. Die herbeigeeilten Wachposten piekten<br />

uns mit den Bajonetten aus der Latrine – zurück ins Lager.<br />

Die Zahl der Kranken und der Toten im Lager nahm von Tag zu Tag zu, es waren wohl<br />

schon über ein Dutzend jeden Morgen. In Graudenz, so hörten wir durch den Buschfunk,<br />

sollten wohl insgesamt 60 Lager mit Frauen und Männern getrennt, immer 1000 an der<br />

Zahl, bestehen, das heißt, 60.000 Verschleppte allein in Graudenz! Das war durchaus<br />

möglich, denn die vielen Leute von den Trecks, die auf den Landstraßen unterwegs waren,<br />

wurden in unsere Marschkolonne eingereiht, bis Stolp, wo wir verladen wurden.<br />

Graudenz war auch die letzte Station vor Deutsch-Eylau. Hier wurde Richtung Sibirien<br />

verladen, wie wir später hörten. Und mir mein Vater, der auf diesem Weg bis nach Karanganda<br />

gekommen war, später bestätigt hat.<br />

Wie viele Menschen sind im Lager Graudenz umgekommen, niemand wird es je genau<br />

erfahren. Zwischen uns Pommern waren ebenso Leute aus Posen / Westpreußen, Ostpreußen<br />

sowie aus dem Memelland unter den Verschleppten.<br />

Eines Tages wurden wir Frauen wieder auf dem Hof zu Hundertschaften zusammengestellt.<br />

Wir dachten, jetzt geht die Verschleppung weiter Richtung Osten. Nach stundenlanger<br />

Warterei – es ging schon auf den Abend zu – wurden wir - mit Wachposten um<br />

uns herum - schließlich bis über die Weichsel gebracht. Dann wurden wir zu zweit bis<br />

viert an den Posten vorbeigeführt, und jeder von ihnen nahm sich noch, was ihm gefiel.<br />

Besonders begehrt waren Armbanduhren und Stiefel. Eine Uhr hatte ich nicht mehr, und<br />

meine hohen Schnürschuhe fanden kein Interesse, also konnte ich unbehelligt vorbeigehen.<br />

Marianne hatte ihre Stiefel immer gut unter den Skihosen versteckt, aber nun wurden<br />

sie ihr doch ausgezogen. Sie musste sich Lappen um die Füße wickeln.<br />

Dann mussten wir weiter – aber das war doch westlich der Weichsel! Wir verstanden<br />

nichts mehr.<br />

Blonde Frauen wurden aussortiert<br />

Etwas abseits von der Straße war eine große Feldscheune. Da mussten wir anhalten, es<br />

war schon stark dämmrig. Plötzlich kam ein Lastwagen, besetzt mit mehreren schlitzäugigen<br />

Soldaten, vermutlich Kirgisen, angefahren. Sie sprangen ab und sortierten zwischen<br />

uns alle jungen blonden Frauen heraus. Diese mussten sich auf die andere Straßenseite<br />

stellen. Wir Blondinen hatten uns die Kopftücher weit ins Gesicht gezogen,<br />

aber die hellen Augenbrauen und Augen verrieten uns. Auch ich wurde rübergeschickt.<br />

Das war mir doch mulmig, ich ahnte Schlimmes, ich hatte Angst, doch noch vergewaltigt<br />

zu werden. Oder was hatte man sonst mit uns vor? Bei der allgemeinen Unruhe gelang<br />

es mir, unbemerkt die Straße zu wechseln und wieder in dem größeren Haufen zu<br />

verschwinden.<br />

Die aussortierten Blondinen wurden dann auf den LKW geladen, sich zu wehren, war<br />

angesichts der vielen bewaffneten Soldaten sinnlos. Und ab ging die Fahrt zurück über<br />

die Weichsel. Ich habe nie wieder etwas von diesen blonden Frauen gehört.<br />

Wir zurückgebliebenen Frauen mussten hinüber in die Feldscheune. Sie war voller Heu<br />

und Stroh. Ich bin mit ein paar Gleichaltrigen so hoch gekraxelt wie es nur irgendwie<br />

ging, da haben wir uns hinter Heuballen versteckt.<br />

In der Nacht wurden von den verbliebenen Wachposten noch mal Frauen geholt, vermutlich<br />

um sie zu vergewaltigen. Wir wagten hinter unseren Heuballen nicht zu atmen. Die<br />

23


Posten hatten mit Bajonetten ins Stroh gestochen, Gott sei Dank kamen sie nicht bis zu<br />

uns hoch ins Heu. Dann war endlich Ruhe. Doch die Angst blieb.<br />

Flucht mit Pellkartoffeln und Blutblasen<br />

Im Morgengrauen hatten ein paar Vorwitzige mal aus der Scheune geguckt. Ihre Nachricht<br />

ging um wie ein Lauffeuer: „Die Posten sind weg!“ Wir konnten es kaum glauben.<br />

Aber dann liefen wir und liefen, soweit die Kräfte reichten und bis wir keine Puste mehr<br />

hatten, bis es wirklich nicht mehr weiterging. Dabei hatte sich schon alt und jung getrennt,<br />

das war ganz natürlich, denn die älteren Frauen konnten mit unserem Tempo<br />

nicht mithalten. Es war ja auch sicher besser, in kleineren Gruppen zu gehen. Wir waren<br />

etwa 15 junge Frauen, die sich zusammenfanden, darunter auch Marianne.<br />

Nach einer kurzen Verschnaufpause sind wir dann weitermarschiert. Die Sonne und die<br />

Wetterseite der Bäume dienten uns zur Orientierung, denn alle Schilder auf der Straße<br />

waren polnisch beschriftet. Wir sind von der Straße weg, immer auf Land- und Waldwegen<br />

weitergezogen, möglichst nicht durch Ortschaften. Schließlich wusste man nicht,<br />

wem man begegnet, und wir hatten Angst, wieder aufgegriffen zu werden. Trafen wir<br />

auf eine Kartoffelmiete im Feld, wurden dürre Zweige gesammelt, und damit durch Aneinanderreiben<br />

in einer Bodenvertiefung Feuer gemacht, um die Kartoffeln zu braten.<br />

Die wurden dann redlich geteilt und bildeten unsere Marschverpflegung.<br />

Mal wagten wir uns auch auf ein einzelnes abgelegenes Gehöft. Da erfuhren wir dann<br />

von den dort wohnenden Deutsch-Polen, dass wir auf der Hut sein müssten, denn die<br />

polnische Miliz wäre unterwegs, um die Deutschen wieder zur Zwangsarbeit einzufangen.<br />

Damit bestätigte sich unsere Befürchtung. Es hieß also, weiterhin sehr vorsichtig zu<br />

sein. Die Deutsch-Polen hatten selber viel Angst, aber wir bekamen als Proviant wenigstens<br />

eine Handvoll gekochte Pellkartoffeln mit auf den Weg. Die konnte man gut unterwegs<br />

nach und nach essen.<br />

Wir hatten auch mal Pech, als wir bei einem Polen anklopften, der ein Deutschenhasser<br />

war. Er hatte sicher hierfür seine Gründe. Der Mann hetzte seine Hunde auf uns. Vor<br />

lauter Angst, gebissen zu werden, liefen wir so schnell wir konnten, obwohl unsere Füße<br />

furchtbar schmerzten und mit Blutblasen übersät waren.<br />

Ein anderes Mal hatten wir auch Glück. Menschen, die offensichtlich Mitleid<br />

mit uns hatten, gaben jeder von uns eine Scheibe Kartoffelbrot und<br />

einen Topf Malzkaffee, und wir durften in der Scheune schlafen.<br />

Wir richteten es so ein, dass wir min<strong>des</strong>tens 30 Kilometer am Tag schafften. Neben dem<br />

Hunger machten uns die kaputten Fußsohlen die meisten Probleme. Doch wir wollten<br />

nach Hause, das trieb uns voran.<br />

Einmal kamen wir bis an die Tucheler Heide (polnisch: Bory Tucholskie), ein großes<br />

Heidegebiet in der Nähe von Tuchel (polnisch: Tuchola), nördlich von Bromberg. Von<br />

dort her konnten wir in der ersten Zeit in Graudenz immer noch Geschützdonner hören.<br />

Die toten deutschen Soldaten lagen hier in der Heide wie gesät, die Soldbücher flatterten<br />

auf und zu im Wind. Sicher hatten vor uns schon Leute die Soldbücher aus den Uniformen<br />

hervorgezogen und nachgesehen, wer erschossen wurde. Aber ob die Angehörigen<br />

jemals Nachricht bekommen haben? Ich glaube eher nicht. Wir wagten es jedenfalls<br />

nicht, irgend ein Soldbuch an uns zu nehmen. Denn wir hatten Angst, falls wir aufgegriffen<br />

würden, solche Dokumente bei uns zu haben. Was hätten wir erklären sollen. Wir<br />

wussten ja auch nicht, ob es uns gelingen würde, überhaupt nach Hause zu kommen.<br />

Wir hielten uns also weiter nördlich, um das Schlachtfeld zu umgehen. Ein ganzes Stück<br />

liefen wir auf einer Bahnstrecke, auf den Schwellen kam man gut voran. Aber wir waren<br />

24


wohl zu weit nach Norden abgekommen. Plötzlich tauchten westlich der Bahnlinie<br />

Wachtürme und Stacheldrahtzäune auf. Was wir dann noch erkennen konnten, ließ uns<br />

fast das Blut in den Adern stocken: Ausgemergelte männliche Gestalten wankten mit<br />

schwer beladenen Schubkarren dahin. Einige trugen zu zweit Baumstämme auf den<br />

Schultern. Die Männer hatten Eisenringe um den Hals, Ketten daran mit Kugeln am<br />

Ende, auch an den Füßen schleppten sie Ketten. Es war ein Anblick als würde hier ein<br />

Film aus der Sklavenzeit gedreht. Dieses Bild <strong>des</strong> Grauens habe ich immer verdrängt,<br />

aber bis heute habe ich es nicht vergessen können. Heute frage ich mich: Ob das wohl<br />

das Konzentrationslager Danzig-Stutthof war, oder ein Außenlager?<br />

Wir ließen uns vor Schreck vom Bahndamm auf der anderen Seite herunterrollen, krochen<br />

auf allen Vieren, so schnell wir konnten, weg – zurück – nur weg! Wir liefen dann<br />

bis wir vor Erschöpfung liegen blieben..<br />

Wir waren dann so an die zehn Tage und etwa 300 Kilometer unterwegs. Einmal hätte<br />

uns beinahe die polnische Miliz erwischt. Drei uniformierte Reiter kamen den Feldweg<br />

entlang, aber wir konnten uns rechtzeitig im Gebüsch verstecken. Der lange Marsch mit<br />

den schmerzenden Füßen, der Hunger und die ständige Angst hatten mich wie auch die<br />

anderen jungen Frauen sehr zermürbt. Doch der Gedanke, bald nach Hause zu kommen,<br />

trieb uns weiter.<br />

In der Nähe von <strong>Schlawe</strong> hieß es dann von Marianne Abschied nehmen. Marianne hatte<br />

ihr Ziel erreicht. Wir beide hatten uns immer so gut verstanden und soviel Schweres<br />

miteinander durchgemacht, da fiel uns der Abschied nicht leicht. Dass es ein Abschied<br />

für immer sein würde, konnten wir beide damals nicht ahnen. Ich habe von Marianne<br />

leider nie wieder etwas gehört.<br />

Verzweifelte Suche nach Mutter und Bruder<br />

Ohne Marianne gingen wir nun weiter unserem Ziel Rügenwalde entgegen.<br />

Unterwegs hörten wir von Leuten, dass 25 Kilometer Küstenstreifen von Deutschen<br />

geräumt worden waren. Alle Rügenwalder wären auf Dörfer außerhalb dieses Küstenstreifens<br />

im Umland verteilt worden. Bei den Bürgermeistern dieser Orte lägen Listen<br />

von allen Zugewanderten aus, da könne man nachsehen, wo sich Angehörige befinden.<br />

Ich suchte mich also mühsam in mehreren Ortschaften durch, bis ich in Bartlin (heute<br />

polnisch: Bartolino), ca. 25 Kilometer von Rügenwalde entfernt, das Quartier von meiner<br />

Mutter und meinem Bruder Wilhelm fand – aber von ihnen keine Spur.<br />

Ich blieb erst einmal dort, in der Hoffnung, dass sie wieder hierher kommen würden. Die<br />

Rügenwalder, die noch mit im Quartier wohnten, erzählten mir, dass meine Mutter und<br />

Wilhelm zum Abbau von Bahnlinien unterwegs sind, bewacht von russischen Soldaten,<br />

aber an verschiedenen Bahnstrecken. Beide kamen dann tatsächlich einige Tage später in<br />

das Quartier zurück. Mutti und Wilhelm hatten unterwegs gehört, dass die Verschleppten<br />

freigelassen würden, weil sich der Amerikaner dafür eingesetzt hätte. Mutti dachte <strong>des</strong>halb,<br />

dass mein Vater und ich nun auch entlassen wurden. Sie wollten uns so schnell wie<br />

möglich wiedersehen.<br />

Deshalb hatte sich Wilhelm heimlich von der Arbeitsstelle abgesetzt, und Mutti hatte<br />

sich beim Weiterrücken <strong>des</strong> Arbeitstrupps eine Nacht lang in einem Hühnerstall versteckt<br />

und war dann unbemerkt abgehauen. Was man alles so wagt, wenn es sein muss.<br />

Das hätte ich meiner Mutter nie zugetraut. Nun war sie sehr enttäuscht, dass ich allein<br />

gekommen war. Hatte sie doch angenommen, ich wäre seit der Verhaftung die ganze<br />

Zeit mit meinem Vater zusammen gewesen.<br />

Als nach und nach immer mehr Rügenwalder von Bartlin nach Rügenwalde zurückgingen,<br />

machten wir drei uns auch auf den Weg. In Rügenwalde angekommen, mussten wir<br />

25


Deutschen innerhalb von 24 Stunden Arbeit nachweisen, dann gab es ein Dokument, und<br />

man konnte in der Stadt bleiben. Wir gingen also in unsere Hospitalstraße – aber unser<br />

Haus war noch von Russen besetzt. Zwei Häuser weiter stand das kleine einstöckige<br />

Haus der Förderers ganz leer. Mit Möbeln, die auf dem Hof herumlagen, ein Schrank,<br />

zwei Bettstellen, ein Sofa, Tisch und Stühle, richteten wir uns ein Zimmer ein. Dann<br />

gingen wir drei zum polnischen Magistrat und bekamen Arbeit – und unser Dokument.<br />

Das ehemalige Lazarett in der Landfrauenschule war aufzuräumen, sauber zu machen,<br />

der Hausgarten in Ordnung zu bringen. Es sollte alles für die polnische Miliz hergerichtet<br />

werden. Beaufsichtigt hat uns der damalige Chef der Miliz Janek Jerzewski. In den<br />

nächsten Tagen kamen noch drei Arbeitskräfte hinzu, nämlich Brigitte Wirtz aus Hagen<br />

mit ihrer Mutter und ihrem Bruder. Wir arbeiteten zusammen bis alles fertig war.<br />

Brigitte und Janek heirateten ein Jahr später. Er musste dann seinen Posten aufgeben und<br />

übernahm die ehemalige Fleischerei Janke in der Langen Straße. Es war wohl die erste<br />

Ehe zwischen einem Polen und einer Deutschen in Rügenwalde. Brigitte hatte es sehr<br />

schwer, die Polen haben sie zuerst angespuckt. Wir haben uns dann zurückgezogen, um<br />

ihr die Eingliederung zu erleichtern. Unserer Meinung nach war es besser für sie, weniger<br />

Kontakt zu Deutschen zu haben. Wilhelm blieb noch bei Janek in der Fleischerei<br />

beschäftigt und hatte so wenigstens zu essen.<br />

Ich musste in eine polnische Landwirtschaft (früher Trabandt, hinter dem Steintor), hatte<br />

schwer auf den Feldern zu arbeiten und oft nichts zu essen. Das kam aber der schweren<br />

Gelbsucht zugute, die ich wohl als einzige Nachwirkung vom Lager her hatte. So heilte<br />

diese bald aus – ab und zu fiel ich hin, aber ich sah immer zu, dass ich auf einem Heuhaufen<br />

zu liegen kam als wir Heu wenden mussten. Das Heu war wenigstens weich.<br />

Besser als mein Bett in unserer Unterkunft bei Förderers, denn zu dieser Zeit hatte ich<br />

nur eine Bettstelle mit leeren Säcken bedeckt. Später bekamen wir von einer Nachbarin,<br />

Frau Miels, noch Bettzeug. Bei ihr wohnte ein da gebliebener Franzose, es war also nicht<br />

so geplündert worden wie überall sonst. Schließlich nahmen die Polen einem ehemaligen<br />

Kriegsgefangenen nichts weg.<br />

Unfall mit Pferdewagen und Nachricht vom Vater<br />

Nach der Heuernte musste ich mit dem Pferdewagen Sand vom Darlowberg bei Rügenwalde<br />

zur Stadt fahren. Vom Steintor aus über den Marktplatz ging es ziemlich abwärts.<br />

Ob ich nicht genug gebremst hatte, oder ob sich das Pferd aus irgendeinem Grund erschreckt<br />

hatte, jedenfalls ging es mir durch. Ich weiß nicht mehr, ob ich abspringen wollte<br />

oder gestürzt bin. Ich bin mit der rechten Schläfe bei Milch-Reichow an der Ecke auf<br />

den Bordstein aufgeschlagen. Ich wurde bewusstlos, Polen haben mich ins Krankenhaus<br />

geschleift und mich dort auf eine Bank gelegt. Im Krankenhaus war noch unser Doktor<br />

Krüger, der hat meine Kopfwunde unterhalb der rechten Augenbraue bis zur Schläfe<br />

wunderbar wieder zusammengeflickt. Ich sollte nun Angaben über den Unfall machen,<br />

aber ich hatte einen totalen Filmriss. Es ist furchtbar, wenn man sich an nichts erinnern<br />

kann. Als ich gehen durfte, bin ich erst zur Arbeitsstelle, der polnischen Landwirtschaft<br />

bei Trabandt, um zu erfahren, was überhaupt geschehen war. Die Leute dort erzählten<br />

mir, dass das mir durchgegangene Pferdegespann wieder eingefangen worden ist. Dann<br />

bin ich mit wankenden Knien langsam nach Hause geschlichen. Dort hat mich meine<br />

Mutter mit den folgenden Worten empfangen: „Mein Gott, wie soll ich das blutverschmierte<br />

Kleid wieder sauber kriegen!“ Da bin ich zusammengeklappt – kein Kommentar.<br />

Als ich das erste Mal nach dem Unfall wieder auf den Pferdewagen musste, habe ich am<br />

ganzen Körper gezittert; ich konnte gar nichts dagegen tun.<br />

26


Opas Taschenuhr und Arbeitshosen gegen Dorsch<br />

Meiner Mutter und mir ging es in den Herbsttagen 1945 sehr schlecht. Wir hatten fleißig<br />

Sauerampfer von den Wiesen und Wacholderbeeren von der Rügenwalder Reeperbahn<br />

hinter unserer Hospitalstraße gesammelt, solange es irgendwo noch welche gab, und uns<br />

davon Suppen gekocht, um über die Runden zu kommen. Mit Interesse hatte ich als<br />

Kind manchmal beobachtet, wie der Seiler auf der Reeperbahn Schiffstaue aus Seilen<br />

gedreht und gezogen hat, wahrscheinlich auch für die Bootswerft Goetz, die sich am<br />

Ende der Reeperbahn befand.<br />

Als der Hunger schlimmer wurde, raffte ich mich auf und nahm ein paar alte Arbeitshosen,<br />

die bei Förderers auf dem Dachboden lagen und ging in den Hafen zu den Lebaer<br />

Fischern. Sie mussten mit ihren Kuttern für den Russen fischen, alles unter Aufsicht.<br />

Aber es gelang wohl doch mal, einen Sack mit Fischen für den Eigenbedarf an der Hafeneinfahrt<br />

zu versenken und diesen dann unter Gefahr mit einem Beiboot einzuholen.<br />

Ich musste schon sehr betteln, bis sie bereit waren, mir gegen die Arbeitshosen Dorsch<br />

einzutauschen. Wie ich mir da vorgekommen bin – ich beschreibe es lieber nicht. Ich<br />

hatte doch noch nie gebettelt und kämpfte mit den Tränen. Den Dorsch konnte man gut<br />

in seiner Leber braten, das machte schön satt. Wer hätte das gedacht, dass wir noch mal<br />

damit unseren Hunger stillen würden? Nun dachten wir an Karl Kiek´s Worte: „Wat<br />

freet ji all Dog, immer Kotletts? Fisch is veel jesünder!“<br />

Es half aber alles nichts, Mutti bekam die Ruhr und wurde sehr krank.<br />

An einem Tag im Dezember 1945 kam ganz überraschend mein Opa aus Zanow zu Mutti,<br />

Wilhelm und mir, er hatte uns in der Hospitalstraße in Förderers Haus ausfindig gemacht.<br />

War das eine Freude! Opa war mit einem Russen gekommen, der ihn im Auto<br />

mitgenommen hatte und ihn am selben Tag auch wieder mit zurück nach Zanow nahm.<br />

Unser Großvater hatte ein besonderes Anliegen, für das er mit dieser Fahrt viel gewagt<br />

hatte: Er brachte meinem Bruder Wilhelm das Familienerbstück, seine goldene Taschenuhr<br />

mit Sprungdeckel, in welche die Buchstaben „W.A.“ für Wilhelm Adam eingraviert<br />

waren, als Geschenk.<br />

Bei dem unverhofften Besuch fragte ich Opa unter anderem, ob er mir etwas über meine<br />

Freundinnen, die Zwillinge aus Zanow erzählen könnte. Er sagte mir dann, dass sie sich<br />

beide am 18. April wegen Vergewaltigungen das Leben genommen hätten.<br />

Opa muss eine Vorahnung gehabt haben, dass wir uns nicht wiedersehen würden.<br />

Anfang 1946 wurden Opa sowie Tante Lotte und deren kleine Kinder Ursula, Siegfried<br />

und Erika nachts von Polen aus dem Haus geholt. Die Polen ließen ihnen kaum Zeit, sich<br />

warm anzuziehen, und es war eisig kalt draußen. So holte sich Opa auf dem Transport<br />

schwere Erfrierungen und ist am 26.04.1946 im Auffanglager Niebüll / Holstein verstorben.<br />

Tante Lotte und ihre Kinder waren lange sehr schwer krank.<br />

Als es Mutti und mir kurz vor Weihnachten 1945 vor Krankheit und Hunger besonders<br />

dreckig ging, kam Herr Walkmann zu uns. Er war in der Nazizeit Bote beim Amtsgericht<br />

und wohl ein SPD-Mann. Er sagte, dass er von uns gehört hätte – und dass es uns<br />

so schlecht geht, hätten wir nicht verdient. Er wüsste von Papas Einstellung und von<br />

seinen großen Einsätzen für die Verwundeten bis zuletzt, und er wolle uns helfen. Im<br />

Amtsgericht wäre eine Russen-Küche eingerichtet worden für Soldaten und Zivile der<br />

Kommandantur. Er hätte mit dem Kommandanten gesprochen, und für die Kartoffelschälküche<br />

wollten sie deutsche Frauen einstellen. Wir sollten uns so bald wie möglich<br />

dort melden. Das taten wir natürlich mit Freuden! Wir bekamen auch Dokumente und<br />

mussten zur Gesundheitsuntersuchung.<br />

27


Die Vertreibung aus der Heimat 1946/1947<br />

Arbeit in der Russenküche und Attacke mit Krummdolch<br />

Mit der Arbeit in der Russenküche begannen Mutti und ich im Januar 1946. Die Sorge<br />

ums tägliche Sattwerden war uns genommen und mehr noch – später konnten wir anderen<br />

Menschen helfen, denn oft war von der kräftigen Suppe übrig. Unsere Arbeitszeit<br />

ging von morgens 6 Uhr bis abends 18 Uhr, wir hatten unser tägliches Essen! Mutti kam<br />

vom Kartoffelschälen dann sogar in die eigentliche Küche zu den russischen Köchinnen<br />

und lernte Nudeln, Wareniki, Galuschki, Pelmeni und andere Mehlspeisen herzustellen,<br />

die meist als Suppeneinlagen dienten Auch ich habe das später noch gelernt.<br />

Ich musste in der Kartoffelküche meistens Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, viel Kohl<br />

schneiden, auch Spitzbeine zu Sülze verarbeiten. Wir waren vier deutsche Frauen: Lore<br />

Hendeß, Frau Zipperling, Maria Kreft und ich. Frau Zipperlings Mann war Oberinspektor<br />

und mein Lehrausbilder in der Sparkasse gewesen und Lore Hendeß eine Kollegin<br />

von mir.<br />

Die vier russischen Köchinnen sprachen kaum ein deutsches Wort mit uns, brachten<br />

kleine Wörterbücher russisch-deutsch und Schulbücher mit und bedeuteten uns, wir<br />

müssten eben lernen, damit wir uns verständigen könnten. Wie wir später begriffen, war<br />

das teils bewusst so, denn die Russinnen mussten bei Verhören, die von Zeit zu Zeit<br />

stattfanden, beweisen oder doch glaubhaft machen, wie sie nach Deutschland gekommen<br />

waren.<br />

Auf diese Weise lernte ich mehr oder weniger gut autodidaktisch russisch sprechen,<br />

lesen und schreiben, jedenfalls konnten wir uns verständigen.<br />

Eines Tages herrschte in der Küche helle Aufregung. Im Hof <strong>des</strong> Amtsgerichts war eine<br />

Zelle, in die wurden manchmal Soldaten zur Ausnüchterung gebracht. Unsere Kellerfenster<br />

waren etwa ebenerdig gegenüber. Ich war allein in der Kartoffelküche, alle waren<br />

nebenan in der Küche beschäftigt. Da sprang zum Fenster ein völlig im Delirium befindlicher<br />

Soldat herein und mit einem Krummdolch auf mich zu. Ich war wie erstarrt und<br />

habe dann auf deutsch laut „Nein, nein!“ geschrieen. Da hat der Soldat wohl erkannt,<br />

dass ich nicht die Richtige war. Er ließ den Dolch sinken, torkelte zur Tür und wurde<br />

dort schon von den Wachen wieder in Empfang genommen. Er hatte das Fenster verwechselt.<br />

Nebenan in der Küche arbeitete seine russische Freundin Katja, die ihm wohl<br />

untreu geworden war. Nun wollte er sich offensichtlich rächen.<br />

Ich hatte wieder einmal einen Schutzengel gehabt!<br />

Briefe einzige Brücke zur Familie<br />

Wir ahnten in der damaligen Zeit nicht, dass noch über ein Jahr lang lediglich Briefe<br />

eine Brücke für unsere Familie bilden würden. Diese Zeit zwischen Hoffen und Bangen,<br />

ob und wann wir wieder zusammen sein würden, schildern sehr authentisch die Rügenwalder<br />

Briefe, die meine Schwester Erika aufgehoben hat und die noch im Original existieren.<br />

Rügenwalde, den 14.4.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Euren lieben Brief vom 8. März 1946 haben wir am 9. April mit großer Freude erhalten.<br />

Dies war der erste Brief von Euch, den wir bekamen. Durch Onkel Reinholds Brief an<br />

Oma wussten wir, dass Ihr dort seid. Wir haben sehr auf Papa gewartet und sind doch<br />

froh, dass er nicht nach hier gekommen ist. Auch um Dich, meine liebe Eka, haben wir<br />

sehr gebangt. Wir möchten nun zu gerne zu Euch, aber wir bekommen keine Ausreisegenehmigung.<br />

Nun müssen wir warten bis die Grenzen offen sind. Anfang März ist ein<br />

polnisches Auto mit 22 Personen über die Oder gefahren, darunter auch Nünkes und<br />

28


Bäckerts. Es kostete pro Person 3.000 Zlotys, das können wir nicht erschwingen. Wir<br />

freuen uns, dass Papa wieder Arbeit hat und sogar schon Pferde und Wagen. Wilhelm<br />

war ganz gerührt und hat sehr geweint. Ja, wie gerne möchte er Papa helfen. Er arbeitet<br />

bei einem polnischen Fleischer und hat 3 Pferde zu versehen. Er bekommt volle Verpflegung.<br />

Zu Weihnachten hat er 150 Zloty und zum Geburtstag 100 Zloty bekommen. Sonst<br />

gibt es kein Geld, auch Anita arbeitet nur fürs Essen. Sie ist in einer russischen großen<br />

Küche beschäftigt und bringt aber soviel zu essen für mich mit. Das ist mehr wert als<br />

Geld. Sie will noch alleine schreiben. Ich bin seit Mitte Januar entlassen. Ich bin nun zu<br />

Hause und habe so beiher geschneidert. Unser Haus ist noch nicht frei, es wohnen noch<br />

die selben Leute drin, Litauer, die in der Molkerei beim Russen arbeiten. Gestern habe<br />

ich mir 2 kleine Wagen Holz von dort geholt. In unserem Garten blühen so schön die<br />

Osterblumen. Ja, nächsten Sonntag ist Ostern, doch alles ist so traurig. Gesundheitlich<br />

geht es uns gut. Aber mit unseren Schuhen ist es schlecht bestellt. Wilhelm ist bald 14<br />

Tage zu Hause, er ist mit dem Pferd gestürzt und hat sich das Knie durchgeschlagen,<br />

aber es heilt schon. Wilhelms Chef hat sich kürzlich verheiratet mit Brigitte Wirtz aus<br />

Hagen, die ist so alt wie Du Erika. Wilhelm musste auch zur Hochzeit fahren.<br />

Im März war hier großes Feuer, in der Scheunenstraße sind alle Scheunen abgebrannt,<br />

aber Bauers Haus ist gerettet. Lehmanns wohnen in Nünkes Haus, ich soll Euch sehr<br />

grüßen. Es fragen so viele, Schielmann grüßt Dich lieber Karl. Herr Förderer ist Chauffeur<br />

bei den Russen, hier stehen 2 Autos, der andere Chauffeur, ein Russe oder besser<br />

Armenier, wohnt auch noch hier. Wir haben ja bloß 1 Zimmer, 3 Betten, 3 Stühle, 1<br />

Tisch, Waschtisch, 1 Vertiko, Betten von Frau Miels geborgt, wohnen aber sehr ruhig.<br />

Vergewaltigt sind wir nicht mehr worden, auch Anita nicht. Im Dezember war Vater aus<br />

Zanow hier, sie haben Polen in der Wirtschaft und wohnen oben. Von Arthur keine<br />

Nachricht. Hoffentlich sehen wir uns alle bald einmal wieder.<br />

Schreibt bald, grüßt alle Verwandten, recht viele Grüße und Küsse Euch beiden Eure<br />

Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

Lieber Papa, liebe Eka!<br />

Auch ich will schnell noch ein wenig schreiben. Wir werden noch immer satt. In unserer<br />

Russenküche essen 200 Personen. Ich arbeite von morgens 6 bis abends 6 Uhr fürs Essen,<br />

bringe dann für Mutti soviel mit. Mittwochs habe ich meinen Sonntag, freitags gehe<br />

ich abends ins russische Saunabad. Wir, die da arbeiten, dürfen dorthin gehen. Sogar<br />

tanzen war ich schon 3 – 4 mal, das ist auch da im Amtsgericht, Frau Mielke spielt da<br />

Akkordeon (unsere Klavier- bzw. Akkordeon-Lehrerin).<br />

Nun seid vielmals gegrüßt von Eurer Anita.<br />

Vergewaltigung Jahrzehnte verdrängt<br />

In dem Brief vom 14. April 1946 schreibt meine Mutter, für den Leser fast beiläufig, den<br />

folgenden Satz: „Vergewaltigt sind wir nicht mehr worden, auch Anita nicht“. Sie<br />

schneidet damit ein heikles Thema an, das ich jahrzehntelang verdrängt habe, aber mit<br />

der Arbeit an dem vorliegenden Buch zwangsläufig wieder ins Bewusstsein trat: Meine<br />

eigene Vergewaltigung durch einen russischen Besatzer in Rügenwalde im Januar 1946.<br />

Meine Mutter hat sich an anderer Stelle nie wieder über eine Vergewaltigung geäußert.<br />

Eine Vergewaltigung erleben zu müssen ist ein in das Leben einer Frau besonders einschneiden<strong>des</strong><br />

und ihre Gefühlswelt zerstören<strong>des</strong> Ereignis. Aus Gründen der wahrheitsgetreuen<br />

Wiedergabe, und um die damaligen Geschehnisse in ihrer Dimension deutlich zu<br />

machen, wollte ich den Satz in dem Brief nicht unkenntlich machen oder entfernen. Ich<br />

persönlich hatte mich bis zu dem genannten Zeitpunkt erfolgreich vor Übergriffen wehren<br />

oder ihnen mit Geschick aus dem Wege gehen können, wie zum Beispiel im Lager<br />

29


Graudenz. Einem russischen Chauffeur konnte ich nicht entkommen. Er erwischte mich<br />

ich eines Abends in Förderers Haus. Um mich zu wehren, biss ich ihm heftig ins Ohr.<br />

Gott sei Dank ist er mir nie wieder unter die Augen gekommen, er war auf der Durchreise.<br />

Solange ich in der Russenküche war, haben Mutti und ich ausreichend zu essen gehabt<br />

und uns körperlich erholt und gekräftigt.<br />

Vielen Rügenwaldern, die nicht arbeiten konnten, ging es in dieser Zeit bedeutend<br />

schlechter. Ich denke dabei an die alte Frau Jakob in der Hospitalstraße, die mit vier oder<br />

fünf kleinen Enkelkindern allein lebte und sich irgendwie durchschlagen musste.<br />

Frau Jakob freute sich stets über die von mir im Eimer gebrachte Suppe und war mir<br />

hierfür sehr dankbar.<br />

Jakobs Haus stand gegenüber der Motorbootanlegestelle. Ihre Tochter Anna, eine bildhübsche<br />

brünette junge Frau, war so oft von Russen vergewaltigt worden, dass sie nicht<br />

weiterleben wollte und ins Wasser gegangen ist.<br />

Darlow / Rügenwalde, den 19.5.1946<br />

Meine liebe Erika und lieber Karl!<br />

Ich weiß nicht, ob Papa schon wieder bei Dir ist, Erika. Ich hörte durch Oma, er ist mit<br />

Onkel Erich, Reinhold und Herbert nach Bielefeld. Nun bist Du wieder allein. Soeben<br />

habe ich an Tante Lisbeth geschrieben. Ich will versuchen, auf eine Art an Euch Nachricht<br />

zu schicken. Wenn wir nur erst bei Euch wären. Gesundheitlich geht es uns gut, bis<br />

auf Wilhelm, sein Bein ist noch nicht heil. Ich bin Schneiderin und habe viel Arbeit.<br />

Freitag habe ich 2 ganz frische selbstgebackene Brote fürs Nähen bekommen. Omi ist<br />

nun weg, hoffentlich kommt sie gut durch. Am 14.5. ist ihr Transport gefahren. Schade,<br />

dass sie uns nicht mitgenommen hat, wir haben nicht gewusst, wann und wie es dort<br />

abgeht. Hoffentlich habt ihr meinen Brief vom 14.4. erhalten. Ich warte nun so sehr auf<br />

Post von Euch. Warum schreibt Papa nicht einmal. Hier ist die letzte Zeit viel Post von<br />

drüben gekommen. Diesen Brief schicke ich auch durch die Post, den anderen nach<br />

Ahlbeck. Wenn wir fahren, fahren wir zu Tante Liesbeth, die wird ja wissen, wo Ihr seid.<br />

Nun auf baldiges Wiedersehen grüßt und küsst Euch Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

Rügenwalde, den 2.7.1946<br />

Meine liebe Erika und mein lieber Karl!<br />

Gestern kam unverhofft ein Brief angeflattert vom 20.5., die Freude war groß! Auch den<br />

Brief vom 6.5. hatten wir erhalten. Darauf hatte ich schon geantwortet. Nur die Nachricht,<br />

dass unser lieber Opa so schnell gestorben ist, hat uns tief erschüttert. Wie gerne<br />

hätte er Euch noch mal gesehen. Hoffentlich ist Tante Lotte nun bei Euch angekommen.<br />

Habt Ihr denn für alle eine Unterkunft? Wo mag Oma sein, hoffentlich kommt sie gesund<br />

bei Euch an. Meine Gedanken sind Tag und Nacht bei Euch, ach, es ist doch alles so<br />

schwer. Wenn doch einmal der Tag käme, dass wir zu Euch könnten. Ich habe mich nun<br />

vor ein paar Wochen gemeldet, freiwillig raus – nun warten wir von Woche zu Woche<br />

auf die Evakuierung.<br />

Alles ist schon wochenlang gepackt bis auf ein Bett, das wir noch geschenkt bekamen.<br />

Bettwäsche habe ich nur ganz schlechte, die ich nicht mitbringen kann. Die <strong>Schlawe</strong>r<br />

sind vor 14 Tagen evakuiert. Hier sind noch viele Russen, und darum verzögert es sich.<br />

Herta Steinhorst ist auch weg, die Zanower sind zwangsevakuiert. Es war ja damals<br />

noch so kalt. Hier ist die Heuernte noch in vollem Gange. Es hat die ganze Zeit bis jetzt<br />

geregnet, heute ist es endlich warm. Mein lieber Karl, wie gerne hätte ich Dir zu Deinem<br />

Geburtstag Waffeln gebacken. Ich kann mir hier ein elektrisches Eisen borgen. Sonntag<br />

hatten wir mal Waffeln, Eier und Speck hatte ich fürs Nähen bekommen, Mehl von Frau<br />

30


Lehmann. Das hatte ich für Buttermilch getauscht. Kaufen kann man hier alles, aber<br />

teuer! Ich wollte das Geld immer noch für die Reise lassen. Für die Ziege bekam ich<br />

1.300 Zloty, die hatte 3 Lämmer, eins blieb tot. Wir haben jetzt alle Tage Buttermilch<br />

von den Litauern in unserem Haus.<br />

Wo mögen die Pyritzer sein? Karl, weißt Du den Namen von der Tante Ellen aus Lübeck?<br />

Wahrscheinlich kommen wir ins Lager Lübeck, wenn man die Adresse wüsste. Ich<br />

glaube, dass die Pyritzer da sind. Nun meine Lieben wollen wir noch mal weiter auf<br />

unser Glück hoffen. Grüßt bitte alle Verwandten und schreibt bald wieder.<br />

Viele herzliche Grüße und Küsse aus weiter Ferne von Eurer immer an Euch denkenden<br />

Mutti und Wilhelm.<br />

Mein lieber Papa, meine liebe Erika!<br />

Mit großer Freude haben wir Euren Brief vom 20.5. erhalten. Unser lieber Opa ist also<br />

tot, es ist vielleicht gut so. Hoffentlich findet Tante Lotte mit Onkel Arthur zusammen,<br />

sonst ist sie mit den Kindern allein. Habt Ihr denn soviel Platz dort? Ich kann den Tag<br />

unserer Abreise von hier kaum noch abwarten. Wann wird das sein, dass wir fahren<br />

dürfen? Alles ist bisher fehlgeschlagen. Wir haben schon lange alles gepackt. Wir sind<br />

immer noch gesund und werden täglich satt.<br />

Nun viele Grüße an Euch alle dort, Anita.<br />

Rügenwalde, den 21.7.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Eka!<br />

Heute will ich doch mal an Euch schreiben. In der Woche bekam ich an einem Tag einen<br />

Brief vom 9.4. und eine Karte durch den Suchdienst Berlin von Euch. Diese war ja schon<br />

überholt, aber wir haben uns doch sehr gefreut. Habt vielen Dank für Eure Zeilen, nur<br />

Papa mag immer nicht schreiben. Ja meine Lieben, wir sitzen noch immer hier und warten<br />

auf den Tag der Evakuierung, können es gar nicht abwarten. Mit einem Mal wurden<br />

die Transporte hier eingestellt, es sind keine Waggons zu kriegen. Nun heißt es wieder<br />

nach der Ernte. Also Geduld und wieder warten. Mit Auto ist es ganz aus. Nun ist ein<br />

Freiwilligen-Transport zusammengestellt. Es sind alles Frauen, die zu ihren Männern<br />

ins Reich wollen. Die Hauptsache ist nun, dass wir und ihr gesund bleiben und dass wir<br />

die Reise gut überstehen. Ist Oma schon bei Euch? Wann werden wir endlich zusammen<br />

sein? Ihr seid sicher in Eurer Roggenernte und ich kann nicht helfen. Da musst Du, liebe<br />

Erika wohl binden?<br />

Gestern hatte ich unsere Rucksäcke noch mal ausgepackt und gelüftet, es wurde Zeit. Bei<br />

uns ist es so feucht. Hoffentlich behalten wir nun noch die paar Sachen, die wir haben.<br />

Wir sind doch recht arm geworden. Gestern hat uns Frau Lehmann zwei Brote mitgebacken,<br />

ich hatte billig Mehl gekauft. Heute Mittag gibt es Erbsen, das Pfund 25 Zloty.<br />

Anita und Wilhelm wollen Nachmittag an den Strand, ich gehe dann für Anita arbeiten.<br />

Abends sitze ich mit Förderers auf dem Dachgarten und denke mit Sehnsucht an Euch.<br />

Nun habe ich von Euch schon 5 mal Post! Schreibt bald mal wieder.<br />

Herzlich Grüße und Küsse Eure Mutti.<br />

Lieber Papa!<br />

Wir sind noch immer hier in Rügenwalde. Wir lauern alle Tage auf den Transport. Dass<br />

Du soviel Arbeit für mich hast, ist ganz schön, bloß, dass ich nicht da bin, ist nicht gut.<br />

Wenn ich doch erst unsere eigenen Pferde fahren könnte. Mein Pony ist noch hier in der<br />

Stadt bei der russischen Wirtschaftsgruppe bei Hans Wendt auf dem Hof. Hans Wendt ist<br />

Hofmeister. Die Stute ist auch auf dem Wirtschaftshof, die hat ein schönes Fohlen. Ich<br />

31


arbeite jetzt nicht, bin immer bei uns auf dem Hof, da sieht es aus – o weh! Wir gehen<br />

alle Tage an den Strand. Auf unserem Hof sind 6 Pferde von der Molkerei.<br />

Wenn ich komme, wirst Du mich wohl gar nicht wiedererkennen. Ich bin groß und stark.<br />

Ich trage 1 ¾ Zentner. Vom November bis Mai habe ich beim Polen gearbeitet. Der<br />

hatte 3 Pferde, die musste ich füttern, putzen und ausmisten, alles allein und immer mit<br />

über Land fahren, Vieh kaufen.<br />

Nun viele Grüße und Küsse Dein Wilhelm.<br />

Rügenwalde, den 21.7.1946<br />

Mein lieber Papa, meine liebe Erika!<br />

Auch ich will Euch ein wenig schreiben. Wir sitzen immer noch hier und warten und<br />

warten, dass endlich ein Transport gehen soll. Es wird ja mal der Tag kommen, wo für<br />

Rügenwalde Waggons frei sind. Aus <strong>Schlawe</strong> und überall sind schon Transporte abgegangen,<br />

bloß als Rügenwalde dran war, stoppte es. Ich kann es selbst kaum glauben,<br />

dass es schon Ende Juli ist und wir sind noch hier. Heute war ich zum ersten mal seit<br />

vorigen Sommer am Strand mit Hildchen Stoebe und Christel Boddeutsch. Es geht doch<br />

nichts über das Baden in der Ostsee. Am Hafen, vom „Goldenen Anker“ aus, war ich<br />

schon öfter abends baden, aber das Wasser ist doch nicht so sauber. Einen Badeanzug<br />

habe ich mir von einem Mädel geliehen, die noch 2 besitzt. Daraus besteht meine ganze<br />

Badeausrüstung.<br />

Von Irma Bäckert habe ich Post bekommen. Bäckerts sind in Bor<strong>des</strong>holm / Holstein,<br />

britische Zone. Da in der Nähe ist auch Familie Otto Bauer, Nünkes, Frau Banasch,<br />

Frau Harder, Wilhelm Bäckert mit Söhnen Günter und Alfred, schreibt Irma. Sie haben<br />

Essen wie im Frieden, sind bei einem Bauern.<br />

Nun will ich schließen, hoffentlich erreicht Euch dieser Brief.<br />

Viele herzliche Grüße, auch an alle Verwandten, Eure Anita.<br />

Rügenwalde, den 8.8.1946<br />

Mein lieber Papa, liebe Eka-Schwester!<br />

Gestern Abend erreichte uns Euer lieber Brief vom 23. Juli. So schnell geht schon die<br />

Post! Also Oma hat es geschafft und ist gesund bei Euch, das ist schön. Prima, was sie<br />

alles behalten hat. Da hat sie sich schön gebuckelt, das ist doch eine Leistung! Wir werden<br />

natürlich auch, was wir schleppen können, mitbringen. Soviel besitzen wir ja nicht<br />

mehr. Uns geht es gesundheitlich und auch sonst viel besser als voriges Jahr um diese<br />

Zeit. Wir haben jetzt zu Hause Arbeit. Ich bin in der Küche seit einer Woche entlassen,<br />

es waren zuviel Arbeitskräfte.*<br />

Förderers wohnen nicht mehr hier. Jetzt wohnen unten im Hause 2 russische Chauffeure<br />

und oben einer mit seiner Frau. Die ist sehr nett, genau so alt wie ich. Sie kann leider<br />

sehr wenig deutsch, wir unterhalten uns halb russisch, halb deutsch mit viel Zeichensprache,<br />

dann klappt es. Wir haben dadurch unser Essen, Mutti näht und kocht für alle,<br />

ich helfe ihr und mache sauber. Wilhelm wäscht Autos und markiert schon Chauffeur.<br />

Wir warten nun von Woche zu Woche, dass Rügenwalde evakuiert wird. Immer wieder<br />

heißt es: Nächste Woche geht der Transport bestimmt! Allzu lange verlassen wir uns<br />

aber nicht auf das Gerede, dann gehen wir nach Köslin ins Lager.<br />

Eben habe ich mit Larissa (der Russin) eingekauft, es soll heute Abend Eierkuchen mit<br />

Apfelmus geben. Oje, dann werde ich wohl wieder zunehmen, ich habe jetzt immer so<br />

142 bis 145 Pfund gewogen. Mutti wiegt 15 Pfund mehr als ich.<br />

Sonntag, wenn schönes Wetter ist, wollen wir noch mal an den Strand, ich freu mich<br />

schon. Einen Badeanzug hat Mutti mir aus einem grünmelierten Männer-Trikothemd<br />

genäht, einen Strandanzug von rotem Fahnentuch mit weißen Biesen und Paspeln.<br />

32


Nun will ich schließen, Mutti will nachher noch schreiben.<br />

Viele herzliche Grüße und baldiges Wiedersehen, Eure Anita.<br />

In Wahrheit war ein neuer Kommandant gekommen, der keine Deutschen<br />

in der Küche duldete.<br />

Die eigenen Sandaletten geklaut<br />

An dieser Stelle muss ich unbedingt auf eine Episode eingehen, die ich nicht im Brief<br />

geschrieben habe. Bei den Litauern in unserem Hause gab es eine Tochter Anja, ungefähr<br />

in meinem Alter. Sie kam öfter herüber zu uns und gab mir zu verstehen, wir wollten<br />

doch Freundinnen sein. Sie kam aber stets von Kopf bis Fuß in meine Sachen gekleidet<br />

daher. Auch mein Fahrrad hatte sie. Sie war aus dem litauischen Grenzgebiet und in<br />

eine deutsche Schule gegangen, sprach also einwandfreies Deutsch. Ich sagte ihr, dass<br />

ich bei jeder Begegnung mit ihr innerlich fror, denn ich hatte kaum etwas anzuziehen,<br />

und alles, was sie trägt, hätte sich sicher noch in unsrer Wohnung befunden und gehörte<br />

mir. Sie gab aber nichts her und sagte, sie hätten auch von Zuhause weggemusst und die<br />

Russen, die sie in unsere Wohnung eingewiesen hätten, bedeuteten ihnen, sie könnten<br />

sich nehmen, was sie brauchten. Ja, was sollte man da tun.<br />

Eines Tages ging ich an unserem Grundstück vorbei. Beide Torfahrten standen sperrangelweit<br />

offen. Siehe da, am Holzplatz neben dem Garten stand ein Sägebock, darauf<br />

waren ein Paar Sandaletten zum Trocknen gestülpt, m e i n e Sandaletten! Ich hingelaufen,<br />

meine eigenen Sandaletten geklaut und schnell ins jetzige Domizil – kaum noch<br />

Puste, aber sehr glücklich! Ich brauchte doch dringendst was auf die Füße! Das war ein<br />

Gefühl – nicht zu beschreiben!<br />

Anja war sonst sehr umgänglich und gut zu leiden, die „äußeren Umstände“ musste ich<br />

eben verkraften, wir waren ja beide nicht schuld daran. –<br />

In unserem Hof hatte Anja Fotos gefunden, auf denen sie meine Mutter, Wilhelm und<br />

mich wiedererkannte. Die Fotos stammten aus unserem Familienalbum, das die Russen<br />

anscheinend zerrissen und weggeworfen hatten. Ich bin heute noch der Anja dankbar<br />

dafür, dass sie mir diese Bilder gegeben hat, denn sonst hätte ich keine zur Erinnerung.<br />

Später ergänzte ich sie noch um Abzüge von Fotos, die meine Thüringer Verwandten<br />

besaßen. Leider hatte niemand ein Foto von Opa und Oma Zanow.<br />

Doch nun weiter zu den Briefen:<br />

Rügenwalde, den 11.8.1946<br />

Meine liebe Eka, mein lieber Karl!<br />

Mit großer Freude erhielt ich Deinen lieben Brief, auf den wir schon mit Sehnsucht gewartet<br />

hatten. Frau Boddeutsch hatte ihn zufällig gesehen und kam damit angerannt, da<br />

habe ich ihr vor Freude einen Kuss gegeben. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was so ein<br />

Brief aus Deutschland für uns bedeutet.<br />

Wir freuen uns schon sehr auf unser neues Heim, wofür Du lieber Karl schon von neuem<br />

sorgst! Ja, wenn es auch noch so ärmlich ist, aber „eigener Herd ist Gol<strong>des</strong> wert!“ Sogar<br />

Kartoffeln habt Ihr da schon gepflanzt! Wie sollte es auch nur hier werden, wenn<br />

wir nicht wegkämen zum Winter. Kein Holz, keine Kartoffeln, aber wir hoffen nun auf<br />

nächste Woche. Anita hat schon geschrieben, dass sich vieles bei uns geändert hat. Förderers<br />

wohnen nun bei Selkes und Wolffs in der Erbstraße. Ich habe nun in der Küche<br />

noch mehr Arbeit, aber auch noch mehr oder besseres Essen. Ich komme nun weniger<br />

zum Nähen, für die Katja aus der Küche muss ich noch 2 Kleider nähen, das Dritte wird<br />

morgen fertig.<br />

Heute hatten wir Erbsengemüse und Bratkartoffeln, morgen gibt es Hasenbraten und<br />

Apfelmus. Heute muss ich auch noch 4 Riesendorsche braten für die Chauffeure.<br />

33


Liebe Erika, es freut mich, dass Du für Papa alles so schön kochen kannst und musst<br />

schon alleine waschen für Euch. Hoffentlich kann ich Dich bald ablösen. Gibt es bei<br />

Euch viel Obst? Hier gibt es auch viel dies Jahr, aber alles teuer. Na, Larissa kauft ja<br />

ein, sie sagt Erna zu mir, Nikolai sagt Mutter. Sie sind alle sehr nett und anständig uns<br />

gegenüber. Ich schreibe heute am 12. zu Ende, gestern musste ich dann in die Küche bis<br />

12 Uhr nachts. Dann gingen alle nach Hause, es war viel Besuch. Heute hörte ich, dass<br />

bald der Transport geht, Ende der Woche, also wieder Hoffung!<br />

Innige Grüße und Küsse an Euch von Eurer Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

Beim Tanzen gab es weder Krieg noch Feind<br />

Im vorangegangenen Brief beschreibt Mutti, dass sie bis um 12 Uhr nachts in die Küche<br />

musste, es waren viele Gäste da. Ja, es war Larissas Geburtstagsfeier. Mutti und ich<br />

mussten jede Menge Warenikis zubereiten. Sie bekamen nicht genug davon, die Gesellschaft<br />

wurde immer lustiger, denn es gab stets „Sto Gramm“ Wodka dazu. Schließlich<br />

wurde Harmonika gespielt und getanzt. Larissa holte mich hinzu, ich sollte unbedingt<br />

einen russischen Volkstanz erlernen, bei dem man so die Füße verdrehen muss. Um dem<br />

zu entgehen, schlug ich vor, ich zeige ihr einen „Original-Nemjetzki-Tanz“, nämlich<br />

„Siehste woll, da kimmt er“. Sofort ging es los, Hacke – Spitze – eins – zwei – drei. Die<br />

Stimmung erreichte ihren Höhepunkt als ich dann noch den Text, so gut es ging, übersetzte.<br />

Alle machten mit, ganz stolz spielte Wolodja dann noch einen Walzer. Das walzte<br />

und tanzte durch den Raum und durch den Hausflur. Da gab es weder Krieg, noch Feind,<br />

sondern nur Menschen, die glücklich waren, dem furchtbaren Krieg entronnen zu sein,<br />

alles überlebt zu haben, egal ob Deutsche oder Russen. Der Krieg war erst ein gutes Jahr<br />

zu Ende, und wir verstanden uns!<br />

Rügenwalde, den 3.9.1946<br />

Mein lieber Karl, meine liebe Erika!<br />

Soeben erhielt ich Deinen und Ekas Brief. Vielen Dank für Eure Zeilen. So sehr ich mich<br />

gefreut habe, so war ich doch auch enttäuscht. Lieber Karl, wie kannst Du so was<br />

schreiben. Ich kann Eure Worte wiederum verstehen, weil Ihr nicht wisst, was hier los<br />

ist. Manchmal habe ich gar keine Ruhe und wache oft <strong>des</strong> nachts auf und denke über<br />

alles nach. Es wird laufend evakuiert, aber noch wieder Landtransporte. Sonntag sind<br />

ganze Trecks gesehen worden von Bussin, Krangen, auch Schlawin, Neu- und Altenhagen<br />

nach <strong>Schlawe</strong>.<br />

Die damals raus kamen, haben in Frauendorf noch 14 Tage gelegen und schon alle von<br />

da geschrieben. Nun soll dann auch bald die Stadt dran sein, raus kommen wir alle,<br />

aber wenn das schreckliche Warten nicht wäre. Wir haben bestimmt alles versucht, um<br />

raus zu kommen. Ja, wenn ich damals das Geld gehabt hätte, dann hätten Nünkes und<br />

Bäckerts uns damals vielleicht mitgenommen. Aber man erkennt Freunde immer erst in<br />

der Not! Ich habe es nicht gewusst wie sie abfuhren, spät abends kam Berta sich verabschieden.<br />

Sie hatte Parparts Kuh für 11.000 Zloty verkauft, und 9.000 Zloty hätte die<br />

Fahrt für uns gekostet. Parparts wussten natürlich auch nichts davon, sie hatten Berta<br />

die Kuh hingebracht, um diese zu retten. – Am 28. Mai hatten wir Gelegenheit und das<br />

Geld und waren auch mit allen Sachen an Ort und Stelle. Da schickte uns ein russischer<br />

Offizier wieder nach Hause, auch Stoebes. Es gab eine Schießerei zwischen Russen und<br />

Polen, wir sind gelaufen und haben uns gleich in das erste Haus am Denkmalsplatz gerettet,<br />

wir sind noch einen Teil Sachen losgeworden, auch Betten usw. und kamen morgens<br />

wieder geschlagen in unser armes Stübchen zurück. Es ist hier nicht so wie auf dem<br />

Lande, hier ist viel russisches Militär und polnische Miliz.<br />

34


Aber uns wurde wieder von allen Seiten geholfen, wir haben wieder Betten und trotzdem<br />

noch genug zu schleppen. Das letzte Auto, was nun fuhr, ist in den Pollnower Wald gefahren,<br />

ausgeplündert und alle zu Fuß zurück. Nun möchten wir doch gern was wir noch<br />

besitzen behalten, und alle, die noch hier sind, müssen geduldig warten bis sie evakuiert<br />

werden. Eine Frau Schwarz und Frau Pooch sind per Auto nach Köslin ins Lager gefahren.<br />

Kurz vor Köslin: Aussteigen und ohne alles ins Lager! Ja, was hat denn das für<br />

einen Zweck. Lieber Karl, liebe Eka, ich habe das immer nicht gewagt zu schreiben,<br />

habt noch Geduld, Eure Mutti kommt! Mir wird es schon so sehr schwer, alles was wir<br />

können, bringen wir mit. Ich hab von Lehmann für Wilhelm schöne Arbeitsschuhe gekauft<br />

für 300 Zloty. Wilhelm bekam von Opa noch die schöne Uhr, die ich so gern behalten<br />

hätte. Weil wir sie aber doch nicht durchkriegen, musste ich sie verkaufen, so schwer<br />

es mir wurde. Nun hatte ich dadurch Reisegeld – und wir kamen doch nicht weg.<br />

Es ist auch alles so teuer, und das Geld gibt sich schnell aus. 1 Zentner Kartoffeln kostet<br />

125 Zloty, 1 Brot 32 Zloty, ½ Pfund Butter 110 Zloty. Wir essen schon so bescheiden,<br />

aber dadurch, dass ich nun für die Russen hier koche, spare ich viel Geld, es fällt auch<br />

oft was ab. Jetzt kostet ein Brief an Euch schon 10 Zloty.<br />

Von Lotte haben wir auch Post, auch von Nünkes, von Zenkes hörten wir schon, Kurt<br />

Pagel ist am Rhein.<br />

Vor 14 Tagen war ich noch mal zum Rathaus wegen anmelden zum Transport, die erste<br />

Liste war ungültig. Nun musste ich 90 Zloty bezahlen, das ist für die erste Verpflegung<br />

heißt es.<br />

Also lieber Karl, liebe Eka, habt noch eine Weile Geduld. Ich wäre auch lieber bei Euch,<br />

als hier zu sitzen und zu warten.<br />

Grüßt bitte alle Verwandten, besonders Oma. Auf Wiedersehen, seid viel Tausend mal<br />

gegrüßt und geküsst von Eurer traurigen Mutti.<br />

Mein lieber Papa, liebe Eka-Schwester!<br />

Auch ich will noch etwas schreiben, für Euren Brief habt vielen Dank. Wie kannst Du<br />

bloß so etwas schreiben, Papa, die Mutti ist ganz traurig. Denkst Du vielleicht, uns fällt<br />

es nicht schwer, dass wir hier so lange aushalten müssen? Es ist eben keine andere<br />

Möglichkeit, wie mit dem Transport rauszukommen. Es wird jetzt laufend evakuiert, da<br />

wird ja Rügenwalde auch drankommen. Wir leben doch bloß noch in der Hoffnung, dass<br />

wir bald dabei sind. Für eine alleinstehende Person wäre es noch möglich, so raus zu<br />

kommen, das ist aber ein Risiko , und wir können Mutti nicht allein lassen. Ich muss<br />

heute noch mal wieder in der großen Küche helfen, da kommen 200 Offiziere mehr zum<br />

Essen, ich soll oben in die Abwaschküche. Sonst haben wir auch hier zu Hause zu tun.<br />

Am Strand war ich öfter, Eka, und je<strong>des</strong> mal nehme ich Abschied von der Ostsee.<br />

Was werde ich dort wohl für Arbeit bekommen? Ich werde wohl nach Erfurt müssen, ich<br />

will doch was verdienen. Ob überhaupt Bürokräfte gebraucht werden, sonst muss ich<br />

irgend etwas anderes machen, Hauptsache, ich verdiene viel Geld, denn irgendwie müssen<br />

wir doch weiter leben. –<br />

Liebe Erika, in der letzten Woche hatte ich etwas Zeit und habe ein paar Gedichte gemacht.<br />

Ich werde sie Dir mal aufschreiben. Hoffentlich ist es kein Quark und sie gefallen<br />

Dir!<br />

In der Heimat, entstanden an einem Abend auf dem Lachsbrink<br />

Das Wasser rauscht am Mühlenwehr<br />

es singt meiner Heimat Lied –<br />

vom weißen Strand, vom blauen Meer,<br />

von der Möwe, die himmelwärts zieht.<br />

35


Die grüne Insel umrandet Schilf<br />

und Ginsterstrauch erblüht<br />

in gelbgoldener Farbenpracht<br />

Wohin das Auge sieht.<br />

Und langsam steigt die Nacht herauf,<br />

der Mond bezieht die Wacht,<br />

sein silberglänzen<strong>des</strong> Spiegelbild<br />

im Wasser – bewegt sich sacht.<br />

Droben am nachtblauen Himmelszelt<br />

viel goldene Sterne stehn,<br />

sie funkeln friedlich auf die Welt –<br />

oh Heimat, wie bist du so schön!<br />

Und als Gegenstück ein Gedicht, worin ich an später denke...<br />

In der Fremde<br />

Wo der Wald rauscht<br />

und die Ostsee rauscht<br />

hat mein Herz gelauscht – der Melodie:<br />

Dort am Meeresstrand<br />

ist mein Pommernland<br />

Dich mein Heimatland – vergess´ ich nie!<br />

Frem<strong>des</strong> Wasser rauscht –<br />

ach, mein Herz, es lauscht<br />

und es findet nicht – den Heimatton;<br />

Voller Heimweh schlägt´s<br />

und der Wind, er trägt´s<br />

über Berg und Tal –ans Meer davon.<br />

So, nun sag Du mir, ob das ordentlich ist .Ich weiß nicht recht. - Eins hab ich grad gestern<br />

Abend gemacht. Das schreib ich gleich hinterher.<br />

Abend am Wasser<br />

Ich steh´ am Uferrand und lausche in die Stille,<br />

durchs Schilf streicht leis´ ein kühler Abendwind,<br />

im feuchten Grase zirpt verloren eine Grille,<br />

bis auch sie endlich Ruh´ und Schlummer find´t.<br />

Des Mon<strong>des</strong> Sichel glitzert silbern auf den Wellen,<br />

Nachthimmel färbt das Wasser dunkelblau,<br />

viel Tausend gold´ne Sterne es erhellen,<br />

versunken steh´ ich da – und schau und schau.<br />

Ich hebe langsam meine Augen auf zum Himmel,<br />

36


zur unendlich großen Zahl der Sterne,<br />

und meine Seele weitet sich – ihr wachsen Flügel,<br />

und die Gedanken wandern in die Ferne....<br />

Das gefällt mir noch nicht so recht. Papa wird sagen: Die schriewt schön wat Blech top!<br />

– Ja, ich muss bald zur Küche, ich werde schließen. Lasst es Euch gut gehen. Hoffentlich<br />

treten wir bald die langersehnte Reise an. Zu Weihnachten werden wir doch wohl dort<br />

zusammen sein, wenn es so lange dauert unterwegs. Wir müssen die Zeit auch abwarten<br />

können, das werdet Ihr doch wohl auch schaffen. Oder haben wir das schon besser gelernt?<br />

Nun seid alle dort viel vielmals gegrüßt von Eurer Anita.<br />

Bei der Arbeit gedemütigt und geschlagen<br />

An jenem Abend, als ich in der Abwaschküche zur Aushilfe war, erwartete mich noch<br />

eine besonders ekelhafte Überraschung:<br />

Ich musste die Toilette gegenüber <strong>des</strong> Speisesaales saubermachen. So eine vollkommen<br />

verschmutzte Toilette hatte ich seit meinem Erlebnis mit Marianne in Stolp noch nicht<br />

wieder gesehen. Das Toilettenbecken war verstopft, <strong>des</strong>halb die Notdurft in Zeitungspapier<br />

eingewickelt und im ganzen Toilettenraum übereinandergestapelt. Ich zögerte noch,<br />

wie ich am besten mit der Arbeit beginnen würde, da riefen schon die Offiziankas (russische<br />

und jüdische Frauen, die im Speisesaal bedienten) den russischen Sergeanten. Der<br />

kam und schlug mich kurzerhand mit der Reitpeitsche, und die Jüdin Asja beschimpfte<br />

mich als deutsche Sau. Ich habe dann die Pakete eimerweise eingesammelt und entsorgt.<br />

Und schließlich brachte ich noch das Becken mit viel Sand und Wasser in Ordnung, so<br />

wie ich es in Stolp gelernt hatte.<br />

Erst auf dem Heimweg habe ich dann vor Schmerzen und Wut geweint.<br />

Zur Beruhigung habe ich zu Hause vor dem Schlafengehen meine Gedichte gelesen und<br />

über neue Verse nachgedacht. Ich erinnerte mich daran, dass mich mein Schulrektor<br />

Haase manchmal scherzhaft Annette rief wegen der Lyrikerin Annette von Droste-<br />

Hülshoff und meiner Vorliebe zum Dichten.<br />

Das Verseschmieden half mir über die Demütigung und den seelischen Tiefpunkt hinweg.<br />

Und ich bekam wieder Zuversicht; so schnell ließ ich mich nicht unterkriegen. Ich<br />

hatte doch das Leben noch vor mir – und das sollte auf jeden Fall besser als jetzt werden.<br />

Rügenwalde, den 30.9.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Noch einmal aus der Heimat einen Brief. Wir sitzen noch immer hier, es hat sich nichts<br />

geändert, ist auch noch kein Transport gegangen. Ich bin schon ganz verzagt. Was soll<br />

bloß werden, wir stehen vor einem Rätsel. Von Euch kommt auch keine Post, schreibt<br />

doch öfter mal, oder ist das Geld knapp? Ich kann nicht so oft schreiben, 10 Zloty ein<br />

Brief, und das Geld wird immer weniger.<br />

Sonnabend war Nikolai mit Wilhelm im Auto nach Stolp, er hält viel von Wilhelm. Neulich<br />

hat er ihm eine neue graue Hose geschenkt. Vor ein paar Wochen hat er sich ein<br />

Frauchen geholt. Die Larissa zieht heute aus, hat sich von ihrem Sascha getrennt, Anita<br />

hilft ihr beim Umziehen. Sie war zu uns immer sehr gut, aber Arbeit hatte ich viel mit<br />

ihr. Diese Woche will ich mal wieder nähen, ich muss nun immer zu Frau Dubberke<br />

nach der Nähmaschine. Nach meiner mag ich nicht gehen, das fällt mir dann immer so<br />

schwer.<br />

Gestern war Emmi Boddeutsch mal ein Weilchen hier, sie ist auch so verzagt, genau wie<br />

ich. Na, vielleicht scheint auch für uns mal wieder die Sonne.<br />

37


Wie hat Mutter ihren Geburtstag verlebt? Ich hab soviel an Euch gedacht, für mich war<br />

es ein arbeitsreicher Sonntag. Anita hat sich Söckchen gestrickt von den letzten Schafswollresten.<br />

Nun will sie sich eine Jacke stricken von Zellwolle, es gibt hier solche Kornsäcke,<br />

die werden aufgeräufelt. Sie wollte es drüben machen, aber nun wird es schon<br />

kühl und ihre weiße Strickjacke kam damals mit den Betten weg. Vielleicht bekomme ich<br />

noch einen Sack für Wilhelm. Sein Pullover wird schon dünn und kurz. Was denkt Ihr,<br />

was das für ´n Kerl geworden ist, größer als ich und auch stämmig. Er kann aber auch<br />

sehr essen. Auch Anita ist größer geworden.<br />

In unserem Zimmer ist es sehr finster, es kommt keine Sonne rein. Nun scheint seit ein<br />

paar Tagen die Sonne nach dem endlosen Regen. Alle Leute sind in der Kartoffelernte,<br />

aber es ist so nass. Wie gerne würde ich Euch helfen, hier muss man jede Kartoffel kaufen,<br />

für einen Zentner gab ich vorige Woche 100 Zloty. Herbstheu gab es nicht, weil es<br />

immer regnete.<br />

In der Hoffnung, dass wir uns bald wiedersehen viele herzliche Grüße und Küsse von<br />

Eurer traurigen Mutti nebst Anita und Wilhelm.<br />

Rügenwalde, den 20.10.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Dieses ist nun schon der dritte Brief, den ich Euch als Antwort auf den vom 19. August<br />

sende. Ich bin seitdem noch immer ohne Post. Seid Ihr vielleicht schon beide nach Amerika?<br />

Oder seid Ihr nun ganz böse auf uns. Ja, wir armen Deiwels sitzen noch hier und<br />

warten auf den Transport. Nun wird heute erzählt, dass nächste Woche derselbe gehen<br />

soll. Nun bin ich wieder voll Hoffnung. Was waren dies nun für trostlose Wochen, und<br />

wie viel schlaflose Nächte gab es. Wir stehen überhaupt vor einem Rätsel, warum die<br />

Transporte mit einem Mal abgebrochen wurden. Manche sagen, weil die Lager überfüllt<br />

sind. In Köslin haben die 2000 Menschen 2 Monate gelegen im Lager ohne Verpflegung.<br />

Nun soll diese Tage endlich der Transport gegangen sein. Jetzt müssen auch die Litauer<br />

fort. Ich hab Freitag da genäht, 2 Rucksäcke und für den Buchhalter 2 Pakete benäht.<br />

Dafür bekam ich eine Tasche voll wunderbare Äpfel, Milch und etwas Fett. Nun wird<br />

demnächst unser Grundstück polnisch. Auch dies hier, Förderers, und die Molkerei,<br />

auch noch in der Bismarckstraße mehrere Wirtschaften. Vor paar Tagen holten die Polen<br />

von Bäckerts den Dreschkasten aus unserer Scheune. Gestern musste Dr. Krüger aus<br />

seinem Haus. Das bezieht der russische Oberst. Dr. Krüger hat nun das Haus von Maler<br />

Zielke bezogen. Die Chauffeure und wir müssen dann auch bald hier raus. Wir wissen<br />

nun noch nicht wohin, hoffe aber, dass der Transport bald geht und wir nicht mehr umziehen<br />

brauchen. Larissa kam den nächsten Tag wieder zurück und ist nun wieder hier.<br />

Ich muss noch immer kochen, und es ist manchmal gar nicht so einfach. Anita und ich<br />

können schon allerhand russische Gerichte. Anita war paar Tage krank, hatte sich so<br />

erkältet. Unsere Stube ist immer so kalt. Heute am Sonntag habe ich mal geheizt. Emmy<br />

Boddeutsch war auch eben hier. Sie hatte wieder solchen schönen Brief von Erwin. Der<br />

schreibt, Zenke hat ihm Deine Adresse geschrieben. So habt ihr ja allerhand Briefwechsel.<br />

Vergesst nur Eure Rügenwalder nicht. Wir warten so sehr auf Eure Post. Liebe Erika,<br />

wenn Papa keine Zeit hat, so schreib Du doch mal an Mutti. Von Tante Lotte habe<br />

ich schon wieder Post. An die hatte ich dann geschrieben wie an Euch das erste Mal.<br />

Lieber Karl, Fritz Kurth hat an Neumanns geschrieben, er will Deine Adresse haben.<br />

Seine Herta ist noch nicht aus Graudenz zurück, muss da irgendwo auf einem Gut kochen.<br />

Frau Bolduan traf ich gestern. Gerda hat eine Stelle als Junglehrerin. Hier ist<br />

noch für Deutsche keine Schule und keine Kirche, auch kommt weniger Post. Paul Jeske<br />

ist am Rhein, hat schon zweimal an Heinz Stüwe geschrieben. Heinz arbeitet in der Mol-<br />

38


kerei. Diese Tage sind wieder viele entlassen worden drüben in der Wirtschaftsgruppe.<br />

Was machen die Kartoffeln, habt Ihr sie schon raus? Ich habe 2 Zentner gekauft, mehr<br />

kauf ich noch nicht. Die Russen haben auch diese Woche welche bekommen. 40 Mann<br />

von hier sind nach Parpart gekommen zum Kartoffelsammeln. Christel und Inge Boddeutsch<br />

müssen alle Tage nach Böbbelin zum Tiefausgraben. Das geht von der polnischen<br />

Straßenbaugesellschaft aus. Unser Bürgermeister ist der Pole, der bei Liegnitz<br />

war im Garten, Herr Dulewiez. Freitag waren alle Herren vom Magistrat und der Oberst<br />

zur Besichtigung auch auf unserem Grundstück. Meine Lieben, was ist bloß aus<br />

unserem schönen Städtchen geworden. Die Geschäfte sind alle in Betrieb, auch der<br />

kleinste Laden. Nur man traut sich nicht einkaufen zu gehen. Morgen abend soll ich mir<br />

von Else Barske Saft holen. Sie hat noch Schnitzel gehabt. Ihre Wirtschaft (Harnisch)<br />

wird auch polnisch. Noch sind da Schweine, die sollen diese Woche noch nach Liegnitz.<br />

Bäckerts haben noch nicht an sie geschrieben, das ärgert sie so. Demnächst soll der<br />

Brief 20 Zloty kosten. Noch haben wir ja Geld. Wenn Ihr schreibt, dann schreibt nicht<br />

polnische Zone, sondern Polen. Es wird gesagt, dass nur diese Briefe ankommen. Lotte<br />

hat auch Polen geschrieben, und der ist schnell angekommen. Anita schreibt den Absender<br />

schon immer so, also bitte. Ich hoffe ja nun, dass wir bald fahren können und dass<br />

die Schreiberei ein Ende hat. Lieber Karl, also warte noch ein Weilchen. Hier haben<br />

schon mehrere Frauen von ihren Männern Abschiedsbriefe erhalten. Haben sich da eine<br />

neue Frau gesucht, auch darunter Lene Manske, Dora Peske. Die braven Frauen sind<br />

ihren Männern wirklich treu gewesen und möchten auch gerne raus. Ja, das ist das<br />

Schicksal der Derlower Frauen. Ich sagte auch schon zu Anita, vielleicht hat Papa eine<br />

andere, aber sie lacht mich immer aus. Nun ich denke es auch nicht. In der Hoffnung,<br />

dass wir uns bald wiedersehen, die allerbesten Grüße und 10000 Küsse Eure liebe Mutti!<br />

P.S. Grüßt auch Oma, Tanten und Onkels alle. Wo ist Ilse mit den Kindern? Wie geht es<br />

Erich? Wilhelm fährt immer Boot, die Russen haben eins gekauft. Ich habe immer Angst.<br />

Neulich war er schon mit einem Russen aus den Molen raus an den Weststrand. Paar<br />

mal hat er Dorsch mitgebracht.<br />

Rügenwalde, den 21.10.1946<br />

Lieber Papa, liebe Erika!<br />

Warum schreibt Ihr eigentlich nicht? Habt Ihr vielleicht immer „Polnisches Gebiet“ auf<br />

die Anschrift geschrieben? Es gehen nur Briefe durch, wo „Polen“ draufsteht. Ich hab<br />

doch immer den Absender polnisch geschrieben und bestimmt nicht ohne Absicht! Also<br />

schreibt bitte so: Polen ! Pani Erna Adam, Darlowo powiat Slawno, ul. Pierwzego Maja<br />

3, Pomone Zachodnie. Es geht eher durch.<br />

Hoffentlich ist das neueste Gerücht war, das es nächste Woche raus geht, darin sind wir<br />

aber schon so abgestumpft, es ist bis jetzt noch nie was dran gewesen, was erzählt wurde.<br />

Wir glauben einfach nichts mehr. Andere Möglichkeiten als das Erzählen von Mund<br />

zu Mund gibt es ja für uns nicht, um was Neues zu erfahren. Wir leben hinterm Mond.<br />

Uns geht es noch so zeitgemäß – wir werden noch immer satt. Das Geld zehrt sich bloß<br />

so auf, es wird höchste Zeit, dass es raus geht. Es heißt, pro Person sind 600 RM erlaubt<br />

über die Grenze mitzunehmen, aber keine Wertsachen. Wir besitzen aber alle zusammen<br />

bloß 450 RM, dagegen kann man nichts machen. Ob wir wohl Weihnachten zusammen<br />

sind? Das wäre unglaublich schön. Ich habe uns etwas Brennholz rangeholt, Papa, und<br />

weißt Du woher? Von unserer Wiese an der Wipper, die neue Chaussee runter zur Münde.<br />

Da sollte doch ein neuer Weg gebaut werden. Bäume waren gepflanzt und dicke<br />

39


Pfähle eingerammt. Die waren 1 Meter in der Erde. Die habe ich ausgehoben, mit<br />

Christel Boddeutsch zusammen, dann halbdurchgesägt und mit dem Ziehwagen nach<br />

Hause geholt. Dann haben wir das redlich geteilt. Das sind schöne Pfähle, das hilft uns<br />

doch wieder weiter.<br />

Ich stricke mir jetzt eine schöne Jacke aus weißer Zellwolle von aufgeräufelten Kornsäcken<br />

mit schwarzem nordischen Muster. Die Passe und unten die Ärmel schwarzweiß,<br />

das andere im Perlmuster. Hoffentlich behalte ich die.<br />

Ich überlege schon, was ich wohl dort arbeiten kann, ob es in der englischen Zone besser<br />

ist? Wir werden wohl mit dem Transport ins Rheinland oder nach Westfalen kommen,<br />

die letzten Transporte sind dahin gegangen.<br />

Schreibt bitte recht bald wieder. Viele liebe Grüße sendet Euch beiden Eure Anita.<br />

Rügenwalde, den 25.10.1946<br />

Mein lieber Karl, meine liebe Erika!<br />

Endlich kam heute der langersehnte Brief. Vielen dank, liebe Eka, nur gut, dass Du bei<br />

Papa bist, sonst würde ich wohl überhaupt keine Post kriegen. Ich habe nun noch 2<br />

Briefe an Euch unterwegs, und dies ist der dritte. Die Post trägt Herr Hillebrandt aus,<br />

der hilft dem polnischen Briefträger.<br />

Papa ist wohl abends sehr müde. Ich freue mich, Erika, dass Du alles so schön kochen<br />

kannst. Also habt Ihr sogar eine größere Wohnung. Wie ich mich darüber freue, lieber<br />

Karl, dass Du alles so besorgst. Ich habe nur den einen Wunsch, bald bei Euch zu sein.<br />

Ich mag gar nicht daran denken, noch ein Weihnachtsfest ohne Euch, das wäre schrecklich!<br />

Es wird bestimmt kalt sein, wenn wir nun reisen sollen, aber das ist egal. Wir ziehen<br />

alles an, was angeht. Schön, dass Du für Wilhelm Stiefel hast, hier geht er immer auf<br />

Holzsandalen. Morgen hole ich seine Schuhe vom Schuster, es ist nun schon kalt, 3 Tage<br />

schneit es schon. Ich hab auch noch die Filzstiefel von dem Wassil, der bei uns war,<br />

Karl. Aber die muss ich hier lassen, das ist zuviel zum Tragen. Meine und Anitas Schuhe<br />

lasse ich auch noch besohlen. Leder und Gummi hatten wir noch.<br />

Ich habe wieder an meiner Nähmaschine genäht, die Litauerin ist immer sehr nett. Sie<br />

hat mir eine Tasse Speiseöl geschenkt.<br />

Lieber Karl, eine Einreisegenehmigung hast Du doch für uns, nicht wahr? Frau Schossow<br />

sen. hat von Hans Schossow auch eine bekommen aus Apolda, sie war bei mir. Seine<br />

Frau geb. Scheiwe ist voriges Jahr gestorben. Seine Mutter hat nun den kleinen Jungen<br />

und möchte so gern hin, Scheiwes sind voriges Jahr im Oktober zwangsevakuiert<br />

worden.<br />

Eine Frau Rupp ist mit Stoebes dann zusammen rausgekommen. Sie ist schon in Hannover<br />

bei ihrem Mann und bekommt keine Einreisegenehmigung, muss wieder ins Lager<br />

zurück. Manche schreiben, sie müssen wieder in die Heimat zurück. Was mag nun eigentlich<br />

stimmen, wir leben hier hinter dem Mond und wissen nicht, was in der Welt los<br />

ist. Unser einziger Trost ist Eure Post. Ich wollte mal was von Deutschland sehen und<br />

hab nun doch kein Glück mit der Reise. Wir haben noch 450 RM deutsches Geld, hoffentlich<br />

kommen wir damit an. Mit den Zlotys sind wir sehr sparsam. Wer weiß, wie<br />

lange wir noch damit reichen müssen. Wir essen viel Wassersuppen, Bratkartoffeln mit<br />

Kaffee gemacht. Von Frau Barske und Frau Sielaff habe ich eine große Schüssel Saft<br />

fürs Nähen bekommen. Quark haben wir auch wieder. Gestern gab uns die Mila ein<br />

Stück Fleisch, dafür muss Anita trennen und ich etwas auswaschen. So stuckern wir uns<br />

schon durch.<br />

40


Ich hatte voriges Jahr Rotlauf an beiden Händen vom schlechten Fleisch als ich in der<br />

Russenküche war. Das findet sich schon wieder, einige Finger sind dick, im Sommer war<br />

es weg.<br />

Hat Lisbeth noch ihre Nähmaschine? Frau Dubberke und Frau Miels haben noch eine,<br />

aber wer weiß, wie lange.<br />

Hier ist der Krieg ja noch nicht zu Ende. Wenn wir bei Euch sind, werden wir wohl 8<br />

Tage zu erzählen haben, man kann nicht alles so schreiben. –<br />

In der Hoffnung, dass wir uns bald wiedersehen, grüßen wir Euch recht herzlich und<br />

senden viele Küsse Eure Mutti und Wilhelm.<br />

Der mag gar nicht schreiben, hat viel verlernt, mir geht’s ja auch bald so. Anita kann<br />

bald russisch, sie muss oft dolmetschen, hier sind viele Russinnen.<br />

Lieber Papa, liebe Erika!<br />

Soeben brachte Herr Hillebrandt Euren lieben Brief vom 2. Oktober. Wie haben wir uns<br />

gefreut! Wir haben aber auch schon ein Viertel Jahr bald keine Post mehr. Sonst geht es<br />

uns noch wie immer. Wir hoffen, dass es bald raus geht, es fällt schon ein paar Tage<br />

Schnee. Es taut aber immer gleich wieder, augenblicklich scheint sogar die Sonne.<br />

Ich war eben baden im russischen Warmbrausebad, das ist der große Duschraum im<br />

ehemaligen Reichsarbeitsdienstlager. Das ist schön, besser als Wannenbad. Da ist freitags<br />

für Russinnen geöffnet und Lilo Bahr und ich, wir gehen einfach hin! Wir können<br />

zur Not etwas russisch sprechen, es sagt uns aber auch keiner was. Sie fragen uns<br />

höchstens, ob das Bad gut ist, und wir sind erst mit Zittern und Zagen reingegangen und<br />

sagten uns, mehr wie rausschmeißen können sie uns nicht! Ich möchte schon gern richtig<br />

russisch lernen, denn wenn die Russinnen sich unterhalten, verstehe ich alles bis auf<br />

Wörter, die nur selten vorkommen.<br />

Ich gehe kaum einen Tag raus, in die Stadt kann man sowieso nicht gehen, höchstens<br />

kurz vor Feierabend bis Immans Bäckerei, ein Brot holen. Bis zum ehemaligen Arbeitsdienst<br />

kann man auch gehen. Das Viertel hier ist alles russisch, die Molkerei, die RÜ-<br />

WAG usw. Im ehemaligen Arbeitsdienstlager ist sonntagabends von 8 bis 10 Uhr Tanz<br />

für Deutsche, kaum zu glauben! Ein Junge spielt Handharmonika und wir Mädels tanzen.<br />

Hier ist noch Lilo Bahr, Jenny Schneier, Erika Fielitz, Eva, Brigitte und Edith Clemens,<br />

Luise Bahr, Trudchen Sielaff, Ursula Gehrke, Irma Vanselow, Traude Otto, Hilde<br />

Voß, Irma Köhn, Luzia Barz, Christel Plath, Christel und Inge Boddeutsch und noch<br />

andere, auch viele Ostpreußinnen. Die Jungens sind alle so in Wilhelms Alter, Heinz<br />

Wichmann, Willi Schröder, Gerhard Lach, Hans Schmidt, Günther Stahnke, ach, ich<br />

weiß nicht, wer noch. Das ist das Schönste in der Woche, wenn wir sonntagabends so<br />

zusammen sind. Russen und Russinnen kommen öfter auch ein paar, aber die haben ja<br />

extra Tanz mit Kapelle. Die paar Leute stören uns nicht. Es ist viel, dass das überhaupt<br />

erlaubt ist! Mal sollte es schon verboten sein, aber das ist widerrufen.<br />

Ist bei Euch im Dorf auch russische Kommandantur, oder wie ist das dort? Wenn wir<br />

bloß erst unterwegs wären.<br />

Nun lasst es Euch gut gehen, viele herzliche Grüße Euch beiden, Eure Anita.<br />

Dorsch vom Oberst und keine Mietkosten<br />

Rügenwalde, den 30.10.1946<br />

Mein lieber Karl, meine liebe Erika!<br />

Ganz unerwartet und mit großer Freude empfing ich heute Euren so lieben Brief. Habt<br />

vielen Dank. Ich bin heute recht müde, denn ich hatte große Wäsche, aber ich will Euch<br />

doch noch schnell schreiben. Lieber Karl, Deine Zeilen richten mich wieder auf, und wir<br />

41


leben auch wieder in der Hoffnung, dass Anfang November doch noch evakuiert wird. Es<br />

sollen ja nun die Freiwilligen rauskommen. Dazu bin ich hier schon zweimal aufgeschrieben<br />

worden. Gebe Gott, dass es doch endlich wahr wird, denn es wird immer kälter<br />

und nachher ist es zu spät. Ja, Russenautos haben wir hier genug, aber die fahren<br />

nicht Richtung Stettin, sondern immer hier in der Gegend rum, oft nach Neustettin. Von<br />

der Münde fährt öfter eins nach Liegnitz, aber das ist auch noch Polen, und da soll es<br />

noch schlimmer sein als hier. In <strong>Schlawe</strong> sind nur noch 700 Deutsche, hier ungefähr<br />

noch 3000, das liegt daran, dass Rügenwalde Garnison ist und viel Militär hat. Da werden<br />

die Deutschen noch zu sehr gebraucht. Hier liegt der Stab, der den Kreis <strong>Schlawe</strong><br />

sozusagen beherrscht. Nikolai ist der Chauffeur vom Oberst, ist jeden Tag unterwegs.<br />

Der hat es sehr mit Wilhelm, auch seine Mila sagt dann, mein kleiner Wilhelm, dabei ist<br />

sie viel kleiner als er. Neulich hat der Oberst Wilhelm Dorsch geschenkt. Er war mit<br />

dem Boot bei der Fischfabrik, da hat er ihn gerufen. Jetzt hat er weniger Zeit zum Bootfahren.<br />

Es ist viel an den Autos zu tun, und das ist auch ganz gut. Morgen soll ich für<br />

Mila was färben, dafür gab sie mir heute wieder 1 Stück Schweinefleisch, das lass ich<br />

zum Sonntag. Für Larissa soll ich nicht mehr waschen, sie sagt, ich hab so viel Arbeit,<br />

ich soll eine Waschfrau suchen. Ich bin auch froh, die gibt mir doch nichts. Die hat<br />

Kopfläuse und hatte Anita schon damit besetzt. Ach was ist das bloß für eine Strafe, in<br />

dem dichten blonden Haar. Wilhelm musste mir helfen. Meine Augen sind schwächer<br />

geworden. Aber Gott sei Dank haben wir es geschafft und sie sind weg und wisst Ihr<br />

womit? 2 mal mit Sprit eingerieben, das Zeug haben sie noch immer genug. Einheizen<br />

können wir uns auch bisschen, der kleine Ofen ist schnell warm und auch wieder schnell<br />

kalt. Ich koche auf Gas, das bezahlt Nikolai, das letzte Mal sollte er 515 Zloty bezahlen<br />

pro Monat, hat es aber noch nicht bezahlt. Licht ist frei, und Miete brauchen wir auch<br />

nicht bezahlen, weil das Haus dem Oberst gehört. Darin haben wir großes Glück gehabt.<br />

Von den Umzügen wird auch wohl noch nichts. Es bleibt vorläufig noch russisch.<br />

Nun mein lieber Karl, macht Euch nicht so große Sorgen. Ich werde schon noch mit den<br />

Kindern durchkommen. Noch habe ich 2700 Zloty und auch das deutsche Geld. Das will<br />

ich auch lassen zur Reise. Für meine Wanduhr, die ich noch nicht verkaufen will, kann<br />

ich 1000 Zloty bekommen. Aber ohne Uhr ist s doch nichts. Allerdings hört es sich toll<br />

an mit den Tausenden. Das Brot ist schon wieder teurer, ein 2 kg-Brot 46 Zloty und ab<br />

1. November 1 Brief 20 Zloty. Ein Arbeiter, der für die Stadt arbeitet, bekommt 10 Zloty<br />

pro Tag Arbeitslohn und viele gar nichts. Ich habe noch immer so allerlei mit dem Nähen<br />

und Zuschneiden verdient an Lebensmitteln. Das bringt noch am meisten ein. Frau<br />

Boddeutsch bekommt pro Tag 10 Zloty, das Essen und 1 kg Brot, das ist noch gut bezahlt.<br />

Dafür aber den ganzen Tag da und auch sonntags. Ihre Mädchen haben noch<br />

nichts bekommen, und ihr Opa ist auch noch mit Essen zu versorgen. Sie ist auch<br />

manchmal so verzagt. Ich kann ihr nun auch nicht mehr aushelfen. Neulich war Frau<br />

Dähling bei mir, ob ich nicht was für sie hätte. Ihr Mann ist schon wieder in Danzig, das<br />

weißt Du wohl. Lieber Karl schicke lieber kein Geld. Kaufe lieber da was, was Du kaufen<br />

kannst. Noch haben wir was und wolle das Schicksal gnädig sein, das wir uns bald<br />

wiedersehen. Was Du und wir durchgemacht haben, kann keiner ermessen, der es nicht<br />

selbst mitgemacht hat. Darüber bin auch ich hinweg. Ich habe nie gedacht, dass ein<br />

Mensch soviel aushalten kann. Aber lass man, für uns scheint auch noch mal die Sonne.<br />

Ich bin so glücklich, dass ich weiß, Ihr lebt und Euch geht es gut. Ihr seid doch unser<br />

ganzer Lebensinhalt, und wenn wir alle Fünf anfangen zu arbeiten, wem kann es da<br />

noch schlecht gehen. Soviel wie wir hatten, brauchen wir nicht mehr. Wir haben gelernt,<br />

dass wir auch mit Wenigem auskommen. An Deinem 45. Geburtstag waren Frau Pieper<br />

bei mir und Frau Tessendorf. Da haben wir noch gesprochen von Euch und nicht ge-<br />

42


ahnt, dass unsere Männer schon im Ural sind. Da habe ich noch so oft die Chaussee<br />

langgeguckt von der Haushaltungsschule aus, ob mein Karl nicht auch mal kommt. Verschiedene,<br />

die ankamen, haben dasselbe zum zweiten mal durchzumachen, und darum<br />

bin ich so froh, dass Du drüben bist und es Euch beiden so gut geht. Alles andere ist<br />

Nebensache. Nun wird doch auch einmal die Zeit kommen, wo wir uns wiedersehen. Es<br />

sind ja noch so viele Menschen hier, die dasselbe durchzumachen haben. Wir haben<br />

noch immer sehr viel Glück und sind von allem verschont geblieben. So langsam wird<br />

man ja menschenscheu, wir gucken nur immer auf den Hof. Sonntags habe ich auch<br />

soviel zu kochen, dass ich nirgends hin kann. Meistens muss ich dann Kartoffelpuffer<br />

backen. Lilo Bahr besucht Anita alle Tage, Christel kommt seltener. Da hat Emmy auch<br />

nicht viel Freude dran. Anita war im Frühjahr zum Friseur, das kostet 300 Zloty. Ihr<br />

Haar war so lang, Wilhelms Haarschneiden kostet 20 Zloty, seine Schuhe besohlen 80<br />

Zloty, Sohlen hat er gegeben.<br />

Nun meine Lieben will ich schließen, will schlafen gehen, das Zimmer ist kalt. Anita und<br />

Wilhelm gingen mit Lilo zum Konzert. Das ist alles umsonst von den Russen aus. Dann<br />

bin ich immer alleine. Wenn alle gehen schließe ich die Haustür zu. Aber unheimlich ist<br />

mir dann doch. Grüßt bitte Oma recht herzlich und vielen Dank für ihre Zeilen. Wollen<br />

hoffen, dass wir uns bald alle wiedersehen. Innige Grüße und viele Küsse Eure Mutti.<br />

Der im Brief von meiner Mutter erwähnte Konzertabend mit Lilo war sehr schön. Ein<br />

russischer Soldatenchor sang mit Klavierbegleitung wunderschöne russische Melodien.<br />

Aber dann gab es einen Missklang:<br />

Ein ukrainischer Solosänger in Uniform weigerte sich, ein russisches Lied zu singen, das<br />

im Programm vorgesehen war. Er betonte, dass er nur ukrainische Lieder vorträgt. Es<br />

wurde heftig debattiert, und das Konzert war beendet.<br />

Damals in Rügenwalde habe ich nicht nur an diesem Konzertabend beobachtet, dass sich<br />

die Russen, Ukrainer, Tataren, Kirgisen und Usbeken stets nach Nationalitäten in Gruppen<br />

zusammen fanden.<br />

Rügenwalde, den 31.10.1946<br />

Lieber Papa, liebe Erika!<br />

Für Euren schönen langen Brief habt vielen Dank. Wir haben uns sehr gefreut. Hoffentlich<br />

stimmt es diesmal, dass nächste Woche ein Transport gehen soll, aber so heißt es<br />

jede Woche, man glaubt es schon nicht mehr. Trotzdem hoffen wir noch immer, dass es<br />

doch einmal wahr wird. Wir sind noch immer alle 3 recht schön dick, aber das machen<br />

die vielen Mehlsuppen, die wir essen, die schwämmen richtig auf. Wenn wir mal was<br />

anderes haben, dann essen wir solange wie was reingeht. Denn wir sagen uns immer,<br />

vielleicht wird es bald knapper, dann haben wir Vorschuss. Augenblicklich haben wir<br />

viel Quark, dann bin ich den ganzen Tag satt, den esse ich mir nicht über. Den kriegen<br />

die Russen so billig in der russischen Molkerei, auch Käse manchmal, davon können<br />

wir dann mitessen, und das besorgen wir gründlich. Was ist das da bloß mit unserer<br />

Verwandtschaft, die scheinen sich wohl alle noch nicht umgestellt zu haben, die können<br />

ja mal mit uns tauschen, wenn es ihnen zu gut geht, was meinst Du, Oma? Dir lieben<br />

Oma, auch vielen Dank für Deine Zeilen, und Euch allen recht liebe Grüße von Eurer<br />

Anita.<br />

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Ein Russenleutnant mit Herz und Abschied von der freundlichen<br />

Partisanin<br />

Rügenwalde, den 24.11.1946<br />

Liebe Erika, lieber Papa!<br />

Für Euren lieben Brief habt recht vielen Dank. Die Freude war wieder mal groß. Märchenhaft<br />

kommt es uns vor, dass Ihr dort Radio besitzt. Hier hören und sehen wir nichts<br />

davon, das fehlt so sehr. Den ganzen Tag sitzt man in den 4 Wänden und sieht keinen<br />

Menschen außer den Hausbewohnern, man ist schon menschenscheu geworden, auch<br />

Musik ist nie zu hören. Die Chauffeure hatten ja ein Grammophon, aber das ist schon<br />

lange kaputt. Das war eine kurze Freude. Das Tanzengehen wird mir auch zu kostspielig.<br />

Die Schuhsohlen gehen zu schnell kaputt, und wenn man auch Gummisohlen liefert,<br />

so gehen fürs Besohlen doch immerhin 80 Zloty drauf. Auch die Strümpfe sind immer so<br />

kaputt, und Stopfgarn ist knapp, also lasse ich es lieber sein. Es war zwar die einzige<br />

Abwechslung, die ich hatte, einmal in der Woche, aber ich kann es mir nicht mehr leisten.<br />

Das Geld wird auch so viel zu schnell alle, und neues kommt nicht dazu. Ich kann<br />

auch schon soviel tanzen wie nötig ist. Lernen kann ich da nichts mehr, so wie es alle<br />

können, kann ich es auch. Wilhelm ist jetzt dahinter gekommen, er lernt Foxtrott, und<br />

Schieber kann er schon, sagt er.<br />

Ich muss für den Chauffeur Nikolai Strümpfe stricken, nachher soll ich für seine Frau<br />

Mila Söckchen stricken. Meine Jacke habe ich bald fertig, aber die Strümpfe sind vordringlich,<br />

weil die Russen bald wegkommen an die tschechoslowakische Grenze. Sie<br />

trösten uns ja immer, wir kommen auch bald hinter die Oder, aber wann wird das sein?<br />

Der jetzige polnische Bürgermeister ist als Professor an das hiesige Gymnasium berufen.<br />

Jetzt kommt ein anderer, hoffentlich unternimmt der etwas, dass Transporte von hier<br />

gehen, da setzen wir unsere ganze Hoffnung drauf.<br />

Die alte Köchin Katja sagte heute zu mir, sie will auch einen Pullover gestrickt haben.<br />

Na, dann habe ich ja noch Arbeit in Aussicht. So kann ich wenigstens was zum Essen<br />

verdienen. Vorgestern sagte Larissa zu mir, ob ich nicht als Wirtschafterin zu einer Offiziersfamilie<br />

nach der Münde wollte. Aber da immer hinlaufen, morgens früh und abends<br />

spät zurück, dann ist es dunkel und da liegt soviel russisches Militär, nein, da hätte ich<br />

doch Angst. Die Offiziersfrau wollte mich gern dahin haben, hat mir alles mögliche versprochen,<br />

ihr war es hauptsächlich darum zu tun, weil ich russisch verstehe. Aber Versprechen<br />

ist eine, und Halten ist die andere Sache.<br />

Nun seid vielmals herzlich gegrüßt von Eurer Anita.<br />

An jenem Abend, als mich Larissa fragte, ob ich nicht als Wirtschafterin zu einer Offiziersfamilie<br />

wolle, war ich in der Küche und bereitete das Aben<strong>des</strong>sen für sie, ihren<br />

Sascha und die Gäste zu.<br />

Als ich den Tisch im Zimmer nebenan decken wollte, musste ich das Tablett schnell<br />

absetzen. Die junge Frau, die zu Besuch war, sprang auf, umarmte mich und weinte. Es<br />

war Lilo Jütz aus Köslin, die ich im Freizeitlager bei Großmölln (heute polnisch Mielno)<br />

kennen gelernt hatte. Ich hätte sie sicher nicht gleich erkannt, denn ihr schönes langes<br />

Blondhaar fehlte; sie hatte ganz kurzes Haar, offensichtlich war es nachgewachsen.<br />

Lilo erzählte mir dann in der Küche unter vier Augen etwas über ihren Leidensweg. Sie<br />

war denunziert und verhaftet worden, weil sie hauptamtliche BDM-Führerin gewesen<br />

war. Lilo wurde ins Lager Danzig-Stutthof gebracht. Ihr Begleiter an diesem Abend, der<br />

russische Leutnant Boris, war seinerzeit in ihrem Elternhaus in Köslin einquartiert und<br />

hatte sich sofort in die blonde Lilo verliebt. Er half ihren Eltern, über die Grenze an der<br />

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Oder zu gelangen und kaufte Lilo aus dem Lager Danzig-Stutthof frei, wo man sie kahl<br />

geschoren hatte. Seitdem lebte sie mit Boris zusammen, aus Dankbarkeit, denn sonst<br />

würde sie sicher nicht mehr am Leben sein. So sagte sie mir.<br />

Meine Lieben in weiter Ferne!<br />

Am Freitag erhielten wir Euren so lieben Brief vom 08.11.. Natürlich hatten wir schon<br />

sehr gewartet und haben uns nun sehr gefreut. Habt recht vielen Dank. Euren Brief vom<br />

12. Okt. hatten wir auch erhalten und gleich beantwortet. Nachdem habe ich noch nicht<br />

wieder geschrieben. Man denkt von einer Woche zur anderen es geht los und es lohnt<br />

nicht zu schreiben. Nun haben wir einen neuen Bürgermeister. Vielleicht wird es nun<br />

mal was. Es ist kaum zu glauben, dass in 4 Wochen Weihnachten sein soll. Sollten wir<br />

noch hier sein, wird ein trauriges Weihnachtsfest für uns. Wenn man Eure lieben Briefe<br />

liest, wie schön es bei Euch sein könnte, dann wird die Sehnsucht noch mal so groß.<br />

Sogar Radio habt Ihr? Das klingt wie ein Märchen. So was ist hier nicht für Deutsche<br />

erlaubt und auch keine Möglichkeit vorhanden. Wir haben wieder schwere Tage hinter<br />

uns. Das erzählen wir Euch später mal alles. Unsere Russen hier kommen auch bald fort<br />

hinter Liegnitz. Nikolai ist schon gefahren und kommt in 14 Tagen erst wieder. Dann<br />

wird es wohl mit Allen losgehen. Anita muss Strümpfe für ihn stricken und für Mila.<br />

Christel Boddeutsch strickt für Sascha und Larissa. Es soll alles bald fertig sein. Nun<br />

könnt Ihr die Wolle nicht bei Grete spinnen lassen, oder hat sie keine Zeit? Stricken<br />

werden wir schon nachher. Anita kann gut stricken. Ihre Jacke ist hübsch. Das kann sie<br />

Dir lernen Erika. Ich hab auch noch wieder was Neues zu nähen, für Katja, die alte<br />

Köchin, wo Anita war. Sie brachte uns schon Mehl, Butterschmalz und heute 1 Brot. Sie<br />

meint es gut und bedauert, dass wir nicht zu Euch können. Auf unser neues Heim bin ich<br />

sehr neugierig und ich freue mich sehr dazu. Auch habt Ihr schon allerhand Möbel.<br />

Mein Überhandtuch für die Küche habe ich neulich von der Litowka gekriegt. Ich besitze<br />

auch noch eine elektrische Kochplatte. Wollte sie schon mitbringen, aber dann verkaufe<br />

ich sie noch. Auch Saft wollt Ihr kochen. Wenn Ihr noch Zuckerrüben kriegen könnt, die<br />

halten sich doch bis Frühjahr. Hier haben auch viele Leute gekocht. Vielleicht muss ich<br />

noch für Mila kochen, sie sagte es schon. Ich will kommende Woche auch noch für uns<br />

waschen. Wir hatten schon 8 Tage richtigen tiefen Schnee, Frost und Glatteis. Nun ist<br />

alles weg.<br />

Lieber Karl, gestern wurde Erich Gumz zu Grabe getragen. Er ist am Mittwoch an Alkoholvergiftung<br />

plötzlich gestorben. Wie traurig für seine Familie. Frau Gumz muss nun<br />

noch aus der Wohnung. Aus ihrem Haus sind sie schon länger, auch durch seine Schuld.<br />

Sie soll nun nach Trabandt ziehen in Harweks Wohnung. Artur Rhien´s Haus musste<br />

auch geräumt werden. Das wird ein polnischer Kindergarten. Vor paar Tagen ist Frau<br />

Völz nach Hause gekommen. Ist in Danzig entlassen. Frau Schiffmann ist noch da. Ursel<br />

Völz schält Kartoffeln in der russischen Kinderküche. Das ist auch im Amtsgericht. Da<br />

ist auch Lilo Bahr, aber oben, abwaschen und bedienen. Nun noch was Neues: Unser<br />

Wilhelm geht tanzen. Er ist heute wieder da. Anita ist es leid. Sie bedauert die Schuhsohlen.<br />

Ja, auch damit muss man sparen. Wir bewohnen hier in Förderers Haus das Hinterzimmer<br />

nach dem Hof zu visavis von der Küche. Es ist sehr eng, heute schön warm. Wir<br />

haben ein Vertiko kaputtgeschlagen. Das lag auf dem Hof. Wilhelm ist immer sehr<br />

schlecht zum Holz klein machen zu kriegen. Dann muss ich schon Krach machen. Heute<br />

sagte ich, das schreib ich Papa hin, dann gings aber los. Nach der Straße hin wohnen<br />

alle Russen. Wenn wir auf die Straße gucken wollen, müssen wir schon rausgehen. Aber<br />

dazu lassen wir uns keine Zeit. Walter Barske mit Familie mussten auch raus, wohnen<br />

oben in Gnodtkes Haus. Er sagt, ob bei Euch ein Schmied fehlt. Er möchte auch so gerne<br />

raus, haben aber kein Ziel. Sie hat mir 4 alte Bettlaken gegeben, die will ich mir ausfli-<br />

45


cken, sind noch ganz gut. Muss was für sie nähen. Bei Dubberkes wohnen nun Polen und<br />

sie wohnen alle oben. Ihre Nähmaschine ist unten geblieben. Nun gehe ich nach Frau<br />

Miels nähen oder auch mal zu meiner nach den Litauern. Aber das fällt mir immer so<br />

schwer. Die haben noch so viele Wäsche von uns. Das muss man alles mit ansehen. Von<br />

Frau Erdt bekam ich vor paar Tagen einen langen Brief. Der Brief ist doch noch nicht<br />

teurer geworden. Ein Brot kostet nun 48 Zloty 4 Pfund. In der englischen Zone gibt es<br />

mehr Verpflegung. Schade, dass bei Euch noch russische Zone ist. Heute Montag: Larissa<br />

sagt heute, dass sie am 15. Dez. alle weg kommen. Hier wird polnisch sagt sie. Na,<br />

denn geht’s auch bald los. Ab heute wird auch die Schlossmühle polnisch.<br />

Nun meine Lieben will ich schließen. Ich weiß nichts mehr. Möge Gott geben, dass wir<br />

bald zu Euch kommen. Bis dahin die allerbesten Grüße und Küsse Eure Mutti und Wilhelm.<br />

An Oma<br />

Meine liebe Mutter!<br />

Ja nun bist Du schon so lange da und wir können nicht nachkommen. Wären wir doch<br />

damals mit Dir zusammen rausgefahren. Das hätten wir uns müssen beschreiben. Du<br />

hast nun wieder Husten. Gibt es keinen Bienenhonig bei Euch? Bleib nur schön gesund,<br />

wir wollen uns doch noch soviel erzählen. Schreiben kann man nicht alles. Grüße bitte<br />

alle Verwandten, ich hoffe, dass wir uns alle gut vertragen. Dazu ist doch die Zeit zu<br />

ernst. Innige Grüße und Küsse Deine Erna.<br />

Von Lehmanns soll ich Euch sehr grüßen, auch von Boddeutschens herzlich. Christel ist<br />

schon hier stricken.<br />

Rügenwalde, den 10.12.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Heute will ich noch mal an Euch schreiben und wie Ihr seht, noch aus Rügenwalde. Ich<br />

habe lange keine Post von Euch, Ihr denkt sicher, wir rollen schon. Ja, ich habe auch<br />

immer gehofft, Weihnachten bei Euch zu sein, aber es ist nun nicht in Erfüllung gegangen.<br />

Ich wünsche Euch frohe, gesunde Feiertage. Ich werde sehr viel an Euch denken<br />

und Ihr wohl auch an uns. Ich glaube kaum, dass der Brief noch bei Euch zum Fest ankommt.<br />

Aber ich hatte diese Tage allerhand Aufregung, denn wir wollten ins Kösliner<br />

Lager gehen, aber es glückt uns nicht. Es soll da demnächst ein Transport gehen, hatten<br />

schon alles erkundet, aber keiner will uns hinfahren. Ich wollte Euch die Freude machen,<br />

dass wir wenigstens unterwegs sind, aber es steht nicht in meiner Macht. Ich bin<br />

ganz traurig. Einfach die Tasche in die Hand nehmen und zu Fuß gehen, haben wir<br />

schon gesagt, aber es ist Winter, und da muss man doch unterwegs ein Bett haben. In<br />

Köslin ist nur der kahle Fußboden im Lager, und wenn man da noch ein paar Wochen<br />

liegt, erkältet man sich. Viele reden ab, denn es sind tatsächlich von da Transporte über<br />

Polen gegangen. Eine Frau aus Schlawin hat von Bromberg geschrieben und eine Frau<br />

Mollau von der Münde auch, dass sie über Polen, Schlesien und dann nach Sachsen<br />

gefahren sind. Aber <strong>des</strong>halb wollten wir doch trotzdem versuchen, zu Euch zu kommen.<br />

Man darf in Köslin nicht sagen, dass wir aus Rügenwalde sind. Der Pole im Kontor hat<br />

gesagt, wir sollen solange warten bis wir dran sind. Es wird hier ja auch von Transporten<br />

gemunkelt, aber darauf haben wir nun lange genug gewartet. Von Stolp sind mehrere<br />

Transporte gegangen. Was sagt Euer Radio? Ich denke, einmal muss es doch anders<br />

werden.<br />

Die Chauffeure sind noch hier, Nikolai ist mit dem Oberst noch nicht zurück, kommt erst<br />

am 20. wieder. Seine Mila gibt uns alle Tage 1 ½ bis 2 Liter Vollmilch. Anita strickt<br />

46


noch für sie. Ich habe wieder etwas verkauft und noch mal 380 Zloty eingenommen.<br />

Habe heute 1 Zentner Kartoffeln gekauft für 125 Zloty. Bei Gelegenheit verkaufe ich nun<br />

die Uhr. Es könnte mal plötzlich losgehen und dann bleibt sie noch hängen. Die letzten<br />

1.000 Zloty müssen für die Reise bleiben.<br />

Frau Speith hat auch von ihrem Mann aus Berlin Nachricht. Er ist dort als Richter tätig.<br />

Sie möchte auch zu gerne weg. Ihre Söhne gehen auf Holzpantoffeln, der eine kommt<br />

öfters zu Wilhelm.<br />

Ich nähe für Anita ein Kleid aus Irmchens Mantel, gehe immer zu Frau Miels. Meine<br />

Wäsche ist alle sauber, ich hatte mich schon zur Reise eingerichtet, wie schon so oft.<br />

Nun meine Lieben will ich schließen, ich sitze in der Küche und friere, will auch noch<br />

wieder nähen.<br />

Grüßt bitte Oma und alle Verwandten, wir wünschen ein frohes gesun<strong>des</strong> Weihnachtsfest.<br />

Euch Lieben grüße und küsse ich vieltausendmal Eure Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

Auf Wiedersehen!<br />

Mein lieber Papa, meine liebe Eka-Schwester!<br />

Auch ich will Euch etwas schreiben. Ich habe in letzter Zeit gestrickt, für Nikolai und<br />

Mila zwei Paar Strümpfe, ein Paar Fingerhandschuhe und jetzt stricke ich Söckchen mit<br />

buntem Muster oben am Rand, so habe ich auch meine gestrickt. Für Anni, die Litauerin<br />

in unserem Haus, soll ich noch Fausthandschuhe mit nordischem Muster stricken, für<br />

Barskes Mädchen soll ich noch 2 Puppen machen. Für die ersten Strümpfe kriegte ich<br />

von Nikolai 100 Zloty. Für das andere gibt mir Mila jeden Abend Milch, so haben wir<br />

immer Milchsuppe. Dazu essen wir Pellkartoffeln, dann werden wir schön satt.<br />

Im Januar sollen ja bei Euch Wahlen sein, vielleicht klärt sich unsere Lage dann. Entweder<br />

– oder, einmal muss es ja kommen, darauf hoffen wir jetzt. Ich muss aufhören zu<br />

schreiben, es ist kein Licht, ganz , ganz wenig brennt es noch.<br />

Seid alle vieltausendmal gegrüßt von Eurer Anita.<br />

Rügenwalde, den 15.12.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Eka!<br />

Heute am dritten Advent will ich Euch schnell einen Brief senden. In der Woche habe ich<br />

schon einmal geschrieben und war so traurig, dass wir nicht nach Köslin kamen. Da ist<br />

am Mittwoch ein Transport gegangen, aber nicht alle sind mitgekommen. Nun heißt es,<br />

dass erst im Februar wieder ein Transport von da geht. Nun passt mal auf, gestern sind<br />

von hier wieder 150 Personen an den Stolper Transport angeschlossen worden, und wir<br />

waren noch nicht dabei. Es geht aber bald der große Transport, und raus kommen wir<br />

alle hier. Kreis <strong>Schlawe</strong> ist nun endlich dran. Der Chef von Frau Boddeutsch hat soviel<br />

versucht, dass er sie mithaben wollte, aber es ließ sich nichts machen. Sie hatte ihm<br />

sogar eine Uhr versprochen. Die Herren vom Rathaus haben gesagt, dass wir alle bald<br />

rauskommen. Wahrscheinlich am dritten Feiertag. Unsere Freude ist groß, und wir können<br />

es kaum abwarten. Hoffentlich geht es nicht wieder schief. Ich schreibe Euch bald<br />

wieder, hoffentlich aus Deutschland.<br />

Heute nacht sind unsere Chauffeure mit ihren Frauen abgehauen. Sie haben gestern<br />

alles verkauft, Bettstellen usw., und nun haben Sascha und Larissa heute nacht bei uns<br />

geschlafen in Anitas Bett und Anita bei mir. Arwin, der Armenier, bleibt noch ein paar<br />

Tage hier bis seine Maschine fertig ist. Heute früh sind wir nun schon seit 3 Uhr auf den<br />

Beinen, sie haben uns sehr viel Dreck hinterlassen. Wir haben heute schon allerhand<br />

Arbeit gehabt, so was müsstet Ihr mal sehen. Vor einer Weile haben sich unsere neuen<br />

Hausbewohner vorgestellt, ein russisches Ehepaar, sie stehen beide Posten. Hoffentlich<br />

kommen wir mit diesen auch so gut aus. Mila und Larissa haben uns soviel geküsst zum<br />

47


Abschied, gute Frau Erna und gute Anita! Ja, wir werden hoffentlich auch bald loskönnen,<br />

uns fällt der Abschied nicht mehr schwer. Für uns ist hier Hopfen und Malz verloren.<br />

Dubberkes mussten gestern auch mit, sie hatten sich gar nicht eingerichtet, so musste ich<br />

ihr meine Tasche geben. Nun muss ich mir wieder eine nähen. Eben war Frau Dähling<br />

hier. Sie wollte wissen, ob die Russen uns viel hinterlassen haben. Ja, sagte ich, sehr viel<br />

Dreck, sonst nichts. Was sich die Leute so denken. –<br />

Wilhelm hat 2 schöne Hosen geerbt und eine neue Soldatenjacke, davon mache ich ihm<br />

eine Windbluse. Ich habe noch sehr viel Arbeit vor dem Fest. Auch Anita muss noch viel<br />

schaffen. Für uns gibt es keinen Sonntag und kein Fest, es ist jeder Tag gleich. Wir haben<br />

3 Brote für Arbeit bekommen, so brauchte ich die ganze Woche keins kaufen. Auch<br />

Speck und Fleisch habe ich fürs Nähen bekommen, aber Kuchen kann ich uns nicht backen.<br />

Ich will uns zu Weihnachten ein Weißbrot kaufen.<br />

Hier ist es sehr kalt, die Fenster stehen schon ein paar Tage im Eis und wollen nicht<br />

tauen. Heute fing es an zu schneien, nun wird der Frost doch nachlassen. Ich will noch<br />

bisschen waschen, damit wir allzeit reisefertig sind.<br />

Wir haben noch ein ganz Teil Holz von Larissa geerbt, sie ließ sich vorige Woche eine<br />

Fuhre gehacktes Holz bringen, aber halb nass. Gas kann ich nun nicht brennen, das<br />

kann ich nicht bezahlen. Es ist gut, dass dies Haus russisch bleibt, dann wohnen wir frei.<br />

Wir hatten schon Angst, dass es polnisch würde.<br />

Anita hat diese Tage solche Gallenschmerzen, das kommt von Graudenz nach, unser<br />

Zimmer ist auch so kalt. Vielleicht ziehen wir noch in das kleine Zimmer vor, wo Förderers<br />

Kontor war, da ist es wärmer. Hoffentlich kriegen wir bald mal Post von Euch, es<br />

ist schon so lange her, seit der letzte Brief kam.<br />

Seid nun vieltausendmal geküsst und herzliche Grüße, Eure Mutti. Auf Wiedersehen im<br />

neuen Jahr!<br />

Mein lieber Papa, meine liebe Eka!<br />

Nun steht Weihnachten vor der Tür und ein hartes Schicksal hält uns voneinander fern.<br />

Noch immer war es uns nicht vergönnt, uns zu Euch auf den Weg zu machen, was wir<br />

auch versuchten. Die Chauffeure sind nun weg, der Stab ist nach Waldenburg in Schlesien<br />

an die tschechische Grenze verlegt worden. Am 20.12. kommt der Stab aus Stolp<br />

hierher, dann kommen wieder neue Chauffeure ins Haus. Die alten haben sich so herzlich<br />

verabschiedet, Larissa hat mir ein deutsch-russisches Wörterbuch geschenkt. Wilhelm<br />

hat das kaputte Grammophon und ein paar Schallplatten von Nikolai geerbt. Vielleicht<br />

kriegt er es heil gebastelt, dann können wir es eventuell noch verkaufen ehe wir<br />

abfahren. Ja, so drehen sich unsere Gedanken immer nur um den einen Punkt – abfahren.<br />

Wann wird das sein? Die Transporte gehen jetzt über Neustettin. Zum Weihnachtsfest<br />

Euch beiden und Oma die allerbesten Wünsche und zum neuen Jahre gleichfalls die<br />

herzlichsten Grüße sendet Euch Eure Anita.<br />

Im vorangegangenen Brief haben Mutti und ich über den herzlichen Abschied von Larissa<br />

berichtet. Larissa war immer gleich freundlich zu uns.<br />

Sie rauchte sehr stark, und ich musste öfter mal eine Zigarette aus Machorka in Zeitungsrand<br />

eingerollt mitrauchen – so habe ich mir aber nicht das Rauchen angewöhnen<br />

können – auch gut! Larissa wäre sehr beleidigt gewesen, wenn ich das Mitrauchen abgelehnt<br />

hätte.<br />

Ich erinnere mich noch an einen Kinoabend, in der letzten Zeit mit ihr, an dem sie mich<br />

beschützte.<br />

48


Sie hatte mich überredet mitzugehen, es würde ein schöner Film gezeigt. Ich könnte ja<br />

schon ganz gut russisch verstehen.<br />

Wir saßen im Kino nebeneinander. Vor dem Hauptfilm wurde ein Dokumentarstreifen<br />

gezeigt, der mich zutiefst erschreckte. Juden wurden von deutscher SS in eine Sandgrube<br />

getrieben. Die SS-Leute stellten sich rund um den Grubenrand auf und erschossen die<br />

jüdischen Menschen.<br />

Hinter uns wurden Stimmen laut, und Drohgebärden richteten sich gegen mich. Sie kamen<br />

von russischen Juden, die in der nächsten Reihe saßen.<br />

Ich hatte Angst und wollte gehen. Aber Larissa sagte zu mir: „Bleib sitzen! Dir tut niemand<br />

etwas. Ich bin bei Dir.“<br />

Als die Stimmen lauter und die Drohungen heftiger wurden, mir wurden die geballten<br />

Fäuste gezeigt, bin ich dann doch lieber ausgerissen.<br />

Als Larissa vom Kino nach Hause kam, sagte sie: „Warum bist Du weggelaufen? Du<br />

hast das doch nicht getan, was da zu sehen war! Der Hauptfilm war sehr schön. Schade,<br />

Du hättest bleiben sollen.“ So war meine Larissa!<br />

Rügenwalde, den 29.12.1946<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Vielleicht sind es heute die letzten Grüße aus Rügenwalde, denn die Evakuierung geht<br />

flott vonstatten. Am 2. Weihnachtstag fing es an, und die Leute bekamen abends vorher<br />

die Scheine. Auch Boddeutsch´s sind die Glücklichen, u.a. mit Kessels zusammen. Nun<br />

gestern war der dritte Tag, jeden Tag ein -, zwei- oder dreimal zur Bahn. Von hier bis<br />

<strong>Schlawe</strong> muss man bezahlen, 24 Zloty pro Person. Gestern sollte auch das rote Hospital<br />

drankommen, Ernst und Richard haben so geweint, es ist auch ein hartes Los für die<br />

beiden Blinden, in 10 Minuten raus. Es wurde aber nun doch noch wieder verschoben,<br />

und sie sind noch hier. Es liegen in <strong>Schlawe</strong> noch die ersten, die Waggons kommen nicht<br />

so schnell ran. Jetzt heißt es immer in 10 Minuten, und alle Leute haben gepackt – nur<br />

zum Loslaufen. Auch wir sitzen heute ohne Betten, alles ist geschnürt. Anita und ich<br />

zogen uns heute morgen gleich richtig an, alles dreifach, was nur geht.<br />

Nun will der Russe seine Leute nicht mitlassen , und manche sind schon zurückgeholt<br />

worden. Heute gingen 6 Posten in der Bahnhofstraße und passten auf die Leute auf,<br />

hauptsächlich die bei der Fischfabrik arbeiten. Ein Glück das wir keine russischen Dokumente<br />

haben. Aber ich will morgen noch mal zum Rathaus gehen, dass wir auch nicht<br />

vergessen werden in der Russenstraße. Wir wohnen noch alleine hier im Haus mit Arwin,<br />

dem alten Armenier. Mit unseren Betten sind wir nach oben gezogen, die Schränke<br />

haben wir unten gelassen. Hier ist es wärmer, denn ein Kachelofen ist drin, da kann man<br />

schön Holz zum Trocknen dahinter packen.<br />

Gestern waren 2 Offiziere vom Stab hier, es sollen wohl Deutsche einziehen, die in der<br />

Molkerei arbeiten, die dürfen nicht weg. Eben war Frau Miels hier und sagte, dass erst<br />

am 8. wieder evakuiert wird. Ihr Franzose ist erster Buchhalter, der hat es gesagt. Nun<br />

haben wir 5 Brote gekauft und 2 bekamen wir für Arbeit, nun wird es uns noch hart.<br />

Ja, seht, meine Lieben, über all diese Ereignisse sind wir gar nicht zum Weihnachten<br />

feiern gekommen, haben das ganze Fest gearbeitet. Am 2. Feiertag habe ich für Else<br />

Barske drei Taschen und einen Bettsack genäht, dafür bekomme ich ein Stück Bettzeug,<br />

und heute etwas Fischöl. Nun habe ich uns eben Kartoffelpuffer gemacht, aber ohne<br />

Zucker. Am Heiligen Abend wollte ich backen, damit ich Zerstreuung hatte, da brannte<br />

das Gas so schlecht.<br />

Mit Anita habe ich ein paar Weihnachtslieder gesungen und von Euch gesprochen, wir<br />

hatten sogar einen Tannenstrauß mit bisschen Wattetupfen drauf. Von Anita bekam ich<br />

49


ein Weißbrot und 10 Gramm Kaffee. Ich hatte auch für beide ein Weißbrot gekauft, für<br />

Anita 2 Seitenkämme und für Wilhelm 3 Bonbons, die hatte ich mal geschenkt bekommen.<br />

Am 1. Feiertag kam nachmittags die Nachricht vom Evakuieren, Schluss mit dem<br />

Fest, nähen und packen! Frau Kessel hat aus <strong>Schlawe</strong> geschrieben, dass sie ihren Bettsack<br />

schon los ist.<br />

Unsere größte Freude war am 2. Feiertag Euer schöner Weihnachtsbrief! Ja, mein lieber<br />

Karl, das Leben ist ein harter Kampf und manchmal ist mir, als ob ich nicht weiter<br />

kann, aber der Gedanke an Euch hilft alles überwinden. Ich bin mit den Nerven schon so<br />

weit runter, dass ich bei jeder Aufregung am ganzen Leib zittere. Du weißt ja, Karl, wie<br />

ich damals mit Dir bei Bäckerts war. Wir haben das selbe hier schon oft wieder erlebt,<br />

aber Gott hat uns immer wieder beschützt. Auch Arwin hilft uns wie er kann. - Er ist<br />

ganz traurig, dass wir wegwollen. Er sagt, ich seine Mutter, Anita Schwester und Wilhelm<br />

Bruder, wir alle seine Heimat. Anita spielt heute auf zum Tanz, Wilhelm ist auch<br />

dort, und ich sitze allein oben, schließe immer die Haustür zu. Arwin pfeift unten seine<br />

armenische Melodie – nun geht er auch weg.<br />

Viele herzliche Grüße und Küsse von Eurer Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

20 Grad Kälte und schreckliche Ungewissheit<br />

50<br />

Rügenwalde, den 10.1.1947<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Eka!<br />

Noch sind wir hier, und ich will heute noch mal an Euch schreiben. Den letzen Brief<br />

schrieb ich am 29.12., der Brief wird inzwischen bei Euch angekommen sein. Seit ich<br />

schrieb ist noch kein Transport gegangen, denn es ist starker Frost eingetreten und 16<br />

bis 20 Grad Kälte. Die zu Weihnachten rauskamen, sind in Forst / Niederlausitz gelandet,<br />

also über Schlesien, Sachsen ins Reich. Das wäre für uns sehr günstig. Dr. Krüger<br />

hat den Transport geleitet und gesagt, das Frieren ist furchtbar. Wir haben auch schon<br />

Angst bekommen. Hoffentlich lässt einmal die Kälte nach. Unterwegs ist eine Frau gestorben<br />

und ein Kind wurde geboren. Heute wird gesagt, dass es am 15. losgeht, also<br />

noch vor der Wahl am 18. Wir werden wohl alle krank frieren. In <strong>Schlawe</strong> ist gleich die<br />

große „Kontrolle“ und die letzten sind viel los geworden. Unsere Betten haben wir wieder<br />

ausgepackt, es ist ja zu kalt. Heute Mittag hatte ich die letzten Kartoffeln, zweimal<br />

hat mir Frau Miels schon einen Korb voll gegeben. Nun soll Wilhelm morgen mal zum<br />

Gärtner gehen. Wenn genau raus wäre, wann es los geht, würde jeder welche abgeben,<br />

aber wir leben ständig im ungewissen.<br />

Nun lieber Karl, habe ich eine große Bitte. Das Geld, was im Brief liegt, ist von Frau<br />

Miels. Ihr Mann ist in Berlin und arbeitet in einem großem russischen Werk als Schlosser.<br />

Da dort die Verpflegung so schlecht ist, möchte sie gern für ihn sorgen und bittet<br />

Dich, wenn es Dir möglich ist, mal ein Brot und etwas Mehl zu schicken. Sie hilft uns<br />

hier auch wie sie kann, hat schon viel Gutes an uns getan. Ich weiß ja nicht, ob das Brot<br />

bei Euch auch sehr knapp ist, davon habt Ihr noch nichts geschrieben. Zum Kartoffeln<br />

schicken ist es ja zu kalt, das müssen wir später mal machen. Nun meint sie schon, wenn<br />

er sonntags mal rüber fährt und sich welche holen kann, wenn es mit Brot schlecht ist.<br />

Was meinst Du? Ich muss auch für sie deutsches Geld mit rübernehmen, weil wir doch<br />

wenig haben, und jeder kann 500 Mark mitnehmen. Sie hat auch ihre Nähmaschine verkauft,<br />

und ich nähe nun mit der Hand.<br />

Heute sind unten bei uns 2 Russinnen eingezogen, die in der Molkerei arbeiten. Wilhelm<br />

hat geholfen und lange wollene Strümpfe bekommen und Pelz für eine Mütze. Es kommen<br />

nun viele Russen nach Stolp, und die Küche wird aufgelöst. Lilo Bahr ist auch ent-


lassen, sie ist immer bei Anita, sie sitzen zusammen und stricken und singen oder reden<br />

russisch, dann bin ich aufgeschmissen.<br />

Silvester haben wir gut verlebt, Frau Bahr war mit Lilo hier. Sie hatten Bohnenkaffee<br />

und Pfannkuchen mitgebracht, und um 12 Uhr gabs Kaffee. Die Jugend hat unten getanzt<br />

bis morgens früh, aber ohne Russen.<br />

Wie habt Ihr den Abend verlebt? Was wird uns das neue Jahr bringen? Wollen hoffen,<br />

dass es besser für uns wird als das verflossene. Nun meine Lieben entschuldigt die<br />

Schrift, das Licht ist so schlecht.<br />

Viele herzliche Grüße und Küsse von Eurer Mutti, grüßt Omi und alle anderen, auf Wiedersehen!<br />

Lieber Papa, liebe Eka!<br />

Immer noch sind wir nicht auf der Reise. Es ist augenblicklich aber auch solche Kälte,<br />

da möchte ich schon lieber warten bis es wärmer ist. Mir sind jetzt schon die Hacken<br />

erfroren, und an den Knien habe ich Frostbeulen. Man ist ja jetzt nicht so widerstandsfähig,<br />

dem Körper fehlt das Fett.<br />

Ich habe immer noch zu stricken, für ein Paar gemusterte Fausthandschuhe bekomme<br />

ich 2 Brote. Ich (oder Mutti) konnte auch schon Arbeit haben in einem polnischen Café<br />

als Köchin, aber das verstehe ich doch wohl nicht so ganz. Ich will auch lieber beim<br />

Russen arbeiten, weil ich doch schon russisch verstehe. Ich habe für eine Frau schon<br />

öfter russische Briefe übersetzt, das geht schon ganz gut, bis auf seltener vorkommende<br />

Ausdrücke, die weiß ich dann doch nicht.<br />

Wenn es jetzt losgeht, werde ich wohl noch mit meiner Galle zu tun kriegen, sobald ich<br />

durchgefroren bin, bekomme ich Schmerzen. Ja, wie es kommt, so wird es genommen. –<br />

Hoffentlich wird das Wetter noch milder. Ich hoffe, Ihr seid alle gesund.<br />

Seid alle dort recht, recht herzlich gegrüßt von Eurer Anita.<br />

P.S. von Mutti: Heute schneit es nun, die Wipper ist bald zugefroren wie 1936, alle Wasserleitungen<br />

sind kaputt, aber die bei uns läuft noch, und alle holen hier Wasser.<br />

Nochmals Gruß, Mutti.<br />

Rügenwalde, den 19.1.1947<br />

Mein lieber Karl, meine liebe Erika!<br />

Schon wieder ist eine Woche vergangen, und wir sitzen noch hier. Wann wird für uns<br />

einmal die Erlösung kommen. Die letzten, die Weihnachten evakuiert wurden, haben<br />

schon aus Erfurt aus dem Lager geschrieben. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen<br />

können, nachdem ich das erfahren hatte. Könnten wir nicht auch einmal dabei sein. Es<br />

sind alle, wo Polen im Hause wohnen zuerst dran. Natürlich auch solche, die die Beamten<br />

bestechen können, Schmuckstücke, Uhren oder 1.000 Zloty können helfen, aber wir<br />

besitzen alles nicht mehr und sind auch nicht schuld daran, dass wir so arm geworden<br />

sind. Vielleicht machen Boddeutschens einen Abstecher zu Euch wenn sie Erfurt sind.<br />

Die werden wohl Lucks Uhr hingegeben haben, damit sie wegkamen, auch hat ihr Pole<br />

mitgeholfen. Am 15. mussten 4 Dörfer raus nach <strong>Schlawe</strong> zur Bahn. Sie sind aber alle<br />

wieder zurückgeschickt worden. Es darf wohl jetzt nicht evakuiert werden, weil so viele<br />

Leute erfroren sind. Aber seit Mittwoch ist gelin<strong>des</strong> schönes Wetter, nun lässt es sich<br />

schon gut reisen. Alles ist getaut, und die Sonne scheint schon alle Tage.<br />

Heute haben die Polen hier Wahl, aber alles ist ruhig. Die Restaurants sind geschlossen.<br />

Schreibt doch öfter mal, wir haben seit Weihnachten keine Post. Es ist nur gut, dass wir<br />

nicht nach Köslin ins Lager gingen. Frau Miels Schwester aus Soltikow ging mit ihrer<br />

Familie Anfang Dezember dahin. Nun hat Frau Miels gestern von ihr Post bekommen –<br />

51


und zwar noch aus Köslin. Es ist von dort noch kein Transport gegangen, also dann<br />

können wir auch hier im Warmen warten. Ich habe dieser Tage noch wieder etwas verkauft<br />

und muss noch mehr verkaufen, wenn es noch etwas dauert. 1 Brot 50 Zloty, das ist<br />

zweimal essen, dann ist es alle. Wir essen ja nur trocken Brot, das hält nicht an.<br />

Ich habe diese Woche Pelzmützen genäht, für 1 Mütze 1 Korb Kartoffeln, eine soll ich<br />

noch machen. Anita hat 2 Jacken für Else Barskes Kinder bestickt und hat 1 Pfund Butter<br />

bekommen, da haben wir uns doch sehr gefreut. Für unsere Russinnen muss ich auch<br />

alle Tage kochen, dafür bekomme ich Milch.<br />

Unser Licht ist oft kaputt, und wir sitzen im Dunkeln. Förderers sind auch noch hier, er<br />

muss für die polnische Miliz Autos reparieren. Gestern mussten auch Karl Pyritz und<br />

Plaths aus ihrem Haus, es sind jetzt Polen drin.<br />

Inzwischen ist es Zeit ins Bett.<br />

Viele tausend Grüße und noch mehr Küsse Euch beiden, Eure Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

Auf Wiedersehen!<br />

Lieber Papa, liebe Eka!<br />

Auch ich will noch ein bisschen dazu schreiben. Es darf bloß nicht viel sein, sonst wird<br />

der Brief zu dick – von wegen der Einlage. – Hoffentlich kommt es an, auch der zweite<br />

Brief. Ich weiß ja nicht, ob ich überhaupt noch mal Geld darauf bekommen werde, wenn<br />

nicht, ist es auch egal. Es haben hier schon alle so gemacht, und die Briefe sind angekommen.<br />

Sonst schlagen wir uns immer noch so durch. Ich habe gleich wieder ein Paar bunte<br />

Fausthandschuhe fertig, da sind wieder 2 Brote in Aussicht.<br />

Heute schneit es immerzu, die letzten Tage war Tauwetter. Die Wipper ist aber von<br />

Liegnitz´ Garten an noch zu.<br />

Das Evakuieren soll ja bis März aufhören, aber vielleicht geht es doch eher los, falls<br />

gelin<strong>des</strong> Wetter ist.<br />

Hoffentlich seid Ihr alle dort schön gesund, Euch allen die herzlichsten Grüße von Eurer<br />

Anita.<br />

Bei der im vorausgegangenen Brief erwähnten Einlage handelte es sich um ein paar<br />

Seiten meines von mir auseinander genommenen Sparkassenbuches. Nach und nach<br />

habe ich damals einzelne Seiten in die Briefe getan. Alle Seiten sind angekommen.<br />

Auf meinem Sparkassenbuch hatte ich das Lehrlingsentgelt für die gesamte Lehrzeit<br />

angespart.<br />

Zur Altguthabenumbewertung konnte ich 1950 das komplette Sparkassenbuch einreichen<br />

und erhielt mein Guthaben 10:1 abgewertet ausbezahlt.<br />

Aufgriff zum Eishacken und kein Brot für Deutsche<br />

Rügenwalde, den 13.2.1947<br />

Lieber Papa, liebe Erika!<br />

Schon lange warten wir auf Post von Euch, aber bis heute vergebens. Vielleicht kommt<br />

noch zu Muttis Geburtstag ein Brief, das ist ja bald. Mutti sagt immer, die sind uns ganz<br />

böse. Ja, was soll das bloß sein, dass wir immer noch hier sind?<br />

Heute fängt es an zu tauen, solange war großer Frost. Die Wipper kann man noch immer<br />

überqueren. Ich komme jetzt gar nicht aus dem Haus, vielleicht alle Sonntage raffen<br />

wir uns mal auf, d.h. Lilo Bahr und ich gehen ein Stückchen die neue Chaussee nach der<br />

Grabow zu, sonst kann man nirgends gefahrlos hingehen. Die Russen ziehen alle nach<br />

Stolp, die hier noch vom Stab waren. Die anderen sind bei Gumz, Trabandt und Fisch-<br />

52


mehlfabrik. Sonst ist jetzt alles polnisch. Augenblicklich sieht es ganz mies aus. Es gibt<br />

kein Brot für Deutsche, d.h. nur nachmittags, aber dann ist es in der Regel ausverkauft.<br />

Wilhelm hat in einem Geschäft noch 6 Kilo Mehl bekommen, davon bäckt Mutti Brot.<br />

Das war so ziemlich unser letztes Geld. Nun müssen wir doch als letztes die Wanduhr<br />

verkaufen. Vielleicht bekommen wir 1.500 Zlotys. Schade, dass wir keine Verwandtenverbindung<br />

in Amerika haben, für 1 Dollar kriegt man 600 bis 700 Zloty!<br />

Nun sind bald 2 Jahre dahingegangen, und noch ist hier alles beim alten, so kann es<br />

nicht mehr lange gehen. Wir essen nun schon immer morgens Kartoffeln, in Wasser<br />

„gebraten“ und eine Stulle. Die alleine will nicht reichen bis Mittag. Mittags gibt es<br />

Pellkartoffeln mit Salz oder Kartoffelsuppe, Wrucken und Kartoffeln, Salzdorsch in<br />

Milch, den haben die Russen genug, aber es ist doch alles ohne Fett. Wir packen uns<br />

immer so voll, aber lange hält es alles nicht vor. Abends haben wir ja die Magermilch<br />

mit Grütze oder Klimpern und Pell- oder Bratkartoffeln. Doch nun genug davon.<br />

Wie geht es Euch allen dort, sind alle gesund? Das sind wir ja, Gott sei Dank, noch<br />

immer!<br />

Nun liebe Erika siehst Du Deinem 19. Geburtstag entgegen. Ich sende Dir meine allerherzlichsten<br />

Glück- und Segenswünsche und wünsche Dir Erfüllung alles <strong>des</strong>sen, was<br />

Du Dir ersehnst. Als Geburtstagsgeschenk liegt mein Foto anbei. Kennst Du den Pullover<br />

eigentlich schon, den ich darauf anhabe? Es ist mein einziges Stück, ich strickte ihn<br />

mir noch im Frühjahr 1945, er wurde gerade Anfang März fertig, in vielen Fliegeralarmstunden.<br />

Ich habe es mir endlich geleistet, mich knipsen zu lassen. Schick doch<br />

bitte von Dir auch ein Foto, es wird schon ankommen, die Briefe werden ja nicht geöffnet.<br />

Nicht mehr lange, und ich werde schon 21 Jahre alt. Als wir uns das letzte mal sahen,<br />

war ich 18 Jahre. Die Jugendjahre sollen doch eigentlich die schönsten <strong>des</strong> Lebens<br />

sein – warum nicht für uns?<br />

Nun viele herzliche Grüße allen, besonders Euch beiden und Omi, Eure Anita.<br />

Meine liebe Erika!<br />

Zu Deinem 19. Geburtstag gratuliere ich recht herzlich und wünsche Dir die beste Gesundheit<br />

und die Erfüllung all´ Deiner Wünsche.<br />

Auch dieses Mal ist es uns nicht vergönnt, Deinen Ehrentag zusammen zu verleben. Wie<br />

schwer es mir fällt, brauche ich wohl nicht zu sagen. Hoffentlich erreicht Dich dieser<br />

Brief zur rechten Zeit. Warum schreibst Du bloß so wenig? Es sieht augenblicklich für<br />

uns so traurig aus, dazu von Euch noch keine Post seit 2 Monaten. Erika, ich mache mir<br />

soviel Sorgen, dass ich solange von Euch getrennt bin. Nun kannst Du auch nicht weiter<br />

lernen, wirst Du es noch nachholen können? - Wir haben doch so viel versucht, aber<br />

alles ist uns fehlgeschlagen.<br />

Lieber Karl, bald ist auch mein Geburtstag, schon der zweite ohne Dich. Hoffentlich<br />

bekomme ich wenigsten Post von Euch. Unser Geld ist schon alle bis auf 50 Zloty. Vielleicht<br />

kriege ich die Uhr verkauft, heute unsere letzte Rettung. Ich habe 2 kleine Brote im<br />

Ofen gebacken, gekauft kriegt man nichts mehr. Wir essen alle Tage eine Stulle.<br />

Hoffentlich hört mal die Kälte auf, schon 3 Wochen so 20 bis 25 Grad minus. Wasser<br />

holen wir bei der Molkerei, die Stadt hat alles abgestellt wegen Rohrbruchgefahr, heute<br />

früh hatten wir in der Küche schon Rohrbruch.<br />

Erika, grüße bitte alle Gratulanten herzlich, besonders Oma. Was ich noch sagen möchte,<br />

geht alles nicht so zu schreiben, das erzählen wir uns alles. –<br />

Dich, mein liebes Geburtstagskind, küsse ich viel tausendmal, ich sende Euch beiden<br />

viele herzliche Grüße, Eure Mutti.<br />

Auf baldiges gesun<strong>des</strong> Wiedersehen!<br />

53


Rügenwalde, den 13.3.1947<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Euren langersehnten Brief erhielt ich erst am 5.3., also sehr verspätet mit Eurer Geburtstagsgratulation.<br />

Am 21.2. erhielt ich von Lotte einen Brief und am 1.3. einen von<br />

Mutter und Lisbeth, das war alles, was sich zu meinem Geburtstag bewegt hat. Es war<br />

ein stumpfer, freudloser Tag und war ich froh, dass wir wenigstens trocken Brot hatten.<br />

Die Brotknappheit dauert noch an, und es gibt für Deutsche keins zu kaufen. Trotzdem<br />

haben wir noch immer was gehabt. Paarmal hat Arwin uns eins geholt, einmal hat eine<br />

Polin uns eins aus Stolp gebracht. Sonnabend bekam ich eins von Walli, der Russin und<br />

am Montag zwei fürs Nähen von Katja. Wilhelms Freund Gerhard Maaß aus Palzwitz<br />

brachte uns einen halben Zentner Kartoffeln und ein Landbrot. Da haben wir uns sehr<br />

gefreut. 1 Zentner Kartoffeln kostet schon 300 Zloty, unsere sind gleich wieder alle.<br />

Meine schöne Wanduhr habe ich damals verkauft für 1.500 Zloty, mehr konnte ich nicht<br />

bekommen. Es kommen täglich Polen, die etwas kaufen wollen, aber man hat ja bald<br />

nichts mehr – und muss dann auch noch vorsichtig sein. Für 2 Querbehänge Gardinen,<br />

die ich eigentlich mitbringen wollte, bekam ich 200 Zloty. Gut bezahlt werden Betten<br />

und Bettwäsche, die ich nicht mehr besitze.<br />

Diese Woche musste nun auch Heinrich Lehmann aus Nünkes Haus heraus, wohnt nun<br />

oben bei Dubberkes. Er ist auch so allerhand losgeworden, Betten und Bettwäsche. Jetzt<br />

wohnt da einer von der Miliz. Diese Tage nähe ich für die Polin 4 Unterröcke auf Frau<br />

Dubberkes Nähmaschine. Dubberkes sind in Schivelbein im Lager. Sie sind durch einen<br />

To<strong>des</strong>fall nicht mehr ins Reich gekommen und aus Frauendorf zurückgeschickt worden.<br />

Nun noch etwas anderes: Mit der Brotknappheit zugleich kam das Aufgreifen zur Arbeit.<br />

Alle, die nach Brot anstanden, wurden zur Arbeit mitgenommen, auch aus den Häusern<br />

geholt, auch in unserer Straße. Bei uns war viermal die Miliz, und eines Sonntag morgens<br />

musste auch Wilhelm mit zum Arbeiten. Seitdem nun alle Tage, auch sonntags, sie<br />

hacken Eis auf der Wipper. Bis jetzt haben sie noch nichts dafür bekommen, außer täglich<br />

1 Brot für 30 Zloty (Geld war mitzubringen.)<br />

Anita hat sich nun auch Arbeit gesucht, arbeitet in der Landwirtschaft bei Trabandt, das<br />

ist russisch. Die erste Arbeit am Montag war Mist laden. Den zweiten Tag hat sie ein<br />

paar Stiefel bekommen, so aus Wachstuch – Kolchosbecher. Gestern hat sie schon Verpflegung<br />

bekommen, 3 ¼ Brote, ½ Pfund Zucker, etwas Fleisch, Salz, 2 Pfund Weizenmehl<br />

und 9 Kilo Kartoffeln. Das ist ganz schön. Das rechnet für eine Dekade. Nun<br />

braucht sie doch zu Hause keine Angst auszustehen. Morgens um 7 muss sie da sein, von<br />

11 bis 13 Uhr Mittag, dann um 17 Uhr Schluss; Wilhelm von 8 bis 12 Uhr und von 13<br />

bis 16 Uhr. Für Wilhelm haben wir auch Stiefel bekommen von einem Jungen für 80<br />

Zloty, nun hat er doch auch etwas auf den Füßen. Das ist schwere Arbeit, die ersten<br />

Tage klagte er so. Hoffentlich lässt einmal die Kälte nach. Die Wipper läuft heute schon,<br />

große Eisschollen türmen sich auf. Die Ostsee soll auch sehr weit zugefroren sein, wie<br />

damals. – Morgen sollen viele zur Münde zum Eishacken.<br />

Lieselotte Bahr geht auch mit Anita zu Trabandt. Ich hab nun viel Arbeit und komme<br />

sehr wenig zum Nähen, muss alle Tage Holz suchen und hacken. Wilhelm holte immer<br />

schönes Holz vom Suckow´schen Moor. Auch Anita war das letzte mal dort, aber nun hat<br />

keiner Zeit. Die Russen bekommen Holz gehackt geliefert, aber das ist alles grün und<br />

muss erst getrocknet werden. In der Bismarckstraße ist die Molkereischeune eingestürzt.<br />

Da haben die Leute Balken ausgesägt zum Brennholz. Ja, der Winter dauert zu lange.<br />

Du wirst auch viel frieren, Karl, bei Deinem Holzfahren.<br />

54


Wie werden nun die Friedensverhandlungen für uns ausfallen? Davon hängt ja nun<br />

unser Schicksal ab. Ihr habt Radio, ihr werdet alles früher erfahren als wir. Wir sehen<br />

mit Bangen unserem Endziel entgegen, wir werden noch viel durchzuhalten haben.<br />

Du hast Klavierstunden Erika, das ist schön, sieh mal an.<br />

Unser Wiedersehen verschiebt sich immer wieder, wie lange wird es noch dauern? Wenn<br />

wir doch einmal wüssten, woran wir sind.<br />

Innige Grüße und viele Küsse, Eure Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

„Ihr sollt keine kleinen Hitler mehr kriegen“<br />

Rügenwalde, den 13.03.1947<br />

Lieber Papa, liebe Erika!<br />

Ich komme eben von der Arbeit und meine Finger sind noch sehr steif. Die Feder will<br />

gar nicht recht mit. Wir haben heute den ganzen Tag in Geißens Speicher im Hafen Säcke<br />

mit Kleie, Schrot und Futtermehl sortiert und gestapelt. Immer 2 Mädchen 40- und<br />

50-Kilo-Säcke und 3 zusammen 75-Kilo-Säcke hochgeworfen, das war ganz schön<br />

schwer. 200 Säcke sind heute fertig, wenn nicht mehr, mit 4 Mädchen, das hat schön<br />

geschafft. Morgen geht’s wohl weiter. Früher hast Du mit so was zu tun gehabt, nicht<br />

Papa? Ja, ich kann nachher bei Dir als Kutscher anfangen, so ziemlich fahren kann ich<br />

auch.<br />

Der eine Wachposten gab uns in gebrochenem Deutsch zu verstehen, wir müssten so<br />

schwer arbeiten, dass wir keine kleinen Hitlers mehr kriegen können. Wir haben sogar<br />

Angst und Ekel vor Ratten verloren, denn bei den großen Säcken sind wir froh, wenn<br />

etwas von dem schweren Gewicht aus den Löchern rieselt. Lieber kehren wir es danach<br />

zusammen und sacken es frisch ein. Es ist schon verdammt hart für uns, aber es wird<br />

schon alles werden.<br />

Vielleicht kriege ich irgendwann auch mal wieder bei einer Sparkasse Arbeit, aber<br />

nichts Genaues weiß man nicht. –<br />

Schluss für heute, recht herzliche Grüße Euch allen dort, besonders Euch beiden und<br />

Omi, Eure Anita.<br />

Rügenwalde, den 29.3.1947<br />

Lieber Papa, liebe Eka!<br />

Euren Brief haben wir mit großer Freude erhalten. Heute verlebe ich meinen 16. Geburtstag<br />

hier in Rügenwalde. Mir ist so, als wenn ich gar nicht Geburtstag hätte. Ich hab<br />

von Mutti 100 Zloty bekommen, von dem Geld, was ich verdient habe. Ich arbeite jetzt<br />

bei der Maschinenfabrik Paul Otto. Am 2. März holte mich die Miliz aus dem Bett, und<br />

da musste ich mit zum Eiskloppen auf der Wipper. Bei der Krankenhausbrücke fingen<br />

wir an, bis zu uns haben wir mit Hammer und Meißel Stück für Stück abgekloppt. Der<br />

Hammer wog 20 Pfund, den ich hatte. Der Meißel war von einer Wagenachse gemacht.<br />

Als wir bei uns waren, gab es Hochwasser. Da mussten wir auf der Münde anfangen. Als<br />

wir bis zum Saarweiher waren, wurde vom Saarweiher bis zum Hafen gesprengt. Dann<br />

machten die Polen die Schleusen auf , und da brach alles kaputt. Jetzt ist die Wipper<br />

frei. Das Wasser war bis an die Münder Straße. Als wir mit dem Eis fertig waren, mussten<br />

wir alle zur Fabrik, jetzt arbeiten wir da. Dort mussten wir alle Tage nach Böbbelin<br />

mit einem Ziehwagen hinter dem Schießplatz Maschendraht holen für einen Zaun bei der<br />

Fabrik. Vor einer Woche bekamen wir Geld, auf 15 Tage 500 Zloty. Nun lieber Papa,<br />

was machen Deine Pferde? Wenn ich bloß erst da wäre. Und eine Ziege habt Ihr auch<br />

schon und 2 Kaninchen. Wie sieht die Ziege aus, weiß oder gelb, oder ist das ein Gebirgsrentier?<br />

Streng Dich man nicht so sehr an, Papa, denn jetzt kann ich schon mehr<br />

55


arbeiten. Und liebe Erika, wie geht es Dir so? Ich will nun schließen, ich will schlafen<br />

gehen. Für das Geld von Mutti hab ich mir ein Stück Kuchen, ein paar Brötchen und 10<br />

Zigaretten gekauft. Mutti sitzt und liest, Anita ist mit Lilo zum Tanz ins Gemeindehaus.<br />

Einen schönen Gruß an Euch beide und an alle anderen, Euer Wilhelm.<br />

P.S. Unser Jung war sehr gerührt, Papa, über Deinen lieben Brief. –<br />

Rügenwalde, den 30.3.1947<br />

Mein lieber Karl und liebe Erika!<br />

Euer Brief kam schon Sonntag hier an, also schon vor 8 Tagen. Habt vielen Dank für<br />

Eure so lieben Zeilen, wir haben uns wieder sehr gefreut. Ja, nun sind wir über beide<br />

Geburtstage hinweg und wollen hoffen, die nächsten beiden zusammen zu feiern. Ich<br />

muss staunen, was Ihr alles so für Kuchen hattet. Wie schade, dass wir davon nichts<br />

abgekriegt haben. Man weiß gar nicht mehr, wie Kuchen schmeckt. Das ist schön, Eka,<br />

nun verstehst Du doch auch zu wirtschaften und kannst so schönen Kuchen backen.<br />

Auch hast Du noch so allerlei Kleinigkeiten bekommen. Schade, dass Oma so krank ist.<br />

Ich bin noch nicht zum Schreiben gekommen, hab dadurch dass die Kinder arbeiten<br />

auch mehr Arbeit, dreimal Mittag kochen. Unser Holz ist auch alle. Gestern habe ich<br />

einen Zentner schöne Kartoffeln gekauft für 250 Zloty. Freitag hatte ich große Wäsche,<br />

all meine Lumpen noch mal ausgewaschen, wir schlafen nun ohne Bezüge.<br />

Auch ich denke Tag und Nacht an Euch, und es will mir nicht in den Sinn, warum wir<br />

bloß solange hier festgehalten werden.<br />

Lieber Karl, dafür kannst du ja auch nichts, dass Du nicht zu uns konntest. Einmal wird<br />

doch die Zeit kommen, wo wir abfahren können. Es wird jetzt wieder lebhaft davon gesprochen.<br />

Wenn man dann wieder froh ist, dass man so was hört, kommt eine halbe<br />

Stunde später bestimmt einer, der das Gegenteil behauptet, es ist einfach zum Verrücktwerden.<br />

Doch seht, es sind noch so viele hier, die dasselbe Schicksal tragen, mit denen<br />

muss man sich trösten und weiter hoffen. Es wird wieder von Ostern gemunkelt, aber<br />

wer weiß.- Etwas besser geht es uns, weil die Kinder arbeiten. Aber Anita hat es sehr<br />

schwer, heute den ganzen Sonntag Steine (Findlinge – Feldsteine) karren. Sie kann Euch<br />

nachher schreiben. Wilhelm hat frei.<br />

Heute Mittag hatten wir mal Klops, Anitas Zuteilung. Es werden auch wieder in der<br />

Fischfabrik Leute eingestellt, aber die lassen dann keinen mit raus wenn der Transport<br />

losgeht.<br />

Auch Schuhe hast Du für Wilhelm, darüber freut er sich sehr. Ich habe meine blauen<br />

noch, aber Anita hat auch schlechte. Na das wird schon alles werden, wenn wir nur erst<br />

da sind. –<br />

Hier ist es immer noch recht kalt, und die Sonne will gar nicht recht scheinen. Ich kann<br />

auch bald nicht mehr heizen, na, meistens bin ich ja unten. Gesundheitlich geht es uns<br />

allen gut. Anita und Wilhelm haben abgenommen seit sie so schwer arbeiten. Ich bin<br />

auch schlank und fühle mich recht wohl dabei. Einen Fehler haben wir alle, dass wir so<br />

oft Hunger haben. Zum Abendbrot gibt es Pellkartoffeln, Walli hat mir heute keine Milch<br />

gegeben.<br />

Frau Bahr war hier, sie will mir auf paar Tage ihre Nähmaschine geben, sie muss eventuell<br />

umziehen, weil das Kreftsche Haus polnisch wird. Zur Münde sind wieder viele<br />

Russen gekommen, aus Sachsen, ein ganzer Polk, weiß nicht wie viele es sind. Ganze<br />

Familien sollen auch dabei sein.<br />

Lieber Karl, wenn Du nicht so oft schreiben kannst, lass Eka öfter schreiben, dann ist es<br />

auch gut. Rege Dich nicht unnütz auf, wir sind so froh, dass Du alles überstanden hast<br />

56


und wieder zurückgekommen bist. Wenn wir nur erst wieder zusammen sein können,<br />

dann ist alles vergessen. Wir werden hier auch schon noch durchkommen, es wird immer<br />

wieder Rat.<br />

Paul Miels ist sehr krank gewesen, er hat viele Geschwüre. Der Arzt sagt, unterernährt.<br />

Er wird sich wohl mal Kartoffeln bei Dir holen. Fritz Aschendorff ist noch nicht zurück,<br />

seine Frau und Tochter wohnen bei Stefan, dem Russen, der das bei Trabandt leitet. Die<br />

Tochter ist 16 Jahre, schon 2 Jahre als Stefans „Frau“. Aschendorff ist auch verschleppt<br />

und soll in Moskau arbeiten, hat der Stefan ausgekundschaftet.<br />

So was könnt Ihr hier viel erleben, aber ich sag immer, lieber arbeiten und das trocken<br />

Brot in Ehren essen als Russenliebchen sein. Der Meinung ist Anita auch. Bei Maria<br />

Kreft kommt nächsten Monat noch ein Russenbaby. Nun genug davon, es ist Zeit zum<br />

Abendbrot. Eben kam Anita, morgen muss sie schon zu 6 Uhr hin.<br />

Alles Gute bis wir uns endlich wiedersehen, es grüßt und küsst Euch herzlichst Eure<br />

Mutti.<br />

Viele Grüße allen dort, wünsche Euch frohe, gesunde Osterfeiertage. Anita ist so müde<br />

und kann nicht schreiben. Viele Grüße.<br />

Heute am 3. schicke ich erst den Brief ab. Wilhelm hat Geld gebracht, 460 Zloty, Anita<br />

bekam gestern Verpflegung. Ich bekam ein Brot von unten und 2 Dorsche von Frau Bahr<br />

geschenkt. So geht es uns doch gut, viele Grüße, Erna.<br />

Rügenwalde, den 30.3.1947<br />

Meine geliebte Mutter!<br />

Deinen lieben Geburtstagsbrief erhielt ich am 1.3. .Vielen Dank für die Glückwünsche.<br />

Gleich nach meinem Geburtstag wurde ich krank und musste 1 ½ Tage das Bett hüten.<br />

Aber es war nur Erkältung und ging bald vorbei. Wie ich nun hörte, hast Du längere<br />

Zeit im Bett gelegen, was ja nicht erfreulich ist. Halte Dich nur tapfer, Mutter. Ich freue<br />

mich doch so auf Wiedersehen! Wir haben doch so viel zu erzählen und uns so lange<br />

nicht gesehen. Inzwischen hat die große Kälte nachgelassen, und angenehmes Reisewetter<br />

steht uns bevor, wenn es nur erst so weit wäre. Weißt Du, liebe Mutter, ich bin jetzt<br />

so weit, dass ich auf den ganzen Plunder bald verzichte und mit leeren Händen lieber<br />

heut als morgen fahren möchte. Je länger es hier dauert, <strong>des</strong>to weniger wird es sowieso.<br />

Ist mir doch wieder mein neuer Eimer aus der Küche weggekommen, ich hatte ihn schon<br />

eingepackt und musste ihn zum Wasserholen wieder auspacken. Dies ist schon der dritte,<br />

der weg ist. Wir haben schon alles oben im Zimmer. Es wird nun wieder viel vom Evakuieren<br />

gesprochen, wollen das Beste hoffen. Es sind ja auch noch so viele Frauen und<br />

Kinder hier, die ihre Männer drüben haben. Man sieht auch, dass die Familien, deren<br />

Männer hier sind, noch anders leben können wie wir. Denn ein Mann besorgt überall<br />

was.<br />

Anita muss sehr schwer arbeiten. 6 Tage war sie in Köslin mit zum Kühe treiben und da<br />

füttern bis alle geschlachtet waren. Von hier zu Fuß mit den Kühen nach Köslin! Heute<br />

muss sie den ganzen Sonntag wieder arbeiten. Aber zu den Polen wollte sie nicht, und<br />

russische Betriebe sind nicht mehr viele hier. Sie geht trotzdem tapfer hin, die Verpflegung<br />

ist ganz gut. Wilhelm ist nun 16 und ein großer Kerl geworden, der ganze Papa. Er<br />

hat auch sehr abgenommen bei seiner Arbeit. Gesundheitlich geht es uns allen so weit<br />

gut. Auch zu essen findet sich immer wieder was. Die einzige Sorge ist, dass wir nicht zu<br />

Euch fahren können. Die nach dem 8. Dezember nach Köslin ins Lager gegangen sind,<br />

liegen noch in Köslin, dann ist der letzte Transport gegangen.<br />

57


In der Hoffnung, dass wir uns bald wiedersehen, grüßen und küssen wir Dich recht herzlich,<br />

Deine Erna, Anita und Wilhelm. Wir wünschen Dir gute Besserung.<br />

Lieber Ratten ertragen als eine Vergewaltigung<br />

Rügenwalde, den 13.4.1947<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Eka!<br />

Heute ist schon der 13. April, und ich sitze noch in Rügenwalde. Wie werdet Ihr alle<br />

Tage hoffen, dass wir bald dort sind! Heute war solch herrliches Wetter, und ich war<br />

zum ersten mal zum Friedhof seit 2 Jahren. Ich bin mit Frau Bahr hintenrum die Bogislavstraße<br />

gegangen, denn es war wieder dicke Luft. Es sind viele aufgegriffen worden<br />

zur Arbeit in der Fischfabrik. Es waren 800 Zentner Fische zu verarbeiten.<br />

Erst mal vielen Dank, liebe Erika, für Deinen Brief vom 27. März. Du hast an dem Sonntag<br />

geschrieben, als Euer voriger dicker Brief ankam. Die Freude ist immer sehr groß, 2<br />

Briefe von mir sind noch unterwegs, den letzten konnte ich nicht früher abschicken, weil<br />

das Geld alle war. Ich habe dieser Tage noch die elektrische Platte verkauft an eine<br />

Fischerfrau für 200 Zloty und paarmal Dorsch. Wir essen alle Tage Fisch, der Dorsch<br />

ist ganz prima, das Kilo 10 Zloty. Anita bekommt außerdem noch von einer Lebaer<br />

Frau, - die wohnt im Zollamt am Hafen und sieht die Mädels immer schuften - umsonst<br />

Fische und Dorschleber. Ich habe ihr heute Sellerie, Porree und Mohrrüben mitgeschickt,<br />

das fehlt der wieder. Davon habe ich in meiner Russenküche immer reichlich.<br />

Brot ist knapp, aber morgen bekommt Anita wieder Verpflegung. Wilhelm muss morgen<br />

wieder nach Seebuckow, sie sollen die ganze Woche dort arbeiten und werden verpflegt.<br />

Anita war wieder einen Tag lang krank an ihrer Gallengeschichte. Man hoffte immer,<br />

dass sie im Reich mal in ärztliche Behandlung käme, denn hier kann man es nicht möglich<br />

machen. Wilhelm hat immer Zahnschmerzen, seine Vorderzähne stocken. Ja, Erika,<br />

wenn ich dort wäre, würde ich sogar zum Zahnarzt mitgehen, meine Zähne sind bald<br />

alle raus. Hier kostet so was in die Tausende Zloty, unmöglich. In den einen Brief hatte<br />

ich wieder 60 Mark von Frau Miels eingelegt. Wenn Ihr könnt, dann schickt lieber jetzt<br />

noch was an ihn, denn wenn wir drei Hungrigen erst da sind, dann haben wir bestimmt<br />

kein Brot mehr übrig. Wilhelm kann sehr essen. Transporte gehen noch nicht, in Köslin<br />

und Schivelbein liegen noch immer die Menschen im Lager. So kann es auch hier nicht<br />

weitergehen, keiner hat mehr was zu verkaufen. Ich war paarmal morgens anstehen<br />

nach Brot, von halb 6 bis halb 8 Uhr, und musste dann ohne Brot nach Hause. Walli hat<br />

mir dann ein Brot gegeben.<br />

Heute haben die Russen Ostern. Anita und Lilo waren mit Katja zur Münde. Frau Bahr<br />

ist ins Zollhaus gezogen und wohnt jetzt in Pahnkes Wohnung, 1 Zimmer ohne Küche.<br />

Alle, die in der Fischfabrik arbeiten, müssen ins St. Jürgen –Heim und in das große<br />

Papenfuß´sche Haus. Es ist ein Gewühle unter den Menschen, das bestimmt alles der<br />

Russe. Wer weiß, wie lange wir noch hier wohnen. In unser Schlafzimmer ist eine Russin<br />

eingezogen mit einer Clubgarnitur. Ich war paarmal da nähen, die Schneiderin wohnt<br />

noch da.<br />

Meine Lieben, seid nun vieltausendmal geküsst und gegrüßt von Mutti, Anita und Wilhelm.<br />

Auf Wiedersehen!<br />

P.S. Wilhelm ist nicht nach Seebuckow. Er musste mit Arwin mit dem Boot 1 Zentner<br />

Dorsche holen, auch für uns welche. Anita arbeitet nun bei Gumz im Garten, das gehört<br />

zu Trabandts Wirtschaft, das ist nicht so schwer, heute muss sie graben. Gruß Mutti.<br />

An dieser Stelle will ich noch berichten, was ich alles an Arbeiten in der russischen<br />

Landwirtschaft zu erledigen hatte.<br />

58


Außer dem Viehtransport nach Köslin, der ca. 50 Kilometer zu Fuß vor sich ging, gab es<br />

noch viele „Verladearbeiten“. Darin deutete sich an, dass so nach und nach dem Polen<br />

alles übergeben wurde, und dass man alles, was irgend ging, vorher in die Sowjetunion<br />

auf den Weg brachte.<br />

Wochenlang steckten wir in den großen Sauerfuttersilos und mussten sie leer fahren.<br />

Wer das schon einmal gemacht hat, weiß, dass sich der Gestank in den Kleidungsstücken<br />

und überall festsetzt. Wir hatten ja immer dieselben Steppkittel und Kolchosbecher an,<br />

man ekelte sich schon, etwas zu essen, der Gestank war überall gegenwärtig. Zum Viehtransport<br />

ist noch anzufügen, dass wir oberhalb der Stallungen in ehemaligen Kornspeichern<br />

untergebracht wurden. Da wimmelte es nur so von Ratten, wir mussten uns förmlich<br />

dagegen wehren. Man konnte sich nicht hinlegen zur Nacht, die Ratten liefen einem<br />

über das Gesicht. Unten bei den Kühen warteten die russischen Wachposten nur darauf,<br />

dass wir aufgaben und herunter kamen. Aber lieber oben die Ratten ertragen. als unten<br />

von den Wachposten vergewaltigt zu werden. Die 6 Tage waren entsetzlich.<br />

Zurückgekehrt, ging es wieder in den Hafen. Da wurden Viehwaggons für den Viehtransport<br />

vorbereitet. Wir mussten vom Schlachthof große Tonnen voll Wasser schleppen<br />

in großen Eimern bis wir dachten, es zieht uns die Arme raus. Dann mussten wir die<br />

umgestapelten Futtermittelsäcke in die Waggons schleppen. Das reichte, um abends nur<br />

noch ins Bett zu sinken.<br />

Anschließend die Gartenarbeit in der Gärtnerei war wie ein Ausruhen, obwohl auch<br />

beim Graben immer das „Dawai!“ ertönte. Ich ziehe heute noch beim Gartengraben das<br />

Tempo an.<br />

Doch nun wieder zu den Briefen, und hier gibt es eine bemerkenswerte postalische Besonderheit.<br />

Der nachstehend abgebildete Poststempel vom 16.2.1947 weist als Ortsnamen<br />

„Derlow“ auf, während der ein Vierteljahr später abgesandte Brief im Poststempel<br />

den Ortsnamen „Darlowo“ zeigt. Also waren sich die Polen über die Namensgebung<br />

auch nicht ganz einig. Der Name Darlowo gilt heute noch, und der Ortsteil Rügenwalde<br />

– Bad oder ortsüblich „ die Münde“ genannt, bekam den Namen Darlowko.<br />

Diese Poststempel haben sicher einen historischen Wert.<br />

Rügenwalde, 1.5.1947<br />

Mein lieber Karl, meine liebe Erika!<br />

Gestern kam endlich mal wieder Eurer Brieflein angeflattert. Dankeschön Eka, ich hatte<br />

auch schon so gewartet. Ich wollte eigentlich auch eher schreiben, aber ich wartete nun<br />

erst Euren Brief ab. Sonntag hatte ich keine Zeit, denn ich habe Saft gekocht für die<br />

Russen, davon durfte ich die Hälfte behalten. Von ungefähr ½ Zentner Schnitzel. Montag<br />

habe ich dasselbe noch einmal gepresst und gekocht. So machen es alle. Wir haben nun<br />

ein ganz Teil Saft bekommen, und nun fehlt es wieder am Brot. Heute hat Anita Verpflegung<br />

bekommen: 3 ¼ Brot. Aber das braucht sie auch in 10 Tagen. Ich habe von der<br />

Polin nebenan 3 mal 1 Brot bekommen fürs Nähen, und morgen will ich den kleinen<br />

Mantel fertig machen, hellblauer Wollstoff mit weiß und Mützchen dazu für die kleine<br />

Halinka. Dann soll ich ihr noch 3 Kleider und 1 Unterrock nähen. Dafür kriege ich auch<br />

wieder Brot. Das muss man alles mitnehmen, zu kaufen gibt es nichts. Ich war nochmal<br />

wieder 2 Stunden anstehen, aber ohne Erfolg. Wilhelm hat nun eine andere Stelle bei<br />

einem polnischen Landwirt auf Max Aschendorfs Wirtschaft. Für seine letzte Arbeit hat<br />

er auf die letzten 14 Tage kein Geld bekommen, auch kriegen sie kein Brot mehr. Dazu<br />

alle Tage bald nach Seebuckow. Dann kam er mit großem Hunger nach Hause. Hier<br />

kriegt er nun doch volle Verpflegung. Er hat 2 große Pferde, muss damit auch ackern.<br />

Es gefällt ihm gut. Um 6 muss er morgens da sein, und abends kommt er auch spät nach<br />

Hause. Aber er ist doch satt. Ob er noch Geld kriegt, wissen wir nicht. Das ist nach Be-<br />

59


lieben. Da ist noch ein Junge, der hat auch 2 Pferde. Sie essen alle an einem Tisch. Heute<br />

am 1. Mai hat er frei, bloß Pferde füttern und essen. Auch Anita hat frei. Heute Abend<br />

sind sie beide tanzen, aber jeder für sich. Aber Wilhelm guckt ja bloß zu. Ich hatte heute<br />

viel zu kochen: Pudding, Grießpudding, Quarkkuchen in der Pfanne gebacken und<br />

Borschtschsuppe, alles zu Mittag. Für Anita und mich habe ich nichts gekocht. Wir haben<br />

uns so nebenbei satt geleckt. War mal ganz schön. Hier ist schon über eine Woche<br />

Sturm, und es gab keinen Dorsch. Aber nun ist es still und es regnet. Morgen werden die<br />

Kutter hoffentlich rausfahren, dann holt Anita wieder was. Nun meine Lieben zu Eurem<br />

Brief. Hier ist augenblicklich eine spannende Stimmung, und alles hofft und wartet auf<br />

die Evakuierung. Es soll ein Transport Polen eintreffen, und es sind schon viele Wohnungen<br />

dazu beschlagnahmt. Gestern waren sie in unserer Straße, aber nicht in allen<br />

Häusern. Es kommen täglich welche mit Hab und Gut und Vieh an, die der Russe vom<br />

Bug vertrieben hat. Diese gehen aber alle erst aufs Land. Vor 8 Tagen ist ein Transport<br />

von <strong>Schlawe</strong> abgegangen mit den Dörfern Järshagen, Rötzenhagen. Bis zum 15. Mai soll<br />

auch Schlawin aufgelöst werden, die Leute verkaufen schon alles. Viele holen sich da<br />

Kartoffeln. Vielleicht zieht Anita auch mal hin mit dem Ziehwagen, Else Barske will mit.<br />

Wer weiß, wann nun Derlow mal wieder dran ist zum Evakuieren. Hoffentlich dauert es<br />

nicht solange. Aus Köslin sollen auch schon 2 Transporte gegangen sein. Auch Dubberkes<br />

sind aus Schievelbein raus. Heute hatten die Polen großen Umzug. Im Schaufenster<br />

ist eine Landkarte ausgestellt mit den neuen Grenzen bis zur Oder polnisch. Na, denn<br />

werden sie uns ja rausschicken. Boddeutschens haben es geschafft. Mir haben sie sehr<br />

gefehlt die erste Zeit. Sie waren täglich bei uns, und doch durften wir nicht mit. Nun sind<br />

schon wieder 4 Monate vergangen. Ob ich es noch bis Papas Geburtstag schaffe Eka, es<br />

müsste einmal ein Wunder geschehen. Ich hoffe doch, dass ich Euch diesen Sommer<br />

helfen kann, denn die Kocherei hier geht mir schon bis zum Halse. Also Papa, Du hast<br />

wieder Reißen? Tannenzapfen in Brennspiritus legen. Gibt es den denn da? Ich hab<br />

solchen Husten und Schnupfen vom Saftkochen. Hoffentlich hilft das, was Du vom Arzt<br />

hast. Frau Miels freut sich wieder, dass ihr Mann Brot kriegt. Sie hat jede Woche einen<br />

Brief von ihm. War nachmittags hier bei uns. Ich hab Strümpfe gestopft und heute mal<br />

geheizt, es war so kalt. Muss noch an Tante Lotte schreiben, sie hat ja Geburtstag.<br />

Bald ist auch unser Hochzeitstag Karl. Es ist im Leben hässlich eingerichtet, dass an<br />

den Rosen gleich die Dornen stehn, doch soll uns alles darum nicht erschüttern, wir<br />

werden uns doch einmal wiedersehn. Also Glück auf zum Zweiundzwanzigsten.<br />

Eben kommt Wilhelm nach Hause. Ich will nun schließen, bleibt schön gesund, grüßt<br />

Oma recht schön. Schreibt bald wieder. In der großen Hoffnung, dass wir uns bald wiedersehen,<br />

die innigsten Grüße und Küsse von uns Dreien, Eure Mutti.<br />

Vom Schweinestall in einen Russenhaushalt<br />

60<br />

Rügenwalde, den 18.5.1947<br />

Mein lieber Karl, meine liebe Erika!<br />

Heute am schönen Maien-Sonntag will ich mit Euch plaudern. Mir ist so wehmütig ums<br />

Herze, alles grünt und blüht, und man darf sich nicht mit der Natur freuen. Es ist so<br />

Wirklichkeit geworden, an Deinem Geburtstag bin ich noch nicht bei Dir, so wie ich es<br />

geahnt hatte. Wieder ist eine schwere Woche hinter uns voll Sorge und Angst. Aber heute<br />

ist alles überwunden. Anita hat ihre Stelle gewechselt, und wir haben viel Unannehmlichkeiten<br />

dadurch gehabt. Gottlob ist alles glücklich verlaufen. Der Grund war nämlich,<br />

sie wurde zum Schweinestall abkommandiert, weil Deutsche gehetzt hatten von<br />

wegen BDM.


Wir hörten auch, dass die Arbeiter von Trabandt solange bleiben müssen wie die Wirtschaft<br />

hier besteht und daher nicht evakuiert werden. Es gab wieder neue Dokumente,<br />

die nach Warschau geschickt wurden, da ist Anita mit Hängen und Würgen frei gekommen.<br />

Sie hat ganz energisch mit dem Kommandanten verhandelt, der drohte uns mit der<br />

Miliz. Ich habe viel Angst ausgestanden, aber ich musste immer an Deinen Spruch denken:<br />

Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten! Ja, Karl, Deine Tochter ist so wie Du. Sie<br />

ist nun auf der Münde in einem russischen Haushalt mit 2 kleinen Kindern. Sie hat es<br />

sehr gut, die Frau ist glücklich, dass sie endlich eine Hilfe hat, die russisch versteht, die<br />

kann nämlich kein Wort deutsch. Der Mann ist Stabssergeant, die Kinder 6 Jahre und<br />

das kleinste 4 Monate alt. Das Essen ist fett und reichlich, alle Tage gibt es Eier. Abends<br />

bringt sie mir noch oft was mit, auch immer Brot. Ich bin nun ganz allein mit Walli.<br />

Wilhelm ist bloß abends noch mal zu Hause, weil ich Milchsuppe habe. Walli ist auch<br />

sehr gut zu mir, ich kann von ihrem Brot essen soviel ich will. Sie hat Überschuss von<br />

ihrer Verpflegung. Schrieb ich schon, dass Josek und Lydia nach Russland gefahren<br />

sind? Nun ist nur Walli noch hier.<br />

Wilhelm gefällt es auch gut auf seiner Stelle. Heute Nacht muss er ackern bei einem<br />

anderen Polen. Morgens gehen beide weg und kommen abends erst wieder. Ich hab noch<br />

soviel zu nähen und bekomme Brot, Eier und Kartoffeln. So meine Lieben werden wir<br />

sehr gut durchkommen, bis einst der glücklich ersehnte Tag der Befreiung kommen wird.<br />

Es ist seit dem Landtransport noch keiner wieder gegangen, wir warten und hoffen. Die<br />

letzten sollen in Sachsen gelandet sein. Ob es stimmt, dass in der russischen Zone auch<br />

keine mehr aufgenommen werden?<br />

Herr Miels hat geschrieben, dass er ein Brot von Euch bekommen hat. Ich kann ihr nun<br />

auch schon oft mit etwas aushelfen.<br />

Lilo Bahr arbeitet noch im Garten. Ihre Mutti war ganz entsetzt als sie erfuhr, dass sie<br />

bleiben müssen. Aber auf sie wartet ja keiner.<br />

Nun lieber Karl zur Hauptsache, zu Deinem 46. Geburtstag meine innigsten Glückwünsche.<br />

Möge Dir das neue Lebensjahr nur Gutes bringen und stets die beste Gesundheit.<br />

Es ist uns nicht vergönnt, an dem Tage bei Dir zu sein. Ob nun der Brief rechtzeitig ankommt,<br />

ist eine große Frage. Ich war nicht eher fähig zu schreiben. Entschuldige dann<br />

noch mal, gedacht habe ich alle Tage so viel an Euch. Von Anita soll ich gratulieren und<br />

grüßen und Dir sagen, dass es ihr gut geht, sie kommt erst morgen abend nach Hause.<br />

Wilhelm schreibt heute abend.<br />

Ich warte auch wieder auf Post von Euch, Eka, schreib doch an Mutti. Auch wenn wir<br />

schon abfahren und der Brief kommt erst hinterher an.<br />

Sonntag ist nun Pfingsten, was haben wir schon davon. Ich will sehen, ob ich es zu einem<br />

Kuchen bringe. Den Dachgarten habe ich fertig gemacht, ob ich was davon habe,<br />

ist mir ganz egal. Morgen kocht Else Barske Saft bei uns, danach Hans Wendt und Albrecht.<br />

Hier ist immer Hochbetrieb bei uns. Ernst Hoffmeister hat dazu unsere Wasserleitung<br />

und Licht heilgemacht, das ist sehr viel wert. Walter Barske will auch versuchen,<br />

dass er bei Trabandt wegkommt.<br />

Die Kartoffeln haben gestern 600 Zlotys gekostet, ich kann keine kaufen. 1 Brot kostet<br />

jetzt 100 Zloty, aber es gibt welches, weil das viele nicht bezahlen können.<br />

Nun will ich schließen. Seid Ihr beide vieltausendmal gegrüßt und geküsst von Eurer<br />

Mutti, Anita und Wilhelm. Grüßt bitte alle Verwandten herzlich.<br />

Im vorangegangenen Brief schrieb meine Mutter, dass ich auf der Münde in einem russischen<br />

Haushalt Arbeit hätte und erst am nächsten Abend nach Hause kommen konnte.<br />

Ich musste bei den zwei zum Haushalt gehörenden kleinen Kindern bleiben bis die Eltern<br />

spät in der Nacht von einer Feier zurückkamen. Im Nebenhaus wohnte Lilo Jütz mit<br />

61


ihrem Boris. Lilo hatte mir die Arbeit in dem Haushalt vermittelt. Mit ihr hatte ich abgesprochen,<br />

dass ich dort bei ihnen übernachten konnte. Schließlich war es zu gefährlich,<br />

noch in der Nacht bis in die Stadt nach Hause zu laufen.<br />

Lieber Papa und Erika!<br />

Wie geht es Euch eigentlich? Lieber Papa, ich gratuliere zum Geburtstag und wünsche<br />

Dir alles Gute. Ich muss jetzt alles machen, pflügen, eggen, krümmern, walzen. Gestern<br />

haben wir Zuckerbeeten gestippt, ich hab Rillen gezogen mit einer großen Harke aus<br />

Holz, ein Pony vor und ich musste rillen. Morgen fahren wir Dung, und dann muss ich<br />

pflügen und hinterm Pflug werden Kartoffeln gesetzt. Dann werden noch 3 Morgen mit<br />

Raps besät. Danach wird Langholz gefahren mit beiden Gespannen, 3 Wagen. Ich soll 2<br />

Wagen nehmen hinter den großen Pferden und der andere 1 Wagen. Das Holz holen wir<br />

aus dem Schlawiner Busch. Du siehst also, viel zu tun. Ich will aufhören, auf Wiedersehen<br />

und viele Grüße, Wilhelm.<br />

Rügenwalde, den 29.5.1947<br />

Ihr beiden Lieben!<br />

Vielen Dank für Euren lieben Brief vom 14. Mai. Ja, Ihr könnt wohl ruhig noch immer<br />

auf unsere Briefe antworten, bis jetzt rührt sich noch nichts vom Evakuieren. Ich glaube<br />

auch nichts mehr, jetzt brauchen sie die Deutschen zum Feld bestellen, nachher zur Ernte.<br />

Vielleicht wieder im Herbst oder wer weiß, wann endlich mit einem Transport zu<br />

rechnen ist. Ich hatte heute große Wäsche in „meinem“ russischen Haushalt auf der<br />

Münde. Das ist eine dämliche Arbeit, vor allen Dingen bloß mit Seife, kein Waschpulver<br />

und dann solche Drecksachen. Der Mann ist beim Autopark, Chauffeurklamotten. Aber<br />

sonst ist es niemals so schwer wie beim Trabandt. Da musste ich zuletzt für 100 Schweine<br />

Futter zurechtmachen und in großen Kübeln in den Stall schleppen, das war sehr<br />

schwer. Den Stall musste ich immer peinlich sauber halten, die Schweine lagen auf Rosten,<br />

und einmal die Woche musste ich alles weiß kalken. Die Frauen im Kuhstall hatten<br />

es noch viel schlimmer, die mussten nachts sogar Wache stehen, und es gleich entfernen,<br />

wenn mal eine Kuh was fallen ließ. Wenn sie das verpassten und eine Kuh war dreckig,<br />

gab es was mit der Reitpeitsche von Stefan, einem Rumänen, der führte ein strenges<br />

Regime und war hinter den Frauen her. Das und vor allen Dingen das Gerücht, dass<br />

alle, die in einer russischen Sowchose arbeiten, nicht rauskommen sollen, hat mich dazu<br />

bewogen, lieber in einen russischen Haushalt zu gehen – und gleich zur Münde, um weit<br />

weg zu sein.<br />

Das Risiko, aufgegriffen zu werden, musste ich eingehen. Ich hab mich auf Schleichwegen<br />

durch den Roederpark begeben, so schnell ich konnte. Das ist täglich meine Rennstrecke,<br />

manchmal auch am Wasser entlang, man gewöhnt sich daran.<br />

Ich hab auch gut und reichlich zu essen. Für Mutti bring ich auch noch mit, jeden Tag<br />

ein Stück Brot, oft auch Sauerkraut oder mal bisschen Fleisch. Ich muss Zimmer und<br />

Küche sauber halten, kochen, waschen, Ferkel füttern und den Kleinen versehen. Ich<br />

bringe mich aber nicht um. Ein sechsjähriges Mädelchen Rimka ist da und Wolodja, ein<br />

Junge von 4 Monaten. Alle Tage habe ich Windeln zu waschen. Der Junge will schon<br />

immer gehalten werden, der steht schon so krass. Sonst ist es bestimmt auszuhalten, ich<br />

kriege Eier, Fleisch, Butter und alles genug zu essen. Jetzt kann ich mich wenigstens im<br />

Haushalt üben, selbständig kochen usw., die Frau lässt mir allen Willen. Montags habe<br />

ich frei. Morgens um 8 Uhr muss ich dort sein auf der Münde, und abends um 8 bis halb<br />

9 Uhr bin ich zu Hause. Die Frau versteht aber nicht ein Wort deutsch, den ganzen Tag<br />

muss ich russisch hören und sprechen. Dabei lerne ich noch wenigstens etwas. Ich muss<br />

sogar schon manchmal einkaufen gehen ins Russenmagazin, sie avisiert mich dort als<br />

„ihre Njemka“.<br />

62


Sie mokiert sich aber auch darüber, dass Deutsche Schweine sind und keine Kultura<br />

haben. Der Grund: Zwischen den Dielenbrettern in der Küche waren Bohnerwachsreste.<br />

Über diesen Dreck in den Ritzen hat sie sich furchtbar aufgeregt, das hätte ich beim<br />

Aufwischen mit entfernen müssen. Nun musste ich alles mit einem Küchenmesser rauskratzen<br />

und anschließend mit einer Bürste rausschrubben, erst dann gab sie sich zufrieden.<br />

Ein Gegenstück kann ich über ihre russische Kultura berichten: Das Wochenendbad<br />

wird in der Waschküche in folgender Reihenfolge genommen: Zuerst badet sie und ihr<br />

Mann. Dann muss ich nacheinander die Kinder baden. Zum Schluss muss ich dann ihr<br />

Parassionek – ein kleines Ferkel – in der Wanne schrubben. Dann ist die Badezeremonie<br />

beendet.<br />

Nun genug davon. Erika, Du schreibst von unserem Zimmer, ich freue mich schon darauf.<br />

Wegen dem Schlafen, das ist doch kein Problem, ich schlafe jetzt schon bald 2 Jahre<br />

auf einem Chaiselongue, also bin ich es gewöhnt, das macht mir durchaus nichts. Ach,<br />

wenn ich doch dort sein könnte! Mein Gott, wie und wann kommen wir bloß zu Euch.<br />

Man darf nicht zu grübeln und zu denken anfangen, dann ist es aus, man wird noch trübsinnig.<br />

Was haben wir bloß verbrochen, wer oder was hilft uns? Was wisst Ihr, Ihr habt<br />

doch Radio, schreibt uns ruhig, die Briefe werden nicht kontrolliert. Nun Gute Nacht,<br />

ich bin so müde, und morgen früh muss ich wieder zur Münde marschieren.<br />

Viele herzliche Grüße an Euch und alle dort, besonders an Omi, Eure Anita.<br />

Keine Evakuierung und keine Geburtstagspost<br />

Rügenwalde, den 28.5.1947<br />

Mein lieber Karl und liebe Eka!<br />

Mit großer Freude erhielt ich gestern Euren lieben Brief vom 14. Mai, gestempelt am<br />

16.. Habt vielen Dank, meine Lieben. Wir hatten doch auch schon so gewartet, und meine<br />

Gedanken, heute muss doch ein Brief kommen, waren richtig. Anita sagte gleich, pass<br />

auf, nun kriegen wir keine Post, wenn Du schon schreibst, es gehen Transporte. Ja, nun<br />

ist wieder alles still vom Evakuieren, was soll man bloß davon halten. Wir sind manchmal<br />

so traurig, die ganze Arbeit macht keinen Spaß. Heute vor einem Jahr in dieser<br />

Abendstunde nahmen wir schon einmal Abschied von hier, um zu Euch zu eilen. Aber<br />

wir wurden gehindert und hatten in unserer Angst die Bettsäcke liegen gelassen, denn es<br />

wurde geschossen. – Aber nun ist wieder 1 Jahr vergangen, und immer noch ist die einzige<br />

Sorge, wie kommen wir hier weg. Wie gerne, liebe Erika, möchte ich drüben meinen<br />

Garten fertig machen. Ich habe heute nämlich Waljas Garten zurechtgemacht, sie will<br />

aber nur Gurken und Radieschen haben, das andere könnte ich haben. Ich habe kein<br />

Geld für Samen, habe mir so allerhand schenken lassen, sogar 12 Tomatenpflanzen.<br />

Davon gebe ich dann natürlich wieder ab, falls wir noch hier sind. Es ist der Garten in<br />

der Bahnhofstraße am Zollhaus, wo Zemkes wohnten. Da haben noch mehr Russinnen<br />

ihre Gärten, aber auch unsere Frau Bahr, die wohnt jetzt auch dort.. Walja sorgt sehr<br />

für mich, sie brachte mir gestern wieder 1 ½ Brote. Dreimal in der Woche bekomme ich<br />

einen großen Eimer Magermilch zum Aufstellen für Quark. Alle Tage gibt sie mir noch 2<br />

Liter Vollmilch. Essen tut sie sehr wenig, die trinken wohl soviel Sahne in der Molkerei.<br />

Salat muss ich ihr mit reiner Sahne machen, mit Salz, Schnittlauch und Radieschenscheiben<br />

dazwischen, das schmeckt prima. Wilhelm kommt mittags auch schnell nach<br />

Hause: „Mutti, was hast Du heute?“ Der Junge kann schon essen, dabei ist er so dünn<br />

geworden. Er kann nun hier viel Milch trinken.<br />

Anita hat keinen Hunger wenn sie kommt, die kriegt da gutes Essen. Nun lernt sie wenigstens<br />

kochen, wenn auch auf russische Art. Montag hatte sie den ersten freien Tag.<br />

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Es ist schön, dass Onkel Erich Dir hilft, liebe Erika, nun lernst Du auch noch Gartenarbeit.<br />

Anita hat nun auch schon alle Klassen durch, es wird Zeit, dass für uns eine Wendung<br />

kommt. Das Pfingstfest haben wir gut verlebt, Anita musste den 1. Feiertag arbeiten,<br />

den 2. hatte sie frei. Wilhelm hat Pferde gehütet. Ich war von Barskes eingeladen, es<br />

gab Bohnenkaffee und Streuselkuchen. Am 2. Feiertag hatten wir Hasenbraten, und Else<br />

Barske brachte uns Zitronencreme. Zum Kaffee brachte uns Frau Miels 4 Stück Pulverkuchen.<br />

Also seht Ihr, die Menschen sind uns hier alle gut gesonnen. Ich konnte leider<br />

keinen Kuchen backen, hatte kein Mehl. Den Hasen brachte Anita mit von der Münde,<br />

dafür habe ich Sonnabend noch Wäsche gehabt für einen Oberleutnant. Der hat ein<br />

deutsches Mädel bei sich. Eine aus Köslin, die Anita vom Schippeinsatz gut kennt. Ihre<br />

Eltern sind im Reich.<br />

Ich musste 193 Zloty Gasgeld bezahlen, aber es hilft ja nichts. Wie habt Ihr nun Pfingsten<br />

verbracht?<br />

Ihr meine beiden Lieben seid mir vielmals gegrüßt und geküsst und auf ein baldiges<br />

Wiedersehen hoffend, Eure Mutti.<br />

Inzwischen war am 8. Juni mein 21. Geburtstag. Lilo Bahr schenkte mir von sich ein<br />

Foto.<br />

Geburtstagspost hatte ich leider nicht bekommen.<br />

Rügenwalde, den 29.6.1947<br />

Meine Lieben in weiter Ferne!<br />

Am Mittwoch kam endlich Euer Brief an, den wir schon sehnsüchtig erwartet hatten,<br />

habt vielen Dank. Anita war ja sehr enttäuscht, dass Ihr nicht zu Ihrem Geburtstag geschrieben<br />

hattet. Doch böse ist sie nicht.<br />

Wie ich nun aus Eurem Brief ersehe, seid Ihr sehr traurig, dass wir nicht kommen. Ich<br />

kann es Euch wohl nachfühlen, wir sind es auch. Mein lieber Karl, verliere nicht die<br />

Hoffnung, und liebe Erika, verzage nicht. Gewiss, Ihr habt sehr viel Arbeit, das lässt mir<br />

gar keine Ruhe mehr, aber wir können doch mit eigener Macht nichts unternehmen. Die<br />

Polen sagen immer, wir haben 6 Jahre so gelebt und sind auch nicht gestorben!<br />

Wir haben nun wieder neue Hoffnung. Neuerdings müssen wir uns Passbilder machen<br />

lassen. In Schlawin steht schon ein Transport, der erst mal die, die in <strong>Schlawe</strong> liegen,<br />

fortschafft. Das sind vor uns Rügenwaldern wohl 5.000 Menschen, das sind 3 Transporte!<br />

Danach soll es hier losgehen. Wie lange das dauert, kann man vorher nicht sagen.<br />

Hoffentlich ist es dann nicht so heiß wie jetzt. Wilhelm sagt, in der Sonne sind es 42<br />

Grad. Bei Euch ist es wohl noch wärmer. Arme Eka, Du musst nun alles alleine machen.<br />

Hoffentlich kann ich Dich bald ablösen. Es ist gut, dass Du alles lernst, zuviel wird es<br />

nie. Anita hat auch schon alles hinter sich. Sie war schlau, dass sie bei Trabandt aufhörte.<br />

Die müssen nun von morgens um 5 Uhr bis abends 9 Uhr im Feld arbeiten. Stellt<br />

Euch das mal vor. Diese Woche hat Anita wieder neue Arbeit bekommen und zwar beim<br />

Polen im Haushalt. Hoffentlich hat sie hier Glück. Heute ist das große Sommerfest auf<br />

der Münde. Anita fuhr gestern Abend mit „ihrer Herrschaft“, die einen eigenen Kutter<br />

hat, mit zur Münde. Sie kommt heute Abend erst wieder. Sie bekam schon Geld auf 3<br />

Tage, 300 Zloty ohne Essen. Gestern waren die hier in der Stadt in ihrer alten Wohnung,<br />

da hat sie Essen bekommen. Einen Abend hatte sie 3 große Schollen bekommen, frisch<br />

vom Kutter. Manchmal denke ich, wenn Ihr doch hier sein könntet, ich habe manchmal<br />

Papas Leibgericht, Stampfkartoffeln, Flundern und Buttermilch oder dicke Milch mit<br />

Sahne. Na – unser Wilhelm hilft uns schon was verzehren. Heute hat er auch schöne<br />

Butterstullen bekommen und Klimpern, da hat er nicht bei uns gegessen. Walja hat wieder<br />

einen Zentner Kartoffeln bekommen, nun esse ich so mit ihr mit. Trotzdem werde ich<br />

immer dünner, die Sorgen und Gedanken an Euch zehren.<br />

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Vielleicht kann ich der Frau mal was nähen, die Euch jetzt mit dem Vieh hilft. Gut ist es,<br />

Karl, dass du so sorgst. Ich habe immer gern den Spruch gehabt: „Beklage nie den<br />

Morgen, der Müh und Arbeit gibt, es ist so schön zu sorgen für Menschen, die man<br />

liebt!“ Hoffentlich kann ich das bald für Euch tun. Immer nur für Fremde arbeiten ist<br />

nicht schön und macht keine Freude.<br />

Also Lisbeth sieht es nicht gerne, wenn Oma für Dich näht, Erika. Was habe ich bloß für<br />

eine Schwester, wie kann sie nur so hartherzig sein. Ich dachte sogar, Lizel hätte Dir ein<br />

Sommerkleid abgegeben, die hat doch wohl noch mehrere. Das hätte ich wohl so gemacht.<br />

Wie habe ich für meine fremden Ferienkinder gesorgt. Es ist doch gut, dass Du<br />

wenigstens Papa da hast. Könnt Ihr beide Euch gut vertragen? Nun hast Du wieder<br />

Dein Bein kaputt, Karl, wegen Willys Holz. Wenn Du nachher liegst, hilft Dir auch keiner.<br />

Wenn Wilhelm erst da ist, ist es für Dich auch leichter, der ist uns schon über den<br />

Kopf gewachsen. Er geht nun immer barfuß zur Arbeit, die Schuhe passen ihm nicht<br />

mehr. Noch ein Fuder Heu, dann hat sein Pole alles drin, es gibt dies Jahr sehr viel Heu,<br />

aber das Land ist nicht alles bestellt.<br />

In unser Grundstück will durchaus ein Pole, aber die Russen geben es nicht frei. Da<br />

liegt das ganze Holz für die Molkerei. Die Hecken am Bollwerk wurden im Frühjahr<br />

halb weggerissen. Ich gehe nun wieder da nähen. Gestern habe ich eine rotweiße Fahne<br />

genäht für den Kutter, Anita hat auf der Münde Nähgarn gekauft. Ich bringe Euch auch<br />

was mit, soweit mein Geldbeutel es erlaubt. Was ist noch knapp bei Euch? Ich kann hier<br />

alles kaufen, wenn nur das Geld nicht immer so knapp wäre. Das Brot ist Gott sei Dank<br />

billiger geworden, und es gibt nun auch genug. Ein 2-Kilogramm-Brot kostete erst 130<br />

Zloty, jetzt noch 102 Zloty. Das Fotografieren kostet pro Nase auch 150 Zloty, das<br />

machte für uns drei 450 Zloty. Ja, am 23. sollte es ganz bestimmt losgehen, und wir<br />

wollten Euch überraschen, aber wie immer – auch diesmal wider nichts. Augenblicklich<br />

sind ja wieder Verhandlungen im Gange.<br />

Nun meine Lieben muss ich schließen, schreibt bald mal wieder. In der Hoffnung, dass<br />

wir uns bald wiedersehen, die innigsten Grüße und Küsse von uns Dreien, Mutti. Nicht<br />

verzagen!<br />

An dem Tag als Mutti obigen Brief schrieb, war großes Sommerfest. Da habe ich von<br />

den Dünen aus gesehen, wie eine große Prozession von der polnischen Kirche mit Weihrauchkesselchen<br />

die Mole geweiht hat, eine Predigt wurde gehalten und alle rutschten<br />

auf Knien auf den großen Quadersteinen auf der Mole rum. So wurde die Ostsee für<br />

Polen geweiht.<br />

Mutti hatte mir doch einen roten Strandanzug mit weißen Biesen genäht, also fiel ich in<br />

den polnischen Nationalfarben nicht weiter auf und wagte mich auf die Düne zum Zugucken<br />

– mit Abstand natürlich.<br />

Rügenwalde, den 2.7.1947<br />

Nun wird es doch wohl losgehen, wir warten und rechnen jeden Tag. Ich schreibe dann<br />

noch! Gruß Mutti.<br />

Lieber Papa, liebe Erika!<br />

Heute habe ich mal bisschen Zeit und kann ein paar Zeilen zufügen.<br />

Ich bin gestern Abend von der Münde mit dem Kutter gekommen und soll heute Vormittag<br />

zu Hause bleiben, weil es schon wieder mal heißt, es geht los. Bis jetzt rührt sich<br />

aber noch nichts, und es soll 6 Tage verschoben sein, das Lager in <strong>Schlawe</strong> soll erst<br />

gereinigt werden. – Ich glaube auch das noch nicht bis ich sehe, es geht tatsächlich los.<br />

Nun gehe ich Nachmittag wieder hin zur Münde. Ich bade jetzt oft, ich brauche ja bloß<br />

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ei Walter Otto durchgehen an den Strand. Der Pole, bei dem ich arbeite, übernimmt<br />

das Geschäft von Walter Otto. Das Haus wird ganz neu fertig gemacht, es ist ein schönes<br />

Haus. Falls es losgeht, habe ich doch wenigsten noch was von unserer Ostsee gehabt.<br />

Jetzt ist es am Weststrand schön. Die Russen kennen ja kein Badeleben, so ist der<br />

Weststrand fast menschenleer. Im Binnenhafen baden mehrere, und am Oststrand ist ein<br />

Gewimmel von Polen, die fahren da mit Motorrädern, Kutschen und Fahrrädern am<br />

Strand rum, das ist nicht mehr feierlich.<br />

Nun genug für heute, ich muss noch viel stopfen und heil machen.<br />

Recht liebe Grüße, auch an Omi und die anderen Verwandten, von Eurer Anita.<br />

Die Renovierung <strong>des</strong> Hauses, die ich zuvor erwähnt habe, führten Deutsche aus, die sich<br />

als Handwerker ausgegeben hatten, um damit Arbeit fürs Überleben zu haben. Sie machten<br />

einen fürchterlichen Dreck, die Farbe lief regelrecht die Treppenstufen runter. Den<br />

Dreck musste ich laufend wegwischen. Wasser lief nicht, also musste ich bis zur Zugbrücke,<br />

die Treppe runter mit Eimern und Wasserschöpfen. Da kamen doch einmal Russen<br />

in einem Boot und rissen mir einen Eimer weg. Ich musste lange betteln bis sie ihn<br />

mir zurückgaben. Ich war den Tränen nahe, denn wo hätte ich einen anderen Eimer hernehmen<br />

sollen.<br />

Das Hoffen und Bangen hatte endlich ein Ende<br />

Ich ahnte nicht, dass dies tatsächlich der Abschied von meiner geliebten Ostsee war. Das<br />

Hoffen und Bangen hatte nach so langer Zeit ein Ende. Am nächsten Tag, am 3. Juli<br />

1947, über zwei Jahre nach Kriegsende. wurden wir aus der Heimat evakuiert.<br />

Forst / Lausitz, den 8.7.1947<br />

Meine Lieben!<br />

Vor einer Stunde sind wir auf deutschem Boden gelandet, Gott sei Dank! Es geht heute<br />

noch weiter. Wir haben eben Essen und Verpflegung bekommen. Am Donnerstag fuhren<br />

wir aus Rügenwalde weg und Sonntag aus <strong>Schlawe</strong>. 3 Tage bei Wasser und Brot, übernachtet<br />

unter dem freien Himmel. Also wenn wir am Ziel sind, schicken wir Euch ein<br />

Telegramm, haltet Euch bereit. Gesundheitlich geht es uns gut. Auf Wiedersehen, alles<br />

andere mündlich, Eure Mutti. Herzliche Grüße Allen, Anita.<br />

Quarantänelager Dommitzsch Kreis Torgau<br />

Sachsen-Anhalt, Block I, Russ. Zone<br />

Dommitzsch, den 11.07.1947<br />

Mein lieber Karl und meine liebe Erika!<br />

Gestern früh sind wir nach langer Fahrt hier angekommen. Hoffentlich habt Ihr inzwischen<br />

meine Karte aus Forst / Lausitz erhalten. Ich wollte Euch ein Telegramm schicken,<br />

aber es wurde beim Appell gesagt, dass wir vor dem 24. Juli das Lager nicht verlassen<br />

dürfen. Auch Besuch dürfen wir nicht empfangen, und wenn, nur bis an den Zaun.<br />

Und noch eins: Die Zuzugsgenehmigung darf nicht älter als 4 Wochen sein und muss mit<br />

militärischem Stempel versehen sein. Alles dies, meine Lieben, lässt sich schlecht im<br />

Telegramm zusammenfassen, und damit Ihr nicht umsonst fahrt, will ich es brieflich<br />

erledigen. Also am 3. Juli wurden wir evakuiert und am 6. fuhren wir schon aus <strong>Schlawe</strong><br />

ab. In <strong>Schlawe</strong> war „Kontrolle“, wir haben alle Sachen behalten, ich hatte sogar noch<br />

Sachen für Frau Wendt und eine Uhr für Ernst Hoffmeister, auch 700 Mark Geld. Dafür<br />

bekam ich 100 Zloty von Frau Wendt, Brot usw.<br />

Die Fahrt ging über Stargard – Posen – Grünberg / Schlesien – an der Grenze zurück<br />

nach Sorau, wieder zurück – Forst / Lausitz über die Grenze. Dort bekamen wir die<br />

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erste warme Verpflegung, auch Proviant für 3 Tage, denn die Reise ging noch weiter.<br />

Wir fuhren nun am 9. früh nach Cottbus – Lübben / Spreewald – Zeesen – Königs Wusterhausen<br />

– Eichwalde – Grünau – Tempelhof / Flughafen – Schöneweide – Woltersdorf<br />

– Luckenwalde – Jüterbog, um halb 8 Uhr abends weiter nach Falkenberg bis nach<br />

Dommitzsch, wo wir den nächsten Tag ausgeladen wurden. Hier sind wir 1.000, und 500<br />

mussten weiter nach Elster. Die Fahrt in Deutschland war herrlich, obwohl wir schon<br />

den 5. Tag im Waggon waren. Hier im Lager geht es uns nun ganz gut. Das Lager ist<br />

wunderbar angelegt. Die Verpflegung ist gut. Wir dachten ja, wir konnten bald zu Euch,<br />

aber die 14 Tage werden auch noch vergehen.<br />

Anita hat sich zur Arbeit gemeldet und fängt morgen in der Küche an, heute war sie<br />

schon zum Kartoffelschälen. Wilhelm war mit nach Torgau, Verpflegung holen. Als er<br />

zurückkam, bekam er eine große Portion Pellkartoffeln. Pro Tag bekommen wir 300<br />

Gramm Brot. Heute Abend gab es Brot, Saft und Kaffee. Heute morgen gab mir Frau<br />

Wendt ein Brot, auch sonst gibt jeder mal was ab. In unserem Zimmer liegen wir zu 20<br />

Personen, Familie Otto und Erich Pyritz, Familie Hubert Haß, Familie Fritz Zessin,<br />

nebenan noch Barskes, Wendts, Garzlaffs, Ernst Hoffmeister, Julis Trabandt u.a..<br />

Lieber Karl, wenn Du kannst, komme am 23. oder 24. Juli und hole uns ab, dann siehst<br />

Du noch mal ein Stück Heimat. Ernst Hoffmeister ist Transportleiter. Geld haben wir<br />

noch über 300 Mark, also Karl, brauchst nichts zu schicken. Morgen abend ist bunter<br />

Abend mit Tanz bis 12 Uhr. Aus dem Lager dürfen wir nicht raus. Anita will auch noch<br />

was schreiben.<br />

Nun grüßt bitte alle Verwandten und besonders Oma, herzliche Grüße und Küsse bis wir<br />

uns wiedersehen, Eure Mutti.<br />

Mein lieber Papa, liebe Erika!<br />

Endlich haben wir es geschafft! Wir sind in Deutschland! Bei Forst / Lausitz fuhren wir<br />

über die Grenze. Das Gefühl kann ich nicht beschreiben, wenn man über die Grenze<br />

fährt und alles sind Deutsche, die man sieht. – Man kann sich jetzt noch nicht richtig da<br />

reinfinden. Wir werden ja auch die Quarantänezeit überstehen, dann treten wir den<br />

letzten Weg an und der geht zu Euch! Was sagst Du nun Erika? Wir kommen ! Wir haben<br />

alles behalten, nichts ist genommen worden. Meine Jacke habe ich auch, die ich mir<br />

noch zuletzt gestrickt habe. Bloß Schuhzeug habe ich nicht, ich bin mit meinen Arbeitsstiefeln<br />

hergekommen, die sind mir so groß, da laufe ich bald raus, es ist Größe 43 – und<br />

ich hatte 38. Wilhelm passen sie ja, aber er sagt, der eine drückt ihn.<br />

Als durchgesagt wurde, dass man sich zur Arbeit melden kann, dachte ich, in die Lagerverwaltung<br />

oder Poststelle – aber ich kam in die Küche, auch nicht schlecht! Wir müssen<br />

zu zweit für die 1.000 Leute je 1 Liter Suppe ausschenken, das sind 500 mal eine<br />

Literkelle voll, ganz schön anstrengend, hätte ich nicht gedacht. Dann müssen wir die<br />

Kaltverpflegung abwiegen und ausgeben. Wir können uns an dem satt essen, was uns<br />

schmeckt, sagt der Koch, nur nichts mitnehmen. Dann müssen wir sämtliche Fliesen<br />

schrubben, vor allem die Fußbodenfliesen sind anstrengend. Aber wir dürfen das Bad<br />

benutzen, das ist herrlich! Bloß ich habe solche penetrant riechende Fischseife, andere<br />

besitze ich nicht, was soll´s, da rieche ich eben nach Fisch.<br />

Ach, ich weiß nichts rechtes mehr zu schreiben, alles mündlich ist besser.<br />

Recht liebe Grüße, Eure Anita.<br />

Telegramm:<br />

An Karl Adam, Leubingen bei Sömmerda / Thüringen.<br />

24.7. Quarantäne beendet – neue Zuzugsgenehmigung erforderlich.<br />

Erna Adam, Quarantänelager Dommitzsch Kr. Torgau, Block I.<br />

67


Den eigenen Vater nicht erkannt<br />

Nun wurde es ernst, der 24. kam heran, der Koch wollte mich am liebsten dabehalten. Er<br />

meinte, ich hätte dann mit dem Sattwerden keine Sorgen mehr. Aber meine Familie<br />

wollte doch endlich wieder zusammen sein. Mein Vater kam und holte uns ab, er stand<br />

bereits am Zaun, und ich hatte ihn nicht erkannt. Er war als schwer herzkrank aus Sibirien<br />

entlassen worden und vom Wasser noch etwas aufgedunsen im Gesicht. Schnell<br />

erledigten wir die Formalitäten und wurden verabschiedet.<br />

Nun endlich konnten wir uns alle in die Arme schließen und unseren Freudentränen<br />

freien Lauf lassen.<br />

Wenn ich an diesen Augenblick zurückdenke, kommen mir immer wieder Dietrich Bonhoeffers<br />

Zeilen aus dem Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ in den Sinn:<br />

„Lass warm und still die Kerzen heute flammen,<br />

die Du in unsere Dunkelheit gebracht,<br />

führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen,<br />

wir wissen es, Dein Licht scheint in der Nacht.“<br />

68


Horst Erdmann 13<br />

<strong>Erinnerungen</strong> aus dem Jahre 1945<br />

I. Kriegsende – die Russen kommen<br />

Anfang März 1945. Das Leben im Dorf weicht plötzlich einer geheimnisvollen Ruhe.<br />

Die Flüchtlingstrecks, die täglich durch das Dorf zogen, bleiben aus. Am Vormittag<br />

zieht ein Trupp von ca. 15 – 20 Soldaten im Gänsemarsch die Panzerfäuste geschultert<br />

die Straße entlang in Richtung Alt - Wiek. Wollen sie das Dorf verteidigen ? Gegen<br />

Abend kommen sie zurück und beziehen Quartier in der Schule. Ein Klassenraum für die<br />

Soldaten, im zweiten werden die ausländischen Arbeiter und Kriegsgefangenen aus den<br />

Bauernhöfen eingesammelt und untergebracht. Der Führer der Truppe, ein Oberfeldwebel,<br />

quartiert sich bei meiner Mutter ein, trinkt viel und schwadroniert bei ihr vom Sieg<br />

über die Russen herum. Auf den Bauernhöfen werden Vorbereitungen für einen Treck<br />

und die Flucht betrieben. Man verstaut Hab und Gut auf Fuhrwerken und erwartet den<br />

Befehl zum Abmarsch. In der Nacht ziehen die Soldaten plötzlich von dannen und die<br />

Gefangenen und Fremdarbeiter werden frei gelassen und verschwinden.<br />

Meine Mutter begibt sich mit mir und meinen Schwestern, Ursula und Marianne, zum<br />

Bauernhof von Schwerdtfeger am Wald. Ihm waren wir für die Flucht durch den Ortsgruppenleiter<br />

Ernst Scheel zugeteilt, da wir selbst keine Transportmittel besaßen.<br />

Es kam keine Anweisung zur Flucht und so wurde beschlossen, wir bleiben, komme was<br />

da wolle.<br />

Als es hell wurde ging meine Mutter noch einmal mit mir zur Schule zurück um etwas<br />

Wäsche zu holen, die wir in einen Wäschekorb packten und danach wieder querfeldein<br />

zurückgingen. Auf dem Wege zum Wald sahen wir in ca. 200 m Entfernung zwei Personen<br />

über das Feld gehen, ohne zu erkennen, dass es russische Soldaten waren. Sie winkten<br />

uns mit Gesten zu, aus denen wir schlossen, dass wir verschwinden sollten, was wir<br />

ja auch taten. Als wir bei Schwerdtfegers ankamen berichtete man uns, dass die ersten<br />

Russen da gewesen seien. Sie hätten nach deutschen Soldaten gefragt und Wasser getrunken.<br />

Schwerdtfeger fragte mich, ob ich meine Pistole noch hätte, die ich seit dem<br />

Morgen umgeschnallt trug. Es war ein Fundstück aus unserem Bücherschrank, die mein<br />

Vater aus dem Krieg mitgebracht hatte. Ein belgischer Browning, Kal. 7,65 mit 12 Patronen.<br />

Sie am Koppel meins Vaters fühlte ich mich stark, ließ sie dann auf anraten von<br />

Schwerdtfeger aber schnell im angrenzenden Bach verschwinden. Trotz eifrigen Suchens<br />

habe ich sie später nie wieder gefunden.<br />

Nach etwa zwei Stunden kamen die ersten Russen auf das Gehöft. Es waren drei Soldaten<br />

in Uniform. Sie trugen über der Uniform eine blaue oder schwarze Schlosserkombination<br />

und waren mit MPI. und Karabiner bewaffnet. Dabei war ein Zivilist. Es war ein<br />

Ukrainer, der bei einem Bauern im Dorf gearbeitet hatte, die Nacht auch in der Schule<br />

13 Horst Erdmann – geb. 1930 in Kemnitz/Brandenburg. Der Vater <strong>des</strong> Autors war in<br />

den Jahren 1932-39 Lehrer in am Vitzker See. (Das Dorf besteht heute nicht mehr)<br />

Nach dem Kriege studierte H.E. Landwirtschaft. Er war Offizier in der Armee der DDR,<br />

wohnt in Fürstenwalde.<br />

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eingesperrt war und jetzt den Russen zeigte, wer die schönsten Pferde im Dorf hat. Es<br />

war Schwerdtfeger, der immer die Hochzeitskutschen gefahren hat und dafür auch eine<br />

sehr schöne Kutsche besaß. Darauf hatten es die Russen abgesehen. Wir, das waren meine<br />

Mutter, meine Großmutter, meine beiden Schwestern, Frau Schwerdtfeger mit ihren<br />

drei Töchtern und ihrem Sohn Helmut standen verängstigt im Flur und harrten der Dinge<br />

die jetzt kommen sollten. Während zwei Soldaten und der Ukrainer mit Schwerdtfeger in<br />

den Stall gingen, um die Pferde vor die Kutsche zu spannen, besichtigte der Dritte und<br />

jüngste Soldat (ca. 20 Jahre) alle Zimmer <strong>des</strong> Hauses. Dann forderte er Uhri, Uhri, die<br />

wir ihm gaben. Auch der Ehering meiner Mutter wechselte den Besitzer. Danach musterte<br />

er die drei Mädchen von Schwerdtfegers ( 18-23 Jahre) und sagte zur Jüngsten, Mariechen:<br />

- „komm!“ und verschwand mit ihr in einem Zimmer. Was er dort trieb konnten<br />

wir uns denken.<br />

Im Stall machte inzwischen der Ukrainer dem Bauern klar, dass man nicht das normale<br />

Pferdegeschirr haben wolle, sondern das gute Jubiläumsgeschirr für die Hochzeitsfahrten.<br />

Nach einiger Zeit kamen der Soldat und Mariechen aus dem Zimmer. Sie weinte bitterlich<br />

aus Angst vor einer möglichen Schwangerschaft in den Armen ihrer Mutter. Meine<br />

Mutter und ihre versuchten sie zu trösten.<br />

Die Soldaten und der Ukrainer stiegen auf die Kutsche und verschwanden. Das war die<br />

erste Begegnung mit den Russen.<br />

Es gab noch zwei gravierende Episoden mit Russen solange wir bei Schwerdtfegers<br />

wohnten. Wir organisierten einen Wachdienst am Tage. Wir Jungen hielten uns den<br />

ganzen Tag im Freien auf und wenn wir irgendwie bemerkten, dass sich Russen nähern,<br />

warnten wir die Mädchen, die sofort aus dem Haus verschwanden und sich unter dem<br />

Schutz der Gewächse am Bach in Richtung Wald in Sicherheit begaben.<br />

Eines Tages landete direkt auf einer Wiese am Haus ein Flugzeug. Ein Doppeldecker,<br />

eine sogenannte Nähmaschine. Die Insassen bezogen Quartier bei Nachbar Schünemann<br />

und soffen dort die ganze Nacht. Am nächsten Morgen starteten sie wieder und wir waren<br />

verwundert, dass das so problemlos gelang.<br />

Einmal jedoch traf noch eine größere Gruppe von Soldaten im Nachbarhaus ein. Wir<br />

Jungen hatten uns in der Nachbarscheune im Heu versteckt und große Angst, als plötzlich<br />

ein Russe auf den Heuboden kam und mit einer Forke im Heu herumstocherte. Was<br />

er da suchte, war uns nicht klar. Wir hatten Glück, dass er uns nicht gestochen hat. Diese<br />

Russen holten alle drei Mädchen von Schwerdtfegers und veranstalteten die ganze Nacht<br />

lang eine große Orgie. Was dabei den Mädchen passierte, kann man sich denken.<br />

Nach etwa 10 Tagen wurden alle <strong>Bewohner</strong> unseres Dorfes durch die sowjetischen<br />

Truppen ausgewiesen und mussten in ein ca. 30 km entferntes Gutsdorf (Adolphium)<br />

ziehen, wo wir von den dortigen <strong>Bewohner</strong>n notdürftig untergebracht wurden. Meine<br />

Mutter z. B. kam mit meiner Großmutter, mir und meinen beiden Schwestern in einem<br />

Tagelöhnerhaus unter, in dem wir in Ermangelung von Betten die ganze Zeit auf einer<br />

Strohschütte auf dem Fußboden schlafen mussten.<br />

Die Sowjetarmee hatte einen ca. 30 km breiten Küstenstreifen an der Ostsee geräumt<br />

um, den Sturm auf Kolberg durchzuführen. Dabei wollten sie natürlich, eingedenk ihrer<br />

eigenen Partisanenpraxis, nicht von Deutschen gestört werden.<br />

In diesem Dorf wurden die Erwachsenen damit beschäftigt, das Vieh <strong>des</strong> Gutes zu versorgen.<br />

Es gab dafür auch etwas zu essen, wie Milch, Mehl und Fleisch. Zwischendurch<br />

wurden auch einige <strong>Bewohner</strong>, darunter meine Mutter zum Eisenbahnschwellen verladen<br />

nach Schneidemühl geholt. Sie kamen nach einigen Tagen aber wieder. Wir Jungen<br />

trieben uns viel in der Gegend umher. Da gab es Interessantes zu erleben. Der Gutsherr<br />

70


esaß ein Privatflugzeug welches in einer Scheune am Wald herumstand. Dort haben wir<br />

viele Flugstunden drin verbracht. Nach einigen Tagen war es bestimmt nicht mehr flugfähig,<br />

weil wir einiges kaputt gespielt hatten.<br />

Eine Lieblingsbeschäftigung von uns war, mit dem Schäferhund von Papenfuß Rehe zu<br />

jagen. Es gab viele davon. Aber was wir auch anstellten um dem Hund auf die Rehe zu<br />

hetzen. Es gelang ihm nie eines zu reißen. Die Rehe waren immer schneller.<br />

Als Kolberg nun erobert war konnten wir in unser Dorf zurück kehren. Es sah dort<br />

fürchterlich aus.. Die Häuser waren alle durchwühlt, die Inneneinrichtungen zum Teil<br />

zerstört und alles was nicht niet- und nagelfest war und Soldaten gebrauchen konnten<br />

war geraubt.<br />

Wir benötigten einige Tage um wieder Ordnung zu schaffen und uns mit dem übrig gebliebenen<br />

wieder einzurichten. In das Dorf wurden Kühe von außerhalb zugetrieben und<br />

in den größeren Höfen eingestallt. Die russische Kommandantur richtete sich im Obergeschoss<br />

unserer Schule ein, während die Kommandantin sich in der Molkerei einrichtete.<br />

Arnold Wetzel wurde zum Starost (Bürgermeister) auserkoren, weil er russisch konnte,<br />

was er als Kriegsgefangener <strong>des</strong> 1. Weltkrieges in Russland gelernt hatte. Er hatte mit<br />

den Deutschen die Arbeit auf dem Feld und in den Ställen zu organisieren. Dazu konnte<br />

er als Einziger im Dorf sein Fahrrad behalten und niemand nahm es ihm weg.<br />

Der Bürgermeister war ein guter Organisator, der mit den Russen umgehen konnte und<br />

sehr viel getan hat um uns das Los zu erleichtern. Er nahm manches Risiko auf sich das<br />

ihn leicht nach Sibirien hätte bringen können. Wir Jungen in meinem Alter wurden zu<br />

Feldarbeiten, denn einige Pferde waren doch noch irgendwo übrig geblieben, und vor<br />

allem zum Hüten der Kühe eingesetzt. Arbeiten mussten alle, die irgendwie dazu fähig<br />

waren. Dafür wurde ab und zu eine Kuh oder ein Schwein geschlachtet und unter die<br />

arbeitenden Deutschen aufgeteilt. Auch Mehl wurde zugeteilt welches in Schrotmühlen<br />

gemahlen wurde, denn es gab bald wieder Strom aus dem durch die Polen wieder hergestellten<br />

Stromnetz. Geld gab es auch ab und zu ein wenig in Form polnischer Zlotys.<br />

Aber nur unregelmäßig. Das reichte natürlich nicht zum Leben und so zog man in den<br />

Nächten los und stahl von den Feldern und von den Getreideböden was man noch so<br />

zum Leben brauchte. Auch dafür gab der Bürgermeister so manchen Tipp und seine<br />

Unterstützung in Form der Bodenschlüssel. Als sich dann in den Nachbardörfern die<br />

Polen etablierten, begannen die Handelsgeschäfte und es wurde viel Hausrat und Wertsachen<br />

verkauft um zu Geld zu kommen. Damit wurde dann Lebensnotwendiges in polnischen<br />

Geschäften, vornehmlich in Rügenwalde eingekauft.<br />

Im Dorf war es relativ ruhig. Die Russen hatten in der alten Schule ein Wachkommando<br />

mit mehreren Soldaten, die für Ruhe und Ordnung im Dorf zu sorgen hatten und uns vor<br />

Übergriffen durch die Polen schützten, eingerichtet. Die Polen versuchten vor allem die<br />

Deutschen in abgelegenen Gehöften zu bestehlen. Das Verhältnis zwischen Russen und<br />

Polen war nicht das Beste und so gab es einige Zwischenfälle, an die ich mich erinnere<br />

und die ich erzählen möchte.<br />

Wir hatten zu der Zeit einen Kommandanten, einen Fliegerhauptmann von ungewöhnlicher<br />

Körperfülle. Er wog ca. 2 Zentner, da er an einer Drüsenerkrankung litt, die er sich<br />

nach einem Flugzeugabschuss zugezogen hatte. Er war nicht in der Lage alleine wieder<br />

aufzustehen, wenn er gefallen war, und der Bürgermeister musste ihm immer helfen von<br />

der Kutsche zu steigen, so unbeweglich war er.<br />

Die durch das Dorf kommenden Polen wurden von den russischen Soldaten mit größtem<br />

Misstrauen bedacht und kontrolliert. So geschah es eines Tages, dass man einen Polen<br />

aus Abtshagen festnahm, der aus unserem Dorf von einem schon hier wohnenden Polen<br />

71


einen zur Reparatur abgegebenen Radioapparat abholte. Dieser Pole war damals der<br />

Einzigste in unserem Dorf.<br />

Der Pole aus Abtshagen wurde in die Schule geschafft, in der wir damals noch wohnten.<br />

Er wurde im Keller fürchterlich verprügelt, wobei man ihm einredet, er hätte den Apparat<br />

von den Deutschen gestohlen.. Meine Mutter erzählte oft davon, wie sie die Schreie<br />

aus dem Keller gehört hat. Auch dem als Zeuge ankommenden Polen, der die Festnahme<br />

irgendwie mitbekommen hatte, wurde nicht geglaubt. Nach einigen Stunden hat man den<br />

Polen dann ohne Radio laufen lassen. Am nächsten Tag sprach sich im Dorf herum, dass<br />

er noch bis Abtshagen gekommen und dort am Friedhof tot zusammengebrochen sei. So<br />

hatten die Russen ihn behandelt.<br />

Ein anderes Beispiel war ein Überfall der Polen in einer Nacht an den Ausbauten <strong>des</strong><br />

Dorfes.<br />

Ein Mädchen (Ruth Garbe) lief in das Dorf und weckte die Wachsoldaten in der alten<br />

Schule. Die zur Zeit im Dorf stationierten Soldaten wurden von Zeit zu Zeit ausgewechselt.<br />

Sie waren nicht grade gut auf die Deutschen zu sprechen. Jeder hatte so seine eigenen<br />

Erfahrungen mit ihnen. Vor allem einer, er hieß Wolodja, der mit den Deutschen als<br />

Zwangsarbeiter schlechte Erfahrungen gemacht hatte und sehr gut deutsch sprach, machte<br />

nur irgendeine abwertende Bemerkung und rührte sich nicht. Doch ein junger 19jähriger<br />

Sibirier, der kein Wort deutsch sprach schulterte sein Schnellfeuergewehr und<br />

ging mit dem Mädchen zum Wald.<br />

Als sie auf den elterlichen Hof kamen, kam ihnen um die Hausecke ein Pole entgegen,<br />

der ein Gewehr auf ihn anlegte. Der russische Soldat schoss sofort auf ihn und traf ihn<br />

ins Gesicht. Er war sofort tot. Die anderen Polen, die dabei waren, flüchteten Hals über<br />

Kopf. Wir transportierten damals Getreide nach <strong>Schlawe</strong>, in die Kreisstadt zum Bahnhof.<br />

Auf dem Rückweg wählten wir den Weg über den Forst, da sich das Ereignis herumsprach<br />

und wir neugierig waren, was da los war. Als wir am Nachmittag am Haus<br />

eintrafen, war dort polnische Polizei anwesend um den Fall zu untersuchen. Die russischen<br />

Soldaten und der Kommandant waren auch anwesend. Die Polen versuchten den<br />

Russen einzureden, ein Deutscher hätte den Polen mit einer Axt erschlagen, da von seinem<br />

Kopf nur noch etwas Gehirnschale übrig geblieben war. Der Russe hatte mit einem<br />

Dum – Dum - Geschoss geschossen und wer die Wirkung kennt, kann sich vorstellen<br />

was da passiert war. Die Polen wollten unbedingt den Deutschen (Garbe) festnehmen,<br />

obwohl der Russe immer wieder beteuerte, dass er geschossen hätte. Das ließen die Russen<br />

aber nicht zu und so mussten die Polen abziehen. Sie versuchten in der Folge, sich<br />

einen Deutschen in späteren Nächten zu schnappen, was aber nicht gelang und der russische<br />

Kommandant ordnete die Räumung der Häuser am Wald an. Die Menschen mussten<br />

in das Dorf runterziehen, wo sie vor dem Zugriff durch die Polen geschützt waren. In<br />

das Dorf trauten sie sich zu solchen Aktionen nicht.<br />

Beim Hüten der Kühe hatten wir Jungen natürlich allerlei Dummheiten im Kopf und<br />

haben so einiges angestellt. Davon durften die Erwachsenen nie etwas erfahren. Viele<br />

Jungen im Dorf hatten Waffen, die sie in den umliegenden Gräben <strong>des</strong> „Pommernwalles“<br />

gefunden hatten. Auch ich hatte einen russischen Karabiner, den ich im Schützengraben<br />

bei Brüssow gefunden hatte. Ihn habe ich gemeinsam mit Hans-Hermann Papenfuß<br />

durch die Grabowwiesen ins Dorf gebracht und dort versteckt. Er wurde mir später<br />

gestohlen und ich habe im Jahr 2000 erfahren, wer das gewesen sein könnte. (M.K.) Ab<br />

und zu trafen wir uns am Wald und ballerten dort rum. Wir haben auch versucht, einmal<br />

ein Reh zu erlegen, was aber nie gelang.<br />

Eines Abends kamen meine Freunde (Helmut Wetzel und Martin Krüger) und ich auch<br />

wieder am Mühlenbach runter und ich trug den Karabiner unter meiner Schlosserkombi-<br />

72


nation., die wir Jungen damals fast alle trugen. Durch den Schlitz an der Seite konnte<br />

man das Gewehr gut festhalten und es fiel nicht auf, dass man unter der Kombi etwas<br />

trug.<br />

Als wir aus dem Chausseegraben auf die Straße traten standen plötzlich zwei russische<br />

Wachtposten vor uns. Es war stockdunkel und mir rutschte fast das Herz in die Hose.<br />

Die Russen fragten woher wir kämen und ob wir was von der Schießerei gehört hätten.<br />

Wir sagten, wir kämen von Lemke, den wir besucht hätten und hätten nur gehört, dass<br />

im Wald geschossen wurde. Die Russen waren es zufrieden und da sie uns gut kannten,<br />

denn wir Jungen hatten ein fast freundschaftliches Verhältnis zu ihnen, sie waren ja nur<br />

ein paar Jahre älter als wir, ließen sie uns weiter laufen. Natürlich verschwanden wir<br />

schnellstens und freuten uns, so davongekommen zu sein.<br />

Während wir die Kühe in den Grabowwiesen hüteten, bemühten wir uns, in den toten<br />

Armen der Grabow Hechte zu fangen. Mit einer Schlinge aus Dynamodraht an einer<br />

langen Stange zogen wir manchen Hecht aus dem Wasser. Doch das brachte nicht genug<br />

und so setzten wir auch Handgranaten ein, die wir eines Tages fanden und freuten uns,<br />

wenn tote Fische hoch kamen. Wenn uns die Russen dabei erwischt hätten, wäre uns das<br />

sicher schlecht bekommen.<br />

Ein anderes Erlebnis war die Tötung eines Bullen auf dem Hof von Ernst Scheel. Hier<br />

waren viele Kühe eingestallt und auch ein starker Bulle, der sich eins Tages losriss. Ein<br />

im Dorf zurückgebliebener Treckjunge, ich glaube er war Ostpreuße, der sich stark fühlte<br />

und sehr verwegen war, traute sich zu dem Bullen in den Stall um ihn wieder an die<br />

Kette zu legen. Die Sache endete jedoch mit dem Sieg <strong>des</strong> Bullen und nur eine recht<br />

stabile Tabakdose in seiner Hosentasche rettete ihm das Leben, als der Bulle mit seinen<br />

spitzen Hörnern ausholte und sie ihm in die Seite rammen wollte. Der Junge konnte noch<br />

aus dem Stall gezogen werden und der Bulle wurde dann von einem Russen durch das<br />

Stallfenster erschossen.<br />

Dann kam als Kommandant Mischa Sakun. Er war ein Georgier, jung schwarz und Zivilist.<br />

Er war ein großer Jäger vor dem Herrn auf Wild und Mädchen. Manchmal kam er<br />

auf das Feld, sortierte uns Jungen aus und ab ging es in den Wald zur Jagd. „Dawai po<br />

choda“ war sein Schlagwort. Er verteilte dann zwei bis drei Gewehre und wer keins<br />

abbekam musste treiben. Die Gewehre erhielten, durften sich unter seiner Aufsicht als<br />

Schützen aufstellen. Manchmal hatten wir keine Lust dazu und machten uns aus dem<br />

Staub, wenn er uns als Treiber angestellt hatte und außer Sichtweite war. Darob waren<br />

die anderen dann böse, weil sie nicht zum Schuss kamen, aber es hatte nie ernste Konsequenzen,<br />

bis zu dem Tag, da er uns auf den Viehtransport schickte. Aber das st eine<br />

andere Geschichte.<br />

Eines Tages, wir waren auf dem Feld beim Getreide mähen, alles mit der Sense und<br />

Garben mit der Hand binden, kam er laut vor Freude übermütig schreiend aus dem<br />

Wald. Aber wie sah er aus ? Seine schwarze Montur, die er immer trug, total zerrissen.<br />

blutverschmiert leuchteten Teile seiner weißen Unterwäsche und ein kaputtes Gewehr<br />

schwenkte er hin und her. An der Seite sein großer schwarzer Hund von dem ich nicht<br />

weiß welche Rasse das war.<br />

Was war passiert ? Er hatte eine Bache beschossen, die auf ihn los ging und zu Fall<br />

brachte. Mit seinem Gewehr konnte er die Bisse der Bache abwehren. Dabei ging jedoch<br />

der Kolben zu Bruch. Sein großer Hund, der sich der Bache annahm und sie tot beißen<br />

konnte, rettet ihn vor Schlimmerem. Das war für ihn ein großer Sieg mit dem er sich<br />

noch oft gebrüstet hat.<br />

Ein andermal kam er aus der Kreisstadt mit der Kutsche durch den Wald. Da sah er am<br />

Wegesrand einige kleine Frischlinge herumlaufen. Er sprang ab und griff sich einen<br />

73


kleinen Frischling. Da kam plötzlich die Bache an und sein Kutscher gab den Pferden<br />

die Peitsche. Das Tempo hielt die Bache nicht durch und so entkam er mit dem Frischling.<br />

Er quartierte ihn auf dem Hof auf dem er wohnte im Schweinestall ein. Als der<br />

Überläufer dann zu groß und kräftig wurde, so dass er den Schweinekoben ramponierte,<br />

wurde er geschlachtet.<br />

Im Herbst 1946 gab es ein Erntefest im Dorf. Auf Betreiben <strong>des</strong> Bürgermeisters ließ der<br />

Kommandant einiges schlachten und backen, so dass wir einmal recht viel zu essen bekamen<br />

und es gab sogar Wodka und es wurde auf dem Wirtschaftshof etwas gefeiert.<br />

Der Wirtschaftshof, das Anwesen von Hermann Scheel, Ortsgruppenleiter der NSDAP<br />

und Amtsvorsteher, war zu dieser Zeit Sitz der Kommandantur. Hier hatte sich Mischka<br />

Sakuhn mit seinem Büro eingenistet.<br />

Das frühere Arbeitszimmer war der Bürorum der Kommandantur und die Gesin<strong>des</strong>tube<br />

dahinter der Versammlungsraum der deutschen Kolchosarbeiter, die wir waren. Hier<br />

versammelte sich morgens um 05,00 Uhr die Deutschen zur Arbeit und wurden in den<br />

verschiedensten Bereichen täglich eingeteilt. Die Viehställe waren durch ständiges Personal<br />

besetzt.<br />

Als es im Winter kalt wurde, musste jeden Tag ein Mädchen aus dem Dorf nach einem<br />

Wachplan <strong>des</strong> Kommandanten dort Nachtdienst machen und heizen,<br />

damit wir es morgens, wenn wir zur Arbeit kamen warm hatten. Wir mussten dort öfter<br />

lange warten und in der Kälte zu sitzen war nicht grade angenehm.<br />

Vielleicht war da auch nur etwas Gerede dabei, wenn behauptet wurde, dass da Sakuhn<br />

die Mädchen reihenweise vernascht hätte.<br />

Einige Mädchen, die damals jung waren, können sicher Geschichten erzählen, die<br />

manchmal nicht gut klingen. Ich jedenfalls habe meiner damaligen Freundin<br />

dort Gesellschaft geleistet um sie vor dem Kommandanten zu schützen, der aber nie kam<br />

wenn ich da war.<br />

II. Der russische Wachtposten Boris Karamonow<br />

Im Herbst 1945 tauchte in Neuenhagen unter den Wachtposten ein russischer Soldat mit<br />

dem Namen Boris Karamanow auf. Er war aus Feodossia auf der Krim und erzählte uns<br />

seine Geschichte so.<br />

Sie war bezeichnend für das der Menschen im Krieg und war für mich, als deutscher<br />

Junge, der von den Idealen <strong>des</strong> Faschismus initiiert war damals interessant.<br />

Er sprach fließend deutsch, wodurch es keine Verständigungsschwierigkeiten gab.<br />

Als der Krieg die Krim erreichte war er 15 Jahre alt. Sohn eines Kolchosbauern in <strong>des</strong>sen<br />

Stall 2 Kühe standen..<br />

Die erste Kuh holten rumänische Soldaten weg, die als erste in dem Gebiet eintrafen., in<br />

dem Boris wohnte.<br />

Sie luden die Kuh aufs Auto, bezahlten mit etwas Besatzungsgeld, welches er dabei<br />

zum ersten mal sah und verschwanden.<br />

Einige Zeit später lösten deutsche Truppen die Rumänen ab.<br />

Es dauerte nicht lange und eines Tages fuhr ein deutscher LKW mit mehreren Soldaten<br />

vor. Sie luden ohne viel Worte die zweite Kuh auf. Dabei berichtete er, dass sie die Kuh<br />

zu dritt auf den LKW gehoben hätten. Ich dachte in meiner Überheblichkeit, dass das<br />

aber eine komische Kuh gewesen sein muss die drei Mann auf den LKW laden konnten.<br />

Boris forderte von den Deutschen die Bezahlung der Kuh. Sie aber lachten ihn nur aus.<br />

Als er nicht nachgab, gab man ihm ein Stück Papier auf dem einige Worte notiert waren<br />

und sagte ihm, er solle sein Geld auf der Kommandantur in Feodossia abholen. Eine<br />

Schachtel Zigaretten drückte man ihm auch noch in die Hand.<br />

74


Am nächsten Tag begab er sich in die Stadt zur Kommandantur. Dort zeigte er dem<br />

Wachtposten am Eingang den Schein, den ihm die Soldaten gegeben hatten.<br />

Der Soldat las sich den Schein durch und schickte ihn fort. Er war hartnäckig und bestand<br />

darauf den Kommandanten zu sprechen. Aber es nutzte nichts, der Soldat jagte<br />

ihn, mit dem Gewehr drohend fort. Da rauchte er seine letzte Zigarette der Deutschen<br />

und begab sich unerrichteter Dinge nach Hause.<br />

Ich erklärte ihm, dass die Deutschen eventuell alles mögliche auf den Zettel geschrieben<br />

hätten. Er sei ein Idiot oder etwas ähnliches. Er wollte immer noch nicht begreifen, obwohl<br />

er schon 4 Jahre unter Deutschen gelebt hatte. Er sagte immer wieder. Ab „er da<br />

war doch Stempel drauf!“<br />

Er ließ sich absolut nicht davon überzeugen, dass es in Deutschland alle möglichen<br />

Stempel gibt, die dokumentarisch keinerlei Bedeutung haben.<br />

Ich habe erst selbst viel später gemerkt, dass bei den Russen ein Stempel etwas dokumentarisches<br />

und damit heiliges ist und immer etwas mit Amt und Staatsmacht zu tun<br />

hat.<br />

Er wurde dann als Ostarbeiter nach Deutschland gebracht und zu einem Bauern nach<br />

Ostpreußen, wo er es nach eignem bekunden auf dem Hof nicht schlecht hatte. Der Bauer<br />

war eingezogen und er bewirtschaftete mit der Bäuerin den Hof. Wie es viele Ostarbeiter<br />

damals taten.<br />

Mit der Bäuerin ging er dann auf den Treck und gelangte bis nach Schleswig-Holstein.<br />

Dort wurde er von englischen Truppen eingesammelt und an die Sowjetarmee übergeben.<br />

Diese steckte ihn sofort in Uniform, bildete ihn kurz aus und setzte ihn dann bei uns<br />

als Wachtposten ein. An Rückkehr auf die Krim war vorerst gar nicht zu denken, obwohl<br />

er sich sehr danach sehnte. Er hatte keine Ahnung, ob seine Eltern noch leben und wo.<br />

Er hatte keinerlei Verbindung zu ihnen.<br />

Zu uns Jungen und allen Deutschen war er sehr freundlich und hilfsbereit in jeder Beziehung.<br />

Das war sicher auf ein gutes Verhältnis seiner Bauersleute zu ihm zurückzuführen.<br />

Das änderte sich erst, als auch er mitbekam, dass wir Jungen Waffen besitzen, wofür uns<br />

die polnische Polizei reihenweise verhafteten und einsperrten bis sie bei zwei Jungen<br />

etwas gefunden hatten.<br />

Ich habe ihn nie vergessen und hatte immer die Absicht ihn einmal wiederzufinden wenn<br />

es mir gelänge in die Sowjetunion zu kommen. Es ist aber nie etwas daraus geworden<br />

III. Der Viehtransport<br />

Ein Sommertag im Jahre 1946. In der Scheune ist die Dreschmaschine verstummt, denn<br />

wir haben mal wieder Stromsperre, selbstgemachte.<br />

Während wir im Scheunenfach umhertoben, taucht plötzlich Kommandant Sakuhn auf<br />

dem Hof auf. Er kommt in die Scheune und gibt, indem er mit weit ausholender Handbewegung<br />

auf uns weist, bekannt: "Schumski," das war ich, "Igel und Hilde,und ,und,<br />

und dawai, morgen nach Rußland!"<br />

Wir Jungen traten forsch auf und meinten, da wollten wir schon lange mal hin, obwohl<br />

uns nicht ganz wohl war. Einige Mädchen fingen sogleich an zu weinen, ohne zu wissen,<br />

was eigentlich los war. Dann erklärte uns der Kommandant, daß wir am nächsten Tag<br />

Kühe nach <strong>Schlawe</strong> zu treiben und sie bis Rußland zu begleiten hätten. Da wurde es uns<br />

zwar etwas anders und es gab ein flaues Gefühl in der Magengegend, aber es half nichts,<br />

es mußte sein.<br />

Am nächsten Tag kamen aus Richtung Abtshagen mehrere Kuhherden durch das Dorf,<br />

denen wir uns auch mit einer Herde anschließen mußten.Wir waren 4 Jungen und 4<br />

Mädchen.<br />

75


Als Marschverpflegung bekamen wir vom Kommandanten ein Säckchen Graupen mit.<br />

Das war alles.<br />

In <strong>Schlawe</strong> angekommen wurden die Viehwaggons beladen. Immer 8 Kühe in einen<br />

Waggon, dazu eine Aufsichtsperson, Junge oder Mädel. 50 Schafe in einen Waggon,<br />

dazu eine Aufsichtsperson. Die Schafe kamen aus anderen Dörfern.<br />

Dann wurde Stroh herbeigeschafft und der ganze Zug wurde von 4-5 russischen Soldaten<br />

bewacht.In <strong>Schlawe</strong> standen wir 4-5 Tage auf dem Bahnhof herum, bevor es los<br />

ging.<br />

Wir hatten die Aufgabe, die Kühe zu füttern, dazu gab es nur Heu, die Waggons zu entmisten<br />

und die Kühe zu tränken.Dazu mußten wir das Wasser aus den Lokomotivpumpen<br />

heranschaffen.Gemolken wurden die Kühe nicht, was später zu beschreibende Folgen<br />

hatte.<br />

Was tat sich in <strong>Schlawe</strong> auf dem Bahnhof ? Nach den ersten beiden Nächten waren die<br />

ersten deutschen Jungen verschwunden. Die Russen teilten die Pfleger neu ein, indem<br />

sie die Schafwaggons schlossen. Die Schafe bekamen pro Tag einen Ballen Heu und<br />

einen Eimer Wasser und waren damit versorgt. Ansonsten blieben die Waggons verschlossen.<br />

Wir mußten natürlich auch essen. Dabei stellten wir fest, daß die Jungen und Mädchen<br />

aus anderen Dörfern von ihren Kommandanten gut mit Brot, Speck, Zucker, Salz und<br />

Zwiebeln versorgt waren. Wir Neuenhagner hatten nur unseren Graupenbeutel, den wir<br />

in einem Topf mit Milch kochten. Er hielt zwei Tage vor, dann wurde der Inhalt blau<br />

und wir schmissen ihn weg. Nun war guter Rat teuer. Für etwas Geld ( Zlotys ), die wir<br />

von zu Hause mitbekommen hatten, kauften wir am Kiosk <strong>des</strong> Bahnsteig`s Limonade.<br />

Dabei wollten die Polen unbedingt die Pfandflaschen wieder haben, was wir aus gutem<br />

Grunde zu umgehen wußten.<br />

Nun molken wir doch diese oder jene Kuh, füllten die Milch in die Flaschen und verkauften<br />

sie an polnische Reisende auf dem Bahnsteig. Dadurch hatten wir wieder Geld,<br />

um uns Brot, Brötchen und etwas Wurst, meist Leberwurst, die sich so herrlich strecken<br />

ließ, zu kaufen.<br />

Davon lebten wir praktisch ca. 10 Tage lang. Nur Milch hatten wir im Überfluß zu trinken<br />

und die gab es sogar umsonst.<br />

Die russischen Soldaten versuchten <strong>des</strong> Nachts in die Waggons zu kommen, die den<br />

Mädchen zugeteilt waren. Die Mädchen verriegelten ihre Waggons von innen und wir<br />

Jungen liefen in der Nacht Patrouille vor ihren Waggons. So ließen die Russen von ihrem<br />

Vorhaben ab.<br />

Endlich, nach einigen Tagen, setzte sich der Zug in Bewegung, keiner wußte wohin. Zu<br />

unserem Erstaunen fuhr er nach Westen in Richtung Stettin. Die ganze Fahrerei hatte<br />

wenig mit Fahren zu tun. Es war mehr ein Schleichen, denn wir brauchten bis Stargard<br />

zwei Tage.<br />

Auf dieser Fahrt gab es ein lustiges Erlebnis. Als ich morgens auf einem Bahnhof zwischen<br />

Köslin und Stargard meinen Kopf aus dem Waggon steckte um nach dem Wetter<br />

zu sehen, lachten sich die Mädchen und Jungen aus den Nachbarwaggons halbtot über<br />

mich. Ich mußte auch furchtbar aussehen, denn mir hatten die Kühe mit ihren dreckigen<br />

Schwanz in der Nacht, während ich auf dem Mittelgang schlief, das Gesicht gestreichelt<br />

und so war es total verschmiert.Zum Glück gab es eine Lokpumpe auf dem Bahnhof,<br />

unter der ich mich gründlich waschen konnte.<br />

Als wir in Stargard ankamen, wurde erstmal der Zug durch die Polen geteilt und stand<br />

dann anderthalb Tage auf zwei Gleisen nebeneinander.<br />

76


Hier in Stargard trafen wir den ersten Menschen aus Deutschland, einen Lokführer, der<br />

einen Reparationstransport nach Rußland fuhr. Von ihm ließen wir uns etwas über die<br />

Verhältnisse in der damaligen sowjetischen Besatzungszone erzählen. Er versuchte uns<br />

Einiges zu erklären, auch die Gründung der SED und die Wahlen in der sowjetischen<br />

Besatzungszone. Wir verstanden damals gar nichts, weil wir schon fast zwei Jahre keine<br />

Zeitung gelesen, kein Radio gehört hatten und überhaupt nicht wußten, was in der Welt<br />

passiert.<br />

Dann ging die Fahrt weiter nach Posen.Unterwegs wurde feste ausgemistet und wir bemühten<br />

uns immer rauszubekommen, ob der Zug auf einem Bahnhof hält. Merkten wir<br />

an der Geschwindigkeit, daß damit nicht zu rechnen ist, schmissen wir unserern Kuhmist<br />

immer auf den Bahnsteig, nachdem wir ihn schon vorher an der Waggontür zurechtgelegt<br />

hatten. Es war für uns eine diebische Freude zu sehen, wenn Polen, die das merkten,<br />

Drohgebärden hinter uns herschickten.<br />

In Posen fuhren wir am Abend bei Dunkelheit ein. Nie werde ich das Bild vergessen, als<br />

vor uns im Tal ein Lichtmeer auftauchte, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen<br />

hatte. Vor dem Krieg hatte ich nie eine Großstadt bei Licht gesehen und während <strong>des</strong><br />

Krieges waren die Städte alle verdunkelt. Danach kannte ich nur mein Dorf. Es war für<br />

mich ein überwältigender Anblick, der sich mir fest eingeprägt hat.<br />

In Posen merkten die Russen plötzlich, das ein Waggon mit Schafen fehlt und fluchten<br />

mörderisch.In Stargard hatten die Polen wohl gemerkt, daß die Schafwaggons unbewacht<br />

sind und haben beim Rangieren einfach einen Waggon abgekoppelt .Nun wurden<br />

die Soldaten wachsam und kreisten bei jedem Halt wie die Herdenhunde um den Zug.<br />

Von Posen ging die Fahrt nach Breslau. Wir kamen gegen Abend dort an und standen<br />

dann die ganze Nacht auf dem Bahnhof herum. Plötzlich ging in der Nacht eine wilde<br />

Schießerei los .Wir lagen alle flach in den Waggons zwischen unseren Kühen und wagten<br />

kaum die Waggontür zu öffnen, um nachzuschauen, was los ist. Wir haben auch<br />

nicht viel gesehen, nur soviel erfahren, daß irgendwelche Polen versuchten, sich an den<br />

Waggons zu schaffen zu machen. Da das den Russen nicht paßte, eröffneten sie kurzerhand<br />

das Feuer, welches die Polen erwiderten. Zu Schaden ist aber niemand gekommen<br />

und das ganze dauerte nur kurze Zeit, dann war wieder Ruhe.<br />

Am nächsten Morgen ging die Fahrt weiter und wir gelangten nach Schweidnitz. Dort<br />

wurden wir von einem russischen Kommando empfangen und mußten die Kühe entladen.<br />

Jetzt wußten wir, daß es nicht nach Rußland ging und uns war schon ein wenig<br />

wohler.<br />

Die Russen hatten auch was zu Essen mitgebracht, nämlich einige Kisten Tomaten, aber<br />

nichts dazu. Wir stürzten uns, heißhungrig wie wir waren, über die Tomaten, ohne das<br />

uns jemand vor den Folgen warnte. Durch den tagelangen Genuß von nur Brot und<br />

Milch ohne Obst oder Gemüse hatten wir fast schon Skorbut und unsere Zähne waren<br />

lose und das Zahnfleisch entzündet. Die Folgen auf das Essen der Tomaten stellten sich<br />

dann auch bald ein und wir bekamen alle einen fürchterlichen Durchfall.<br />

Wir trieben nun nach dem Entladen die Kühe zur Stadt hinaus noch einige Kilometer<br />

durch die Gegend auf das Gut Rauske, welches von den Russen bewirtschaftet wurde.<br />

Auf dem Wege dorthin begleiteten uns in der Stadt Scharen von Zigeunern, die uns unbedingt<br />

aus der Hand lesen wollten und natürlich dafür Geld erwarteten. Da wir keins<br />

hatten, was sie nicht glaubten, hatten wir alle Mühe, uns die aufdringlichen Frauen und<br />

Kinder vom Leib zu halten. Auch die russischen Soldaten versuchten dabei ihr Bestes,<br />

hatten aber auch große Mühe. Sie hatten aber wohl mehr Angst um ihre Kühe, als um<br />

uns.<br />

77


In Rauske machten uns die dort arbeitenden Deutschen bittere Vorwürfe zum Zustand<br />

der Kühe, deren Euter meist alle vereitert waren, weil wir sie nicht gemolken hatten.<br />

Wir bekamen dort gut zu essen, übernachteten auf dem Gut und fuhren am nächsten Tag<br />

mit unseren russischen Begleitsoldaten in einem Personenzug von Schweidnitz aus wieder<br />

zurück. Auf der Heimfahrt versuchten im Zug einige Polen, die uns als Deutsche<br />

erkannten, noch mehrmals zu provozieren. Die russischen Begleitsoldaten jedoch bewachten<br />

unsere Abteile streng und ließen keine Angriffe auf uns zu.<br />

Die Ganze Reise hat etwa 10 - 12 Tage gedauert und nicht nur wir waren froh und glücklich,<br />

als wir wieder zu Hause angekommen waren.<br />

IV. Pavel Plombon – ein polnischer Bauer<br />

Ende 1946 verdichteten sich in unserem Dorf Neuenhagen-Abtei welches bis dahin immer<br />

noch von den Russen als Sowchose betrieben und verwaltet wurde, die Gerüchte,<br />

dass ab 1.1.1947 das Dorf an die Polen übergeben wird und die russischen Soldaten<br />

abziehen.<br />

Es wurde bekannt, dass diejenigen, die von den Polen zur Arbeit geholt werden nichts<br />

dafür bekommen und nichts Gutes zu erwarten hätten. So beschlossen einige Jungen,<br />

sich selbst beim Polen zu verdingen. Wir erhofften uns davon eine anständige Behandlung<br />

und auch einen eventuellen Lohn.. Also zogen wir im Dezember los und klapperten<br />

die umliegenden Dörfer ab, in denen die Polen schon Einzug gehalten hatten. In Abtshagen<br />

hatten wir Erfolg und fanden alle eine Arbeitsstelle. Wir, das waren 4 Jungen aus<br />

Neuenhagen und ein Mädchen. Die drei anderen Jungen waren keine Neuenhäger, sondern<br />

Jungen aus Ostpreußen, die durch irgendwelche Umstände von ihrem Treck abgekommen<br />

waren und in Neuenhagen hängen blieben. Auf ihre Namen kann ich mich<br />

nicht mehr besinnen. Das Mädchen, Ruth Garbe, bekam eine Stelle als Hausmädchen<br />

beim polnischen Lebensmittelhändler und Gastwirt im Ort.<br />

Ich fand Arbeit bei Pawel Plombon, mitten im Dorf. Außer mir arbeitete noch ein deutscher<br />

Junge von ca. 15 Jahren auf dem Hof und wir bearbeiteten mit dem Bauern sein<br />

Land und versorgten das Vieh.<br />

Er hatte zwei Pferde, 4 oder 5 Kühe und einige Schweine. Der Bauer war ca. 35 Jahre alt<br />

und hatte eine hübsche Frau und zwei Mädchen im Alter von 3 und 7 Jahren.<br />

Wer und was war Pawel Plombon ?<br />

P. P. stammte aus einer französischen Hugenottenfamilie, die in der zeit Friedrich <strong>des</strong> II.<br />

über Preußen nach Polen kam. Er geriet 1939 in deutsche Gefangenschaft aus der er in<br />

die Sowjetunion entfloh. Er sprach fließend deutsch, während seine Frau und seine Kinder<br />

kein Wort deutsch sprachen.<br />

Eines seiner Kriegserlebnisse die er mir erzählte war, dass die polnischen Soldaten 1939<br />

tatsächlich geglaubt haben, die deutschen Panzer seien aus Pappe. So hätte er selbst erlebt,<br />

wie polnische Kavallerie mit Säbeln die deutschen Panzer attackiert haben, was<br />

ihnen aber nicht gut bekommen sei..<br />

Er bestätigte damit eine deutsche Meldung, an der ich immer gezweifelt habe.<br />

1945 kam er dann mit der 2. polnischen Armee bis Torgau, wurde noch in den letzten<br />

Kriegstagen verwundet und als Leutnant entlassen. Er siedelte dann in Abtshagen. Er<br />

war Mitglied der Polnischen Kommunistischen Partei, in der er der Fahnenträger der<br />

Kreisorganisation <strong>Schlawe</strong> war. Das hinderte ihn nicht daran als gläubiger Katholik<br />

auch jeden Sonntag die Orgel in der Kirche zu spielen. Er war insofern nationalistisch,<br />

als er behauptete, nicht die Russen sondern die Polen hätten Berlin erobert, obwohl jeder<br />

heute weiß, dass das polnische Kontingent bei der Eroberung Berlins mit der 1. polnischen<br />

Armee nicht das Größte war.<br />

78


Er hatte zu uns beiden Deutschen, die bei ihm arbeiteten keine feindliche Einstellung. Im<br />

Gegenteil., er behandelte uns sehr gut und zahlte im Monat 300 Zlt. Lohn. Dafür konnte<br />

man sich zwar nur eine Flasche Schnaps kaufen, aber es war wenigstens etwas Geld.<br />

Gegessen haben wir an seinem Tisch. (das war deutschen Bauern, die im Krieg mit ausländischen<br />

Arbeitern wirtschafteten streng verboten und konnte bei Verstößen im KZ<br />

enden.)<br />

Ach seine Frau behandelte uns gut. Nur seine Töchter machten manchmal dumme Bemerkungen<br />

zu uns, die sie wohl bei anderen Kindern aufgeschnappt haben. Wenn der<br />

Vater davon erfuhr oder es selbst merkte, hatte er eine recht lockere Hand, mit der er<br />

seine Töchter zur Räson brachte.<br />

P. P. bot mir an, als die Polen in Neuenhagen Einzug hielten und feststand, dass wir<br />

später evakuiert werden, bestimmte Wertsachen, die wir nach Deutschland retten wollten,<br />

bei ihm unterzustellen. Das tat dann meine Mutter auch und wir deponierten einige<br />

Koffer mit Sachen in meinem Zimmer bei ihm. Plombon kannte seine Landsleute und<br />

ihre Absichten.<br />

Wir waren jung und wollten leben. Dazu brauchten wir Geld.. So gingen wir Sonntags<br />

nach Neuenhagen, spionierten in den verlassenen Höfen herum und suchten nach verkaufbaren<br />

Gegenständen, die uns die Polen gerne abnahmen.<br />

Wenn es dunkel war fuhren wir mit einem Pferdegespann unserer Bauern in das Dorf<br />

und holten Elektromotore, Grasmäher, Rübenschneider, Sensen u.ä. um es zu verscherbeln.<br />

Vor den anwesenden Russen hatten wir keine Angst. Wir kannten ihre Soldaten<br />

und Patrouillenzeiten, so dass wir nie in Konflikt mit ihnen kamen.<br />

Diese kleinen Diebstähle auf den Höfen der Bauern denke ich, wird uns heute keiner<br />

mehr verübeln oder Schadenersatzforderungen an uns stellen. Die Besitzer der Höfe<br />

waren schon lange in Deutschland und ihre Höfe standen leer.<br />

Das erzielte Geld wurde bei unseren abendlichen Gelagen regelrecht versoffen. Fast<br />

jeden Abend trafen wir uns bei Ruth Garbe , spielten Karten, rauchten wie die Schlote<br />

und tranken was wir bekommen konnten. Nur ich habe auch meine Mutter von dem Geld<br />

unterstützt. Die anderen Jungen waren alle elternlos und brauchten niemand etwas abgegeben.<br />

Uns hat nie einer etwas zu leide getan., nur einmal, als Wahlen in Polen waren tauchten<br />

Polizisten auf. Sie fragten was das für eine Versammlung sei und schickten uns nach<br />

Hause. P.P. bei dem ich mich beschweren und rechtfertigen wollte, grinste nur und<br />

meinte, wir müssten nicht grade solch einen Tag für unser Beisammensein aussuchen<br />

.Eines Tages tauchte bei uns ein junger Mann von ca. 25 Jahren auf und stellte sich vor.<br />

Er war ein waschechter Berliner mit dem polnischen Namen Kazmirek. Er war der Sohn<br />

polnischer Schnitter, die in den 20er Jahren nach Berlin gezogen waren und Deutsche<br />

wurden. Er arbeitet bei seinem polnischen Onkel, der in Alt - Wiek gesiedelt hatte. Er<br />

war als deutscher Unteroffizier 1945 in englische Gefangenschaft geraten. Im Gefangenenlager<br />

gab er an, das er einen Onkel in Polen habe und ließ sich dorthin entlassen, weil<br />

er damit sofort die Gefangenschaft hinter sich hatte. Er wollte so schnell wie möglich<br />

nach Hause nach Berlin, zu seinem Kopfkissenzerwühler, wie er immer wieder sagte. Er<br />

hoffte, dass wir ihm helfen können. Wir konnten. Meine Mutter ließ sich für ihn im April<br />

1947, als die Evakuierung vorbereitet wurde einen Umsiedlerausweis mitgeben. Das<br />

war ganz einfach und er brauchte sich dazu nicht einmal selbst auf das Bürgermeisteramt<br />

zu begeben und durch irgendwelche Dokumente nachweisen, dass es ihn überhaupt gibt.<br />

Meinen Umsiedlerausweis besitze ich heute noch.<br />

Es dauerte dann noch bis in den Monat Juli 1947 bis wir auf die Fahrt nach Deutschland<br />

mussten.<br />

79


Dann war es so weit. Meine Familie hat Pawel Plombom mit dem Fuhrwerk nach<br />

<strong>Schlawe</strong> gefahren. Viele mussten zu Fuß laufen. Ich weiß nicht mehr, ob die Polen überhaupt<br />

Fahrzeuge für den Transport bereitstellten. P .P. brachte auch die bei ihm sichergestellten<br />

Wertgegenstände in den Koffern mit, die war Dank Kasimir, der auch mit uns<br />

kam, heil nach Deutschland brachten.<br />

In <strong>Schlawe</strong> wurden wir noch 8 Tage in der Mühle untergebracht und bewacht. Jeden<br />

Abend machten die polnischen Bewacher Kontrollen und bestahlen uns dabei. Wir hatten<br />

insofern Glück, dass wir Kasimir bei uns hatten. Da er fließend polnisch sprach, die<br />

Polen das aber nicht wussten und merkten, schlich er den ganzen Tag um die polnischen<br />

Polizisten herum und hörte worüber sie sich unterhielten. Er bekam dabei mit, was und<br />

wo sie in der kommenden Nacht suchten und warnte uns rechtzeitig, so dass wir unter<br />

den gegebenen Umständen unsere Wertsachen in Sicherheit bringen konnten. P. P. kam<br />

nach drei Tagen noch einmal nach <strong>Schlawe</strong> ins Lager und brachte uns soviel zu essen,<br />

dass wir bis Deutschland damit reichten.<br />

Endlich wurden wir in Waggons verladen und unsere Fahrt endete nach mehreren Tagen<br />

in Görlitz auf dem Bahnhof, von wo es bald weiterging nach Meiningen. Bei der Abfahrt<br />

in <strong>Schlawe</strong> fuhr aus dem Gegengleis auch ein Güterzug mit Menschen ein. In der geöffneten<br />

Waggontür je<strong>des</strong> Waggons stand ein Polizist mit gezogener Pistole. Das waren<br />

Polen, die aus dem Gebiet hinter dem Bug evakuiert wurden und in Pommern angesiedelt<br />

wurden.<br />

Nach einer 13 Tagen Quarantäne, die ich im Krankenhaus in Zella-Mehlis zubrachte,<br />

wurden wir dann auf das Land Thüringen aufgeteilt und unser Dorf wurde in alle Winde<br />

auseinandergerissen.<br />

Kasimir verschwand so schnell wie möglich nach Berlin und ward nie mehr gesehen.<br />

Wir kamen nach Friemar im Kreis Gotha und wurden bei dem Großbauern Alfred Heyn<br />

untergebracht. Dabei haben wir es nicht schlecht getroffen. Wir haben heute noch ein<br />

gutes Verhältnis zu seinen Kindern.<br />

Als ich in den 60. Jahren nach Abtshagen fuhr um Pawel Plombon zu besuchen war er<br />

nicht mehr da. Er war nach Breslau verzogen. Das bestätigte mir der Förster Pudzik aus<br />

Siecemin, bei dem ich 1996 Urlaub gemacht habe. Er hat ihn gut gekannt, denn er war<br />

Organist in Siecemin und daher sein Kollege.<br />

80


Błażej Gibaszek 14<br />

Meine 40 Jahre<br />

Nach Scheddin kamen meine Eltern, Stanislawa und Zygmunt, im September 1945.<br />

Vater war Berufssoldat, Absolvent der Unteroffiziersschule in Dubno, Teilnehmer der<br />

Schlacht um Kolberg, 1939 verschickt nach O<strong>des</strong>sa. Er war nur Unteroffizier, Offiziere<br />

wurden nach Katyn geschickt. Seine Einheit stationierte in Vietzke, sie patrouillierten<br />

das Gebiet um <strong>Schlawe</strong> herum: Freetz, Coccejendorf , Wilhelmine, Stemnitz. Er war<br />

Zeuge, wie die Russen die Bahnschienen nach Stolpmünde und Pollnow abmontierten.<br />

Dagegen konnte auch die die in <strong>Schlawe</strong> stationierte Bahnpolizei nichts machen. Vater<br />

sagte, dass das polnische Militär nur zum Aufpassen und zur Überwachung benötigt<br />

wurde. Sogar an der Front habe er nie so viel Angst gehabt wie jetzt in den "neuen Zeiten".<br />

Er sprach von dem Pferdeunter -stand in der Peester Kirche und "von der Herrschaft,<br />

die nicht polnisch spricht". 1947 zog er die Uniform aus und wurde Dolmetscher,<br />

wie viele seiner ehemaligen Kollegen.<br />

In Scheddin waren während <strong>des</strong> Krieges nur Frauen und Kinder, drei alte Männer. Die<br />

Höfe hatten alles, Kühe, Pferde, Schweine, landwirtschaftliche Geräte und gut ausgestattete<br />

Wohnungen. Die großen Bauernhöfe hatten die Russen besetzt. Der Stab, der die<br />

besetzten Höfe beaufsichtete, lag in Krolow. Die Soldaten arbeiteten in Gruppen, eine<br />

auf den Feldern, die andere betreute das Vieh.<br />

Sie requirierten Pferde und Kühe, plünderten die Häuser aus. Nach einiger Zeit übernahmen<br />

Zivilisten die Höfe. Die Russen überließen den neuen Nutzern nur ein Pferd und<br />

eine Kuh. Der Anfang war schwer mit nur einem Pferd. Die neuen Bauern stammten<br />

meistens aus Zentralpolen, wo es noch keinen elektrischen Strom gab, auch konnten sie<br />

nicht mit den landwirtschaftlichen Geräten umgehen. Erst als die ehemaligen Zwangsarbeiter,<br />

die bei deutschen Bauern arbeiten mussten, hier angesiedelt wurden, wurde es<br />

besser. Ihnen war die Arbeit mit Maschinen und Strom bekannt. Wenn z.B. eine Sämaschine<br />

kaputtging, nahm man einfach eine andere, denn niemand konnte sie reparieren<br />

und für einen Fachmann hatte man kein Geld.<br />

Die Bauernhöfe wurden nicht nur von Russen geplündert, es kamen auch als Russen<br />

verkleidete Polen, die stahlen, was nicht angewachsen war, sie "organisierten". Jedoch<br />

diejenigen, die 1945 umgesiedelt wurden, d.h. vor der Welle der Eintagsfliegen, fanden<br />

wohl ausgestattete Bauernhöfe vor. Später nahm man den Bauern die Maschinen weg,<br />

um Produktionsgenossenschaften und Maschinenparks einzurichten. Die Scheddiner<br />

Bauern haben sich erfolgreich dagegen gewehrt. Wir polnischen Kinder hatten guten<br />

Kontakt zu den deutschen. Wir spielten zusammen und lernten so die Sprache. Schlimmer<br />

war es mit den Erwachsenen, sie waren misstrauisch. Da sich in der Umgebung<br />

14 Blazej Gibaszek – 1945 siedelte er mit seinen Eltern und Geschwistern Sylwester,<br />

Aldona und Edward nach über. Ab 1966 bis 2006 bewirtschaftete der häutige Rentner<br />

zusammen mit Ehefrau und Sohn Sylwester einen Bauernhof. In den Jahren 1983 bis<br />

2007 war er Dorfschulze, wie früher sein Vater Zygmunt. (1947 bis 1954)<br />

81


deutsche Soldaten versteckt hielten, brachten einige Frauen unter dem Vorwand, Pilze zu<br />

sammeln, Proviant in den Wald. Wenn die Russen einen Wehrmachtsoldaten ergriffen,<br />

schickten sie ihn in den Westen. Fingen sie jedoch einen SS—Mann, wurde er ins Ungewisse<br />

verschoben. Die neue Verwaltung kämpfte gegen Plünderei und Versand der<br />

gestohlenen Sachen an, meist ohne Erfolg. War dieses Gebiet doch "erobert" und die<br />

Sachen "erbeutet", wie es die Russen nannten und die Polen anfangs beistimmten.<br />

Nach Scheddin kamen viele Neusiedler aus der Posener und Warschauer Gegend. Sie<br />

verstanden sich gut und arbeiteten zusammen. Sie arbeiteten gemeinsam auf den Feldern,<br />

bei der Ernte, beim Pflügen und Säen. Sie feierten auch gemeinsam Hochzeiten<br />

und Kindtaufen. Alkohol kam aus der Brennerei in Krolow. Gemeindevorsteher und<br />

Dorfschulzen ermunterten die Bauern zur freiwilligen Nachbarschaftshilfe. Alles ging so<br />

lange gut, bis man für Produktionsgenossenschaften agitierte. Die Bauern waren dagegen,<br />

sie verkauften sogar heimlich Vieh und Maschinen.<br />

"Die ersten zwei Jahre wohnten wir zusammen mit der polnischen Bauersfamilie. Wir<br />

kamen gut miteinander aus, was auf einigen Höfen nicht natürlich war. In den deutschpolnischen<br />

Familien wurde die Arbeit geteilt, einmal kochte die Deutsche, dann die Polin.<br />

Die Polen wohnten meistens im besseren gößeren Teil <strong>des</strong> Hauses. Er war mit wenig<br />

Habe ins Dorf gekommen, fand auf dem neuen Hof alles vor, vor allem die Hauptlebensmittel,<br />

Kartoffeln, Korn, Schweine. Der Pole hatte das Recht zu entscheiden, er<br />

durfte die Arbeit und die Zeit bestimmen, wie viel und wann Schweine geschlachtet<br />

werden usw. Er konnte, wann und immer er wollte, die Deutschen aus der Wohnung<br />

weisen, sie zum Abtransport nach Deutschland anmelden und nur mit persönlichen Sachen<br />

zum Sammelpunkt bringen. Der neue Bauer bestimmte sogar, was die Deutschen<br />

mitnehmen durften. Es kam vor, dass ihnen sogar unterwegs noch das Wenige geraubt<br />

wurde". Dies und noch viel mehr erzählte mein Vater.<br />

Die Grundschule besuchte ich in Natzmershagen. In Scheddin war zwar eine Schule,<br />

aber keine Kinder. In Natzmershagen lernten auch die Kinder aus Schönenberg. Der<br />

erste Lehrer der 4-klassigen Schule hieß Jozefowski, nach einem Jahr kam Frau Wartalska.<br />

Die Schüler gingen Sommer und Winter zu Fuß in die Schule. Im Winter war<br />

meist kein Unterricht, denn es gab kein Heizmaterial. Zur Kirche gingen wir nach Lanzig<br />

ab 1946, Pfarrer Stefan Springe.<br />

Vor dem Krieg befand sich in Scheddin ein großer Pferdezuchtbetrieb für die deutsche<br />

Armee. Bis 1946 war das Postamt in Betrieb, das Sägewerk bis 1950. Die Einrichtung<br />

der Post übernahmen die Ämter in Lanzig und Karzin. Nach <strong>Schlawe</strong> gab es direkte<br />

Telefonverbindung. Im Dorf waren noch: Polizeiwache, ein Geschäft, ein Restaurant mit<br />

Küche. Hier wurde oft gefeiert und, wie Vater erzählte, jeder brachte Essen mit: gebratene<br />

Hähnchen, Entchen, Brot, Butter, Kuchen. So war es auch bei Hochzeiten und<br />

Kindtaufen. Es gab keine Geschenke, nur Essen. Alle wurden satt. Im Saal stand ein<br />

Billardtisch und ein Grammophon mit Kurbel, leider nur Platten mit deutscher Musik.<br />

Kinder durften an diesen gesellschaftlichen Treffen nicht teilnehmen, sie mussten ins<br />

Bett. Kühehüten war für uns Kinder immer schön. Es kam vor, dass die Siedler selbst<br />

nicht satt wurden, aber für ihre Pferde sorgten sie immer, waren sie doch ihre Arbeitskräfte.<br />

Traktoren gab es erst ab 1950, jedoch auf dem schweren feuchten Boden waren<br />

Pferde unersetzlich.<br />

Angehört und aufgeschrieben - Slawoj Zawada<br />

82


Mieczysław Krych 15<br />

Gleich nach dem Krieg<br />

Mit 18 Jahren kam ich zum ersten Mal nach Pustamin, im Herbst 1945. Mein Vater<br />

Wladyslaw hatte hier schon früher einen Bauernhof ausgesucht, war danach wieder in<br />

sein Dorf Gasiorow zurückgekehrt, um seine Familie zu holen. Mich schickte er aber<br />

gleich nach Pustamin. Ich sollte auf den Hof aufpassen, damit er von anderen nicht besetzt<br />

würde. Vier Wochen lang lebte ich mit den deutschen Hofbesitzern zusammen. Wir<br />

passten auf, dass uns der Hof nicht weggenommen wird, im Oktober 1945 kam dann<br />

meine Familie nach: Vater, Mutter Helena und vier Geschwister (Zdzislawa, Piotr, Stanislaw,<br />

Ignacy). Von unserem Dorf aus bis nach <strong>Schlawe</strong> waren sie mit dem Zug gefahren,<br />

dann bis Pustamin mit der "Zwei“, d.h. mit Wagen und zwei Pferden. Sie hatten<br />

nämlich viel Gepäck.<br />

Unsere Deutschen, zwei ältere Menschen mit Tochter, waren "in Ordnung". Ihr Sohn<br />

war im Krieg gefallen. Später kam noch ein Deutscher aus dem Osten dazu. Er sprach<br />

polnisch. Sie haben uns alle ihre Sachen überlassen, die sie im Keller und auf dem Boden<br />

ver -steckt hatten, sogar auf dem Feld. Vor den Russen versteckt, uns aber gegeben,<br />

das heißt schon was. Die Sowjets hatten ja das Gut in Besitz genommen, wo sie auch die<br />

requirierten Kühe unterstellten.<br />

Wir wohnten mit den Deutschen zusammen, benutzten gemeinsam die Küche, jedoch<br />

jeder zur abgemachten Zeit, denn jeder kochte auf seine Art. Nach der Ankunft meiner<br />

Familie haben sie uns die größeren Zimmer überlassen, schon der Kinder wegen. Die<br />

erste Kartoffel -und Rübenernte mussten wir noch mit Handhacken hinter uns bringen.<br />

Heute nicht mehr denkbar. Im Stall standen eine Kuh und ein Pferd. Bei der ersten Ernte<br />

1946 halfen alle, Frauen und Männer, Bit Sensen und einfachen Maschinen. Geerntet<br />

wurde meistens Roggen und Hafer.<br />

Warum Pustamin ? Von zu Hause aus waren wir sehr arm, wohnten zur Miete bei einem<br />

reichen Bauern. Nach dem Krieg wollte mein Vater in den "wiedererlangten Gebieten",<br />

wie die Westgebiete damals genannt wurden, etwas Neues für uns aufbauen. Zuerst<br />

Pennekow, aber ein anderer Pole hat ihn den Hof weggenommen. So kam er nach<br />

Pustamin, wo wir heute noch wohnen. Ich habe in der Wirtschaft mitgeholfen, später in<br />

der Ziegelei in Klein Pennekow gearbeitet. Die Ziegelei steht nicht mehr, nur noch das<br />

Betonfundament und der Transformator.<br />

Die ersten Polen in Pustamin hielten sehr zusammen. Meistens trafen sie sich bei uns.<br />

An Hochzeiten und Taufen nahmen alle teil. Gottesdienste hielt der evangelische Pastor<br />

ab, in deutsch. Wir nahmen nicht daran teil. Erst 1946 hielt der katholische Pfarrer aus<br />

Lanzig für uns Messen in polnischer Sprache, jeden 2. Sonntag.<br />

In Marsow und in Peest waren auch schon katholische Messen. Mit den Russen kamen<br />

wir ganz gut aus. Für "Selbstgebrannten" konnten man mit ihnen alles erledigen. Sie<br />

15<br />

Mieczyslaw Krych – wohnt mit Ehefrau Stanislawa in Postomino, aber auf einem<br />

anderen Hof als sein Vater 1954.<br />

83


hatten das Gut besetzt, plünderten viel, was einige Polen auch machten. Wir lebten von<br />

dem, was in der Wirtschaft produziert wurde. Hatte man eine Kuh, dann auch Milch,<br />

Sahne und Butter; Hühner gaben Eier und Fleisch. An ein Aben<strong>des</strong>sen, das die Deutschen<br />

für mich gekocht hatten, kann ich mich gut erinnern. Die Bäuerin hatte Äpfel und<br />

Kartoffeln zu einem Brei zusammen gekocht. Ich konnte das nicht essen.<br />

Hier in Pustamin habe ich meine Frau kennengelernt. Das Ehejubiläum von 50 Jahren<br />

haben wir gesund hinter uns gebracht. Wir stammen zwar aus Nachbarorten, Gasiorow<br />

und Trzesnow, haben uns aber früher nicht gekannt.<br />

Jede zwei Wochen fanden Tanzveranstaltungen in den Gemein<strong>des</strong>älen von Pennekow<br />

und Pustamin statt. Es spielten 4- manchmal 5-Personen- Kapellen.<br />

Bei den Erntearbeiten half jeder jedem, manchmal 20 Personen auf einem Feld. Bei der<br />

gemeinsamen Arbeit wurde viel gelacht, gesungen und Witze erzählt. Die Arbeit war<br />

schwer, aber nicht langweilig. Wir lebten einfach, aber irgendwie zufriedener. Meine<br />

Frau und ich haben keine Güter mit unserer Hände Arbeit errungen, jedoch ehrlich waren<br />

wir immer.<br />

Wir haben sechs Kinder. Basia arbeitet im Gemeindeamt, Wieslawa ist Bäckerin in Körlin,<br />

Czeslaw arbeitet als Bergmann in Schlesien, Grzegorz ist Konditor in Stolp, Gabriel<br />

und Sylwester wohnen noch bei uns auf dem Hof.<br />

Angehört und aufgeschrieben - Slawoj Zawada<br />

84


Wilfried Lemm 16<br />

Die erste Flucht und die endgültige Vertreibung<br />

(die letzten Monate 1944, 1945 und die erste Zeit 1946)<br />

Wir wohnten in <strong>Schlawe</strong>, Kösliner Vorstadt 74A mit unseren Eltern, Paul Reinhold<br />

Lemm und Frieda Margarete Lemm, geb. Pomplun. Sie hatten sieben Kinder: Helmar<br />

*1931, Paul Horst *1932, Edeltraut *1935, Irmgard *1936, Wilfried * 1937, Helga<br />

*1938 und Rita *1940.<br />

Am 06.März 1945 flüchteten wir mit zwei Fuhrwerken von unserem Hof in <strong>Schlawe</strong>.<br />

Das erste Fuhrwerk war ein Planwagen, in dem wir Kleinen im molligen Bettzeug untergebracht<br />

waren. Vorn auf dem Bock saßen Vater und Mutter. Das zweite Fuhrwerk,<br />

beladen mit Proviant für die Familie und die Pferde, wurde von Helmar und Paul gelenkt.<br />

Unser Vater hatte ihnen aufgetragen, unter allen Umständen unmittelbar hinter<br />

seinem Wagen zu bleiben.<br />

Nach ca. 30 Kilometern wurden wir von russischen Panzern überholt. Es folgte der Tross<br />

der russischen Armee. Sie spannten einfach die beiden Pferde - der ganze Stolz unseres<br />

Vaters - aus seinem Fuhrwerk aus, mit denen er bis zum vorletzten Tag der Flucht Langholz<br />

ins nahegelegene Sägewerk gefahren hatte. Die verbliebenen zwei Pferde mussten<br />

jetzt beide Wagen ziehen.<br />

Ende März 1945 kehrten wir ins lichterloh brennende <strong>Schlawe</strong> zurück. Wir konnten<br />

<strong>des</strong>wegen nicht auf unseren Hof zurückkehren. Wir blieben zunächst bei der Familie<br />

Pieper in Rötzenhagen, die wir auf der Rückflucht `aufgelesen´ hatten. Jetzt mussten<br />

zwei Pferde drei Wagen ziehen.<br />

Ende Mai 1945 kehrten wir zurück auf unseren Hof.<br />

Das Oberhaupt der Familie Zibulsky, die im Vorderhaus an der Straße unseres Hofes<br />

wohnte, erklärte unseren Eltern, dass er nun der Bauer sei, und wenn sie wollten, könnten<br />

sie gerne für ihn arbeiten.<br />

Unseren Eltern blieb in dieser Situation nichts weiter übrig, als dieses Angebot anzunehmen.<br />

Von Ende Mai 1945 bis zum 15.06.1946 lebten wir unter polnischer Herrschaft.<br />

Nach einem Umtrunk mit selbstgebranntem Schnaps im Hause Zibulky am 22.März<br />

1946 verstarb unser Vater einen Tag später an Alkoholvergiftung.<br />

Die polnische Polizei hatte kein Interesse die näheren Umstände aufzuklären. In dieser<br />

Zeit galt ein Menschenleben nicht viel. Unser Großvater, Paul Pomplun, beschaffte<br />

durch seine Beziehungen als <strong>ehemaliger</strong> Ortsbauernführer einen schlichten Holzsarg.<br />

Bei einsetzender Dunkelheit <strong>des</strong> 23. März spannten meine Brüder Helmar und Paul<br />

16 Wilfried Lemm – geb. 1937 in <strong>Schlawe</strong>, zusammen mit seinen Eltern Reinhold und<br />

Frieda Margarete, Mädchenname Pomplun, und Geschwistern wohnte er in der Kösliner<br />

Vorstadt 74A. Wohnt heute in Harrislee.<br />

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Horst die Pferde an und fuhren zum <strong>Schlawe</strong>r Friedhof. Dort begruben sie unseren Vater.<br />

Unserer Mutter blieb keine andere Wahl: Entweder weiter als geduldete Witwe mit sieben<br />

Kindern auf dem vormals eigenen Hof die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen,<br />

oder die geliebte Heimat zu verlassen und aus der Ferne zu singen: „Wenn in stiller<br />

Stunde, Träume mich umweh´n.......“.<br />

Am 15.Juni 1946 stand unsere Mutter mit ihren sieben Kindern, alle „dreiwandig“ gekleidet,<br />

das Handgepäck war vom Gewicht her begrenzt, am Bahnhof in <strong>Schlawe</strong>.Wir Kinder<br />

hatten im wahrsten Sinne <strong>des</strong> Wortes unser Päckchen zu tragen. Mein Päckchen war ein<br />

Bündel mit Schafswolle, dass ich aber aus Gier nach frischem Trinkwasser auf irgendeinem<br />

Bahnhof aus den Augen verlor. Es war verschwunden, ich war entsetzt, unsere Mutter<br />

war froh, dass sie mich nach langem Suchen wieder gefunden hatte.<br />

Am 01.Juli 1946 landeten wir im Flüchtlingslager Harrislee II am Ochsenweg.<br />

Hier lebten wir mit 23 Personen in einem Raum von 48 m².<br />

Meine Schulzeit<br />

Im April 1944 sollte ich in <strong>Schlawe</strong> eingeschult werden. Aber ich war zu klein und zu<br />

schmächtig, wie der Schularzt meinte, so wurde ich ein Jahr zurückgestellt.<br />

Im darauf folgenden Jahr wurden die Räumlichkeiten der Schule für die Unterbringung<br />

der Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen benötigt. Der Schulunterricht wurde eingestellt.<br />

Mein erster Schultag war der 02.Juli 1946 in der Flüchtlingslagerschule in Harrislee am<br />

Ochsenweg (hinter der damaligen Ziegelei von Jürgen Jessen – gegenüber von dem<br />

Bauernhof von Jens Jessen – Brüder). Ich war mittlerweile acht Jahre und zehn Monate<br />

alt.<br />

Heute bin ich pensionierter Lehrer, der mit fast 65 Jahren in den Ruhestand ging.<br />

Das Lagerleben von Juli 1946 bis 1957 (1957 bezogen wir – mit erheblichen Eigenleistungen<br />

eine Landwirtschaftliche Nebenerwerbssiedlung von 3000 Quadratmetern) war<br />

für uns Kinder ein Paradies. Auf dem großen Lagerhof, umgeben von Baracken, gab es<br />

in der schulfreien Zeit immer Spielkameraden. Unsere Mutter hatte es schwerer, sie<br />

musste bei Bauer Jessen Rüben hacken, beim Dreschen helfen und Kartoffeln sammeln.<br />

Nach dem Abernten <strong>des</strong> Kartoffelfel<strong>des</strong> hat die ganze Familie „Kartoffeln gestoppelt“.<br />

Ich erinnere mich, dass wir im Sommer 1946 mit unserem Lehrer der Lagerschule, Robert<br />

Schönfeld (er kam auch aus Pommern), Brennnesseln `geerntet´ haben. Daraus wurde<br />

in der Lagerküche Spinat gemacht. Im Umkreis von 200 Metern der Lagerküche roch<br />

es penetrant säuerlich. Bis auf den heutigen Tag mag ich keinen Spinat.<br />

Ein abschließen<strong>des</strong> Wort zur Bevölkerungssituation: Es gab in Harrislee 1946 drei verschiedene<br />

Bevölkerungsgruppen: 1. die Einheimischen, 2. die dänische Minderheit und<br />

3. die Flüchtlinge. Prozentual waren alle drei Gruppen fast gleichstark vertreten.<br />

Alle drei Gruppierungen waren sich nicht `grün´ miteinander: Die Flüchtlinge suchten<br />

ein neues Zuhause in dem Land, wo Milch und Honig fließt, die Einheimischen waren<br />

schockiert darüber, dass sie fast die Hälfte ihrer Wohnfläche an die Flüchtlinge abzutreten<br />

hatten.<br />

Und unter vorgehaltener Hand hieß es: „Flüchtlingspack mit de Lüüs up de Nack!“<br />

Die dänische Minderheit befürchtete ein `Übergewicht <strong>des</strong> Deutschtums´ an der deutsch-<br />

dänischen Grenze. Sie haben mit Speckpaketen und Aufenthalten deutscher Kinder während<br />

der Sommerferien bei dänischen Pflegeeltern gegen gesteuert.<br />

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Es kam vereinzelt vor, dass Kinder, die mit uns aus Pommern, West- oder gar Ostpreußen<br />

kamen, die dänische Schule besuchten.<br />

Unsere Schwester Rita, die Jüngste, wurde von unserem Lehrer Schönfeld in der Lagerschule<br />

gefragt ob sie katholisch oder evangelisch sei. Darauf antwortete sie mit fester<br />

Stimme:<br />

„Wir sind Deutsche und wir bleiben Deutsche!“<br />

Heute, im Jahr 2006 hat sich das alles normalisiert, und wir leben friedlich und harmonisch<br />

miteinander in Harrislee im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Obwohl es auch heute<br />

noch – aus meiner persönlichen Sicht - kleine Ungereimtheiten gibt:<br />

Man kann in Dänemark als Deutscher kein Grundbesitz oder eine Immobilie erwerben.<br />

Umgekehrt ist es kein Problem.<br />

Wenn man, in einem in Dänemark gemieteten Ferienhaus, die Deutschlandflagge hisst,<br />

kann man davon ausgehen, dass man innerhalb der nächsten drei Stunden Besuch von<br />

der dänischen Polizei erhält, die einem unmissverständlich klar macht, dass dies in Dänemark<br />

nicht erlaubt ist.<br />

Es grüßt euch ein Pommeraner aus dem ganz hohen Norden.<br />

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Helga Matz 17<br />

Meine Erlebnisse in der Zeit 1944/45 nach<br />

dem 2. Weltkrieg in meiner Heimatstadt<br />

Rügenwalde<br />

Im Frühjahr 1944 kamen viele Flüchtlinge aus Ostpreußen in unsere Stadt. Die Russen hatten<br />

diesen Landstrich als erstes besetzt und vertrieben die Deutschen von dort. So wurde es eng<br />

in Rügenwalde bei den <strong>Bewohner</strong>n, auch knapp mit den Lebensrnitteln. Die Nachricht von<br />

den näher rückenden Russen veranlasste auch viele Rügenwalder die Stadt per Schiff oder<br />

Zug zu verlassen.<br />

Ich war damals sechs Jahre alt, war im Herbst 1944 eingeschult worden und lernte mit Feuereifer<br />

das ABC. Die Not der Vertriebenen war bei mir als Kind noch kaum angekommen,<br />

der Krieg spielte sich „draußen" ab und war eine Sache der Erwachsenen...<br />

Im Frühjahr 1945 brachten meine Freundin Edda und ich wie gewöhnlich meinen kleinen<br />

Bruder Horst in den Kindergarten. Es lag meterhoher Schnee, die Wipper war zugefroren<br />

und wir Kinder schlitterten übers Eis. Plötzlich rutschte ich aus und brach auf dem zugefrorenen<br />

Fluss in ein Eisloch ein. Ich wäre fast ertrunken. Meine Freundin zog mich geistesgegenwärtig<br />

heraus und rettete mir damals das Leben. Ich lief nach Hause, völlig durchgefroren<br />

und wurde todkrank. Mit über 40 Grad Fieber und Schüttelfrost verordnete mir der Arzt<br />

strenge Bettruhe.<br />

Wenige Tage nach diesem Vorfall kam meine Cousine eines Morgens zu uns in die<br />

Schlossstraße gerannt, mit lautem Rufen: „Die Russen kommen!". Jetzt waren die Folgen <strong>des</strong><br />

Krieges hautnah in mein Kinderzimmer hereingebrochen!<br />

In großer Eile wurden einige Sachen und Lebensmittel zusammengepackt. So ging es los,<br />

und meine Familie schlug sich querfeldein, abseits von allen Verkehrswegen, durch unwegsames,<br />

tief verschneites Gelände. Weil ich so geschwächt war, trug mich meine Mutter<br />

längere Strecken - wie sie das körperlich schaffte ist mir bis heute ein Rätsel. Mein Vater<br />

kam selbst kaum vorwärts, er hatte im Krieg ein Bein verloren und musste sich jeden<br />

Schritt durch den meterhohen Schnee quälen. Seine Krücken blieben immer wieder stecken<br />

- es war zum Verzweifeln.<br />

Bei Vitte / Vitter See stießen wir in einem Waldstück auf eine Blockhütte, die für uns und<br />

zwei weitere Familien eine vorübergehende Bleibe wurde. Ein wirkliches Ziel gab es nicht,<br />

denn der hohe Schnee ließ ja ein schnelles Vorwärtskommen gar nicht zu.<br />

Von hier gingen einige Leute aus unserer Gruppe los, um etwas Essbares aufzutreiben. Ich,<br />

das kranke Kind, wurde mit rohen Eiern aufgepäppelt. Wir wagten selten, Feuer zu machen,<br />

um nicht von den russischen Besatzern entdeckt zu werden. Bei einem der Streifzüge nach<br />

Lebensmitteln trafen einige von unseren Leuten einen Mann, der die Meldung machen<br />

konnte, Rügenwalde wäre von den Russen besetzt worden, ohne die Stadt zu zerstören. Es<br />

wäre nicht gefährlich zurückzukehren.<br />

17 Helga Matz – Mädchenname Bahr, wohnte bis 1958 in Darlowo. Vor ihrer Ausreise<br />

in die BRD abeitete sie auf dem Gut in Jacinki. Heute wohnt sie in Homburg.<br />

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Von dieser Nachricht ermutigt machten wir uns wieder auf den Heimweg, ohne zu wissen,<br />

was uns erwarten würde. Mein Onkel Karl bastelte eine weiße Fahne, um uns ein Durchkommen<br />

zu ermöglichen - unterwegs trafen wir auf einige russische Soldaten, die uns zu<br />

sich riefen. Sie beäugten meinen Vater misstrauisch, den sie mit seinen Krücken für einen<br />

Kriegsversehrten hielten. Dann nahmen sie den Erwachsenen Uhren und Schmuck ab. Das<br />

war sehr bitter, sie ließen uns danach aber weiterziehen. Bald hatten wir Rügenwalde erreicht,<br />

wussten allerdings nicht, was uns hier erwarten würde; wir rechneten mit dem<br />

Schlimmsten. In unserer Straße angekommen, sahen wir unser Haus und, um Himmels Willen,<br />

die Fenster offen stehen. Wir fürchteten, alles zerstört und geplündert vorzufinden und<br />

traten vorsichtig ein. Unsere Freude war riesengroß, als wir doch alles in Ordnung vorfanden;<br />

in der Eile hatten wir vergessen, die Fenster zu schließen und sie waren vom Wind<br />

aufgestoßen worden. Sogar die Suppe, die Mama vor unserer Flucht gekocht hatte, stand auf<br />

dem Tisch und war noch genießbar. Wir verschlangen sie mit Heißhunger. In Rügenwalde<br />

war die Suche nach etwas Essbarem nun unsere tägliche Arbeit. Eines Morgens wurde mein<br />

Vater von den Russen aufgefordert in die Metzgerei „Janke" zu kommen. Da er Metzger<br />

war wurde er beauftragt, gemeinsam mit einigen anderen Männern die Schlachtung und<br />

Verarbeitung der Kühe und Schweine von den Bauernhöfen der Umgebung zu übernehmen.<br />

Das Fleisch und die Wurst gingen verpackt nach Russland. Die Bauern verloren nach und<br />

nach ihr Vieh. Als Metzger konnte mein Vater aber einiges an Fleischresten für bedürftige<br />

Familien abzweigen, was natürlich sehr gefährlich war.<br />

Peter, ein Russe, der die Aufsicht in der Metzgerei Janke hatte, sagte nur: „Herbert, wenn<br />

wir geschnappt werden, gehen wir beide nach Sibirien!". Aber es ging immer gut - Peter<br />

wurde ein guter Freund der Deutschen; nur seine allabendlichen Wodkagelage mussten die<br />

deutschen Männer immer mitmachen, um ihn nicht zu erzürnen.<br />

Wir Kinder hatten in dieser Zeit keine Sorgen, die Schulen und Kindergärten waren geschlossen.<br />

Unsere Tätigkeit bestand darin, leere Geschäfte und Häuser zu durchstöbern. Bei<br />

dieser Gelegenheit stießen wir auf einen herrenlosen Ziegenbock, der uns durch die Häuser<br />

und Gärten jagte. Unbereifte Fahrräder wurden gefunden und am Berg ausprobiert. So gab es<br />

auch oft schlimme Schrammen.<br />

Im Mai 1945 war diese Zeit zu Ende, Papa bekam den Auftrag, uns nach S winemünde per<br />

Schiff mit unserer gesamten Habe vorzuschicken. Er sollte nachkommen, sobald die Restware<br />

bei Jankes für den Transport nach Russland fertig wäre. In dieser Stadt angekommen<br />

wurden wir mit unseren Sachen in eine abgelegene Schule gebracht. Hier waren wir in ganz<br />

großer Angst, und mit tausend Mücken draußen einquartiert. Auf unseren Vater haben wir<br />

vergebens gewartet, denn die Politik hatte es anders entschieden, Hinterpommern wurde den<br />

Polen übergeben, so war auch unsere Weiterreise nicht mehr gegeben. Eines Tages fuhr ein<br />

LKW vor die Schule, lud, soweit Platz war, die Sachen wieder auf und brachte uns zurück zu<br />

unserem Vater nach Rügenwalde.<br />

Viele Deutsche wurden jetzt aus der Stadt ausgewiesen, nur bei uns wurde noch gewartet,<br />

denn Papa war beinamputiert und Mutti hochschwanger. Ein Krankentransport hätte uns<br />

mitnehmen sollen, aber der fuhr nie. Wir kamen in ein <strong>Schlawe</strong>r Lager, wo die Hungersnot<br />

wieder an der Tagesordnung war. Von hier wurden wir nach Jatzingen gebracht und der<br />

Landarbeit zugeführt. Es wurde eine sehr schwere Zeit für uns. Die Ausreise in die Bun<strong>des</strong>republik<br />

wurde letztendlich erst 1958 möglich.<br />

Heute, im Jahre 2007, sage ich, der Krieg hat alle Menschen der lieben Heimat beraubt, und<br />

dieser Irrsinn geht immer noch weiter. Es sollte endlich von allen Obrigkeiten ein Frieden<br />

zwischen den Völkern angestrebt werden, der von Dauer ist.<br />

90


Horst Meissner 18<br />

<strong>Erinnerungen</strong> an Marienthal<br />

Vorwort<br />

Der Bericht über das Jahr 1945 in Mariental kann nicht den Anspruch erheben, eine genaue<br />

Dokumentation über die Marientaler Einwohner während dieses Schicksaljahres zu<br />

sein. Er ist vielmehr aus der Perspektive eines 14/15-jährigen niedergeschrieben und<br />

kann nur auf Personen <strong>des</strong> engeren <strong>Kreises</strong> näher eingehen.<br />

Das Manuskript wurde in den frühen 5o-er Jahren geschrieben, trotzdem bestehen schon<br />

manche Lücken.<br />

Besonders die Namen der Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen, für die Mariental der<br />

Endpunkt ihrer Hoffnung auf Entrinnen war, konnten nicht festgehalten werden.<br />

Havixbeck, am 12 April 1984<br />

* * *<br />

Das andauernde Grollen der russischen Artillerie ist in den letzten Tagen lauter geworden,<br />

das Leben im Dorf ist wie gelähmt. Die Angst vor dem Kommenden geht um, doch<br />

niemand weiß genau, was zu tun ist. Die Häuser waren voller Flüchtlinge aus Ost- und<br />

Westpreußen. Viele hatten eine längere Pause eingelegt, doch in den letzten Februartagen<br />

<strong>des</strong> angebrochenen Jahres 1945 sind die meisten weitergezogen. Hier in Mariental heißt<br />

es, niemand dürfe trecken ohne die ausdrückliche Genehmigung <strong>des</strong> Ortsgruppenleiters.<br />

Man ist sich auch nicht klar darüber, wohin es eigentlich gehen sollte, sind doch Ostpreußen,<br />

die vor einiger Zeit in Richtung Köslin nach Westen getreckt waren, jetzt auf der<br />

Reise nach Osten bzw. Norden wieder durch <strong>Schlawe</strong> gekommen! Danach hat der Russe<br />

uns alle schon eingeschlossen, die einzige Möglichkeit wäre noch, an die Küste zu gelangen<br />

und ein Schiff zu erreichen.<br />

Mutti und ich sind nun allein im Haus. Papa wurde zum Volkssturm eingezogen und liegt<br />

in <strong>Schlawe</strong> im Schützenhaus. Vor wenigen Tagen konnten wir dort noch einen Besuch<br />

machen. Es sind jetzt doch noch alle in die Wehrmacht übernommen worden. Das ist<br />

sogar beruhigend, man hört, daß der Volkssturm von den Russen als eine Art Partisanentruppe<br />

angesehen wird. Papa hat eine Luftwaffen-Uniform an.<br />

Der März ist angebrochen, es liegt viel Schnee und es ist bitter kalt. Sogar die HJ kümmert<br />

sich um uns Jungen nicht mehr, ist der Bannführer vielleicht gar nicht mehr da? Die<br />

umquartierten Frauen aus dem Ruhrgebiet mit ihren Kindern bekamen Anfang Januar<br />

Reisebescheinigungen und durften in ihre Heimatorte zurückkehren. Auch unsere Frau<br />

Stabla mit der kleinen Ursula, die bei uns geboren wurde, ist nach Herne zurückgekehrt.<br />

Ob sie noch etwas vorgefunden hat?<br />

18 Horst Meissner – geb. 1930 in Budowo/ Kreis Stolp. 1935 übersiedelte die Familie<br />

nach. Sein Vater arbeitete als Tischler in der Firma Max Kusanke in <strong>Schlawe</strong>. H.M.<br />

besuchte die Mittelschule in <strong>Schlawe</strong>. Im Dezember 1945 verließ die Familie Pommern.<br />

Horst wurde Architekt, wohnt heute in Havixbeck, ca.20km von Münster entfernt, Nordrhein-Westfalen.<br />

91


Heute ist der 6.März.Die Quäsdower sind mit ihrem Treck heute durchgekommen. Auch<br />

bei uns in Mariental herrscht allgemeine Aufregung. Die Bauern haben, meist schon heimlich,<br />

die Fuhrwerke als Treckwagen hergerichtet. Es werden große Leiterwagen genommen,<br />

starke Rundbügel oder auch dachartig Latten darüber befestigt und Teppiche dienen<br />

meist als Plane. Der Bürgermeister, Herr Hackbarth, ist um alle bemüht und gibt Ratschläge.<br />

Wir, die wir keine Pferde besitzen, werden Bauern zugeteilt, die unsere Sachen mitnehmen.<br />

Allerdings sind unsere Möglichkeiten damit sehr begrenzt. Doch das Gefühl, zu<br />

jemanden zu gehören, beruhigt. Wir sollen mit Schröders fahren. Mutti packt das wichtigste<br />

an Wäsche und Lebensmittel in einige Taschen und einen großen Luftwaffen-<br />

Rucksack, den Papa dagelassen hat.<br />

Ich kann es nicht übers Herz bringen, meinen geliebten Metallbaukasten zurückzulassen.<br />

Alle Teile werden in eine flache Zigarrenkiste gepackt und in eine Vordertasche <strong>des</strong><br />

Rucksacks, den ich tragen soll, gesteckt. Auch vier kleine Flugzeugtypenbücher, die<br />

nachts unter dem Kopfkissen gelegen haben, gehen so mit. Papas gute Anzüge, Mäntel,<br />

Muttis und meine guten Sachen und sonstige Wertgegenstände werden in den Kellern im<br />

Hause versteckt. Das große Modell <strong>des</strong> Schlachtschiffes "Scharnhorst", auf das ich so<br />

stolz war, kommt in den Keller unter dem Wohnzimmer. Dann werden die Keller vernagelt.<br />

Die mitzunehmenden Sachen bringe ich auf der Schubkarre zu Schröders. Ich hole<br />

schnell noch zwei Brote von Minks am Stadtrand. Dort wird erzählt, dass die Kaufleute<br />

am Markt Lebensmittel umsonst an die durchziehenden Treckleute abgeben. Da wir jedoch<br />

genügend Vorräte haben, fahre ich sofort wieder nach Hause. In der Pollnower Straße<br />

direkt vor der Eisenbahn-Unterführung habe ich eine Panzersperre bemerkt. Diese ist<br />

aus eingerammten Balken und Pflasterstein-Hinterfüllung errichtet.<br />

Der Kanonendonner ist schwächer geworden und hat teilweise aufgehört. Hierdurch entsteht<br />

die trügerische Hoffnung, daß vielleicht der Russe zurückgeworfen wurde. Man<br />

sieht zwar auf allen umliegenden Straßen Trecks fahren, aber das Dorf beruhigt sich wieder<br />

etwas und wir gehen nach Hause. Das soll jedoch die letzte Nacht werden. In der<br />

Nacht trommelt es plötzlich an das Fenster. Wilhelm Hackbarth ruft: "Erna, Erna, mook<br />

up, wi fohre los! "Er hatte uns übrigens einige Tage vorher geraten, die Gemeindebücher<br />

(Papa war Gemeinde-Kassenverwalter und uns oblag auch das Zählerablesen, Einziehen<br />

<strong>des</strong> Lichtgel<strong>des</strong> und aller Steuern der Gemeinde)zu vernichten. Mutti geht zum Fenster,<br />

wo Herr H. noch eilig mit ihr spricht. Es soll sehr früh am Morgen losgehen. Man hört<br />

wieder stärkeren Kanonendonner. Wir treffen die letzten Vorbereitungen. Die Kuh wird<br />

losgebunden und bekommt eine Menge Heu vorgeworfen. Unseren Hund Flock sperren<br />

wir in die Scheune mit einem Eimer Milch. Mehr können wir für das gute Tier nicht tun,<br />

da keine Hunde auf den Treck mitgenommen werden dürfen. Auch die Schweine bekommen<br />

einen Trog voll Futter, es waren noch zwei. Hühner und Katze müssen sich<br />

selbst etwas suchen. Ich ziehe Papas Stiefel an und nehme auch sein Fahrrad an die Hand.<br />

An radfahren ist nicht zu denken, da noch viel Schnee liegt und das Rad, um das Pferd zu<br />

schonen, schwer bepackt ist. Der Augenblick <strong>des</strong> Scheidens von Haus und Hof ist unvergesslich,<br />

man weiß nicht, ob man jemals zurück kommt. Die Wagen haben sich gesammelt<br />

und unser Treck setzt sich in Bewegung. Es ist praktisch nur ein Einfädeln in eine<br />

unabsehbare Schlange von Treckwagen. Das allgemeine Ziel scheint Rügenwalde oder<br />

Stolpmünde zu sein, jedenfalls strebt alles zur Küste. An dem Straßenabzweig am Quatzower<br />

Berg(Neu-Gut)ist ein deutsches leichtes Flackgeschütz in Stellung gegangen. Mit<br />

meinem Pimpfenverstand frage ich mich, warum gerade hier, wo der Feind ungesehen im<br />

Wald nahen kann und das Geschütz praktisch frei auf dem Acker steht?<br />

Beim Durchzug durch <strong>Schlawe</strong> halten Mutti und ich Ausschau nach Papa, aber an der<br />

Panzersperre stehen nur einige ältere Männer mit Panzerfäusten. Am Stadtausgang, dicht<br />

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an unserer Schule, treffe ich zufällig meinen Schulfreund Gerhard Porchert. Er ist noch in<br />

HJ-Uniform und hat ein Fahrrad bei sich. Wir geben uns die Hand und ich sage, wir wollen<br />

sehen, was das Schicksal uns bringt. Das ist das letzte Mal, daß wir uns gesehen haben.<br />

Wir kommen durch Pustamin und in dem Moment ruft jemand: "<strong>Schlawe</strong> brennt<br />

schon!" Wir sehen dunkle Rauchwolken am Himmel, wo wir vor kurzem durchgefahren<br />

sind. Wie wir später hören, ist es das "Batallion", wo die Wehrmacht z. T. untergebracht<br />

ist und, wenn ich nicht irre, das Schützenhaus. Es soll Panzerbeschuß vom Quatzower<br />

Wald her gewesen sein .Ein Wehrmachtslastwagen überholt uns mit Soldaten darauf. An<br />

die Seitenwände ist geschrieben: "Tapfer und treu!"<br />

In den Straßengräben liegen erschossene Hunde und eine Menge Sachen, die von den<br />

Flüchtenden weggeworfen wurden. Wir sind froh, unseren Flock zu Hause gelassen zu<br />

haben. An einer übersichtlichen Kreuzung ist zu beobachten, dass von Süden, Osten und<br />

Westen Trecks kommen und dann schubweise eine Straße nach Korden füllen. Es wird<br />

langsam dunkel und wir müssen an Wachtrast denken. Bei der Dunkelheit ist auf den<br />

verstopften Straßen sowieso kein Fahren. Jemand rät ,auf jeden Fall von der Straße herunter.<br />

So fahren wir alle auf den Gutshof von Marsow. Das ganze Haus ist voller Flüchtender.<br />

Wir haben ein Lager auf dem Küchenfußboden. Es wird sogar warme Milch an die<br />

kleinen Kinder ausgegeben und einzelne Frauen können sich etwas warmmachen. An<br />

Schlaf ist allerdings nicht zu denken. Am nächsten Morgen denkt niemand mehr an die<br />

Weiterführung <strong>des</strong> Trecks. Die Schießereien sind immer näher gekommen und Vorausleute<br />

haben an der Küste erkundet, dass an ein Übersetzen über die Ostsee gar nicht zu denken<br />

ist. Wegen der Enge im Hause siedeln wir alle in einen leeren Schafstall über. Von der<br />

Front ist jetzt nichts mehr zu hören. Es ist dunstig an diesem Tage und nicht mehr so kalt<br />

wie an den Vortagen. Und ganz plötzlich wird es uns allen klar: Wir befinden uns im<br />

Niemandsland! Das Unfaßbare und Grauenvolle, was wir seit Wochen fürchten, steht<br />

unmittelbar bevor! In das bange Warten auf einmal ein Geräusch. Ein Rasseln und tiefes<br />

Brummen Auf der gegen den Gutshof erhöhten Straße sieht man Panzer. Einer hinter dem<br />

anderen. Deutlich ist das Klappern der T 34-Plattenketten zu erkennen. Die Russen sind<br />

da! Es ist der 8. März 1945.<br />

Alle in dem Schafstall durchsuchen ihre Taschen nach belastenden Papieren und dergl.<br />

und verkratzen diese in dem tiefen Dung bzw. Streu worauf wir liegen. Neben uns sitzt<br />

der Ortsgruppenleiter. Er duckt sich tief zwischen die Frauen. Viele weinen. Die jungen<br />

Frauen und Mädchen ziehen sich alte, zerrissene Kleidung an und binden schmutzige<br />

Kopftücher um. Ich sehe nochmals vor die Tür und bemerke auf der Straße jetzt lange<br />

Marschkolonnen. Ich gehe eilends zurück und teile dies den Leuten mit. Der Lehrer, Herr<br />

Rätzke, fährt mich an, ich solle endlich still sein. Alle sind aufs Äußerste gereizt und<br />

nervös. Man weiß nicht, wie sich die russischen Soldaten benehmen werden. Die schrecklichsten<br />

Gerüchte sind im Umlauf. So wirkt das Erscheinen der ersten Soldaten fast wie<br />

eine Erlösung. Plötzlich stehen einige Soldaten in Pelzmützen und den kurzen Maschinenpistolen<br />

im Stall und gehen zwischen unseren Leuten auf und ab. "Wo chir deutsche<br />

Soldatt?" Nachdem dies vielstimmig verneint wird, verschwinden sie wieder. Einige atmen<br />

sogar schon auf und meinen, die wären ja gar nicht so schlimm und alle klammern<br />

sich nur zu gern an diese Hoffnung. Wie trügerisch soll sich diese jedoch erweisen! Während<br />

<strong>des</strong> Durchzugs der kämpfenden Truppe im Laufe <strong>des</strong> Tages bleiben wir verhältnismäßig<br />

unbehelligt, von gelegentlichen Kontrollen nach deutschen Soldaten abgesehen.<br />

Die Russen haben sich unter unseren im Hofe zwischen den Treckwagen stehenden Pferden<br />

umgesehen und einzelne Bauern beklagen den Verlust von guten Tieren. In der<br />

kommenden Nacht ist natürlich nicht an Schlaf zu denken. Ich versuche, mir über das<br />

Geschehene klar zu werden. Wir stehen ja nun "auf der anderen Seite" .Alles, was uns<br />

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täglich gelenkt und kontrolliert hat ,HJ, Partei, ist plötzlich nicht mehr da. Wie ein Spuk<br />

verflogen. Sind wir jetzt noch Deutsche? Ist das hier überhaupt noch Deutsch -land? Werden<br />

wir künftig mit Rubel etwas kaufen können?<br />

Vom Hof ist das grässliche Röcheln eines offenbar angeschossenen Pfer<strong>des</strong> zu hören.<br />

Männer versuchen, das Pferd mit Äxten zu erschlagen, was jedoch nicht zum Erfolg führt<br />

und das Leiden nur noch erhöht. Gegen Morgen ist es endlich still. Herr Schröder hat<br />

noch ein Jagdgewehr im Wagen und bittet mich, es zu holen, hinter den Stall zu tragen<br />

und wegzuwerfen. Auf Muttis Bedenken hin lehne ich ab. Alle Fremdarbeiter, Polen,<br />

Ukrainer und ein Russe, Michel, sind noch bei uns und wehren z. Teil die Russen ab, die<br />

in den Stall wollen. Nur Tadek, der bei Mienerts war, ist nicht zu trauen. Doch auch er<br />

verhält sich noch ruhig.<br />

Der Bürgermeister und die Bauern beraten, was zu tun ist. Hier wollen wir nicht bleiben<br />

und so bald wie möglich zurückfahren nach Mariental. Sobald es auf der Straße oben etwas<br />

ruhiger geworden ist, soll es losgehen. Dann setzt sich der Marientaler Treck wieder<br />

in Bewegung. Wir kreuzen die Hauptstraße schnell und benutzen Feldwege, die den älteren<br />

Männern bekannt sind und von den Russen kaum benutzt werden. Jetzt begegnen uns<br />

plündernde Polengruppen. Zuerst muss ich Papas Stiefel ausziehen. Ich setze mich hin<br />

und strecke ihm die Beine hin. Zumin<strong>des</strong>t soll der Polak sich selbst die Hände daran<br />

schmutzig machen. Ich sitze jetzt eine Zeit lang auf dem Wagen, ziehe dann aber ein Paar<br />

Halbschuhe von H. Schröder an und gehe wieder nebenher, um das Pferd zu schonen.<br />

Bösels fahren nur mit einem ihrer schönen Grauschimmel, die einseitige Anspannung an<br />

der Deichsel ist dem Tier sehr lästig. Ein Wagen ist ganz ohne Pferde, er ist hinter einen<br />

anderen gehängt. Mir ist entfallen, um wen es sich hier handelt. Ich führe jetzt wieder<br />

Papas Fahrrad. Vor jeder uns entgegen kommenden Plünderergruppe verzieht man sich<br />

auf die andere Seite <strong>des</strong> Wagens. Trotzdem fordert nun ein Pole das Fahrrad, das einen<br />

neuen, gepflegten Eindruck macht. Ich mache ihn auf die schlechte, genähte Bereifung<br />

aufmerksam, doch er reißt es mir aus der Hand und gibt mir sein älteres, jedoch mit fast<br />

neuer Bereifung!<br />

Wir kommen am "Hästerkaten" vorbei, der einen sehr geplünderten Eindruck macht. Vor<br />

der Straßenkreuzung in Alt-Warschow müssen wir längere Zeit warten, bis in den Kolonnen<br />

der Russen eine Lücke entsteht. Dann geht es schnell im Schutze der Rauchwolken,<br />

die ein nahe der Straße brennen<strong>des</strong> haus ausstößt, über die Straße hinweg. Alle schaffen<br />

es. Dies ist das erste brennende Haus, das ich sehe, und es macht einen starken Eindruck<br />

auf mich. Die Nacht verbringen wir auf freiem Felde in der Nähe von Fischers Gehöft.<br />

Dort scheinen aber, wie sich herausstellt, Russen zu sein, so verhalten wir uns alle sehr<br />

still. Ich habe etwas geschlafen, da weckt mich Mutti und wir sehen alle ein grausames<br />

Schauspiel. Unser liebes <strong>Schlawe</strong> brennt! Das Städtchen, das Kindheit, Schule und soviel<br />

liebe <strong>Erinnerungen</strong> birgt. Die ganze Innenstadt ist ein Flammenmeer, wie sich später herausstellen<br />

soll, von plündernden Polen angesteckt. Wir sehen deutlich, wie auch die schöne,<br />

große Kirche Feuer fängt. Plötzlich fangen, wohl von der Hitze in Schwingung gebracht,<br />

die Glocken an zu läuten. Es ist wohl keine der Frauen dabei, die nicht weint und<br />

die Männer wenden sich ab. Dann ist Stille, die Glocken sind nach dem Abbrand <strong>des</strong><br />

Glockenstuhls herabgestürzt. Die schaurige Beleuchtung der Nacht bleibt. Diese Nacht<br />

vergisst wohl niemand. Früh am nächsten Morgen gehen einige Männer in unser Dorf und<br />

berichten, dass noch alles steht und wir außerdem wohl unbehelligt zurückkehren können.<br />

Herr Kramp will sich noch einige Zeit hier bei Fischers, einem allein gelegenen Hof. verbergen.<br />

Wie sich später herausstellt, sind gerade einsame Höfe besonders gefährdet, von<br />

Plünderern und Soldateska aufgesucht zu werden. Die Brücke über die Wipper an der<br />

Schleuse ist gesprengt, jedoch so notdürftig, dass wir darüber fahren können. Alle fassen<br />

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in die Speichen um die einzelnen Wagen die jetzt schräg liegende Fahrbahn hinauf zu<br />

bekommen. Mutti und ich fahren mit zu Schröders, um nicht allein im Haus zu sein. Wir<br />

gehen nur vorsichtig nach Hause, um den angerichteten Schaden zu besehen und Ordnung<br />

zu schaffen. Im Hause sieht es grässlich aus. Alle Keller sind geöffnet bis auf den kleinsten<br />

in der Kammer, der allerdings die wertvollsten Sachen birgt. Im Küchenkeller liegt<br />

ein Schwein, offenbar auf der Suche nach Kartoffeln hineingefallen. Mit Hilfe eines<br />

Nachbarn bekommen wir es heraus. Bei W. Hackbarth soll sogar eins seiner Jungpferde<br />

im Keller gelegen haben. Die Russen haben Kleidung und Bettzeug im Wohnzimmerkeller<br />

durcheinander geworfen, darauf Reis geschüttet und Tinte darübergegossen.<br />

Unser Hund liegt erschossen vor seiner Hütte, wir begraben ihn gleich hinter dem Hofzäun<br />

auf dem Feld. Die Kuh wird wieder eingefangen. Das Fahrrad verstecken wir in der<br />

Scheune unter Roggengarben. Meine Flug- zeug- und Panzermodelle sind alle zertrampelt.<br />

Um den "Tiger" tut es mir besonders leid. Dann gehen wir vorsichtig, um nicht von<br />

Russen gesehen zu werden, wieder zu Schröders. Hier liegt ein Treckwagen aus Quäsdow<br />

im Graben, die Sachen sind weit zerstreut. Wir bergen davon, was noch zu retten ist. Neben<br />

dem Haus liegt ein erschossener Mann, dem wohl das Fahrzeug gehörte und der hinter<br />

das Haus flüchten wollte. Er stammt aus Quäsdow und wird einige Tage später von<br />

Angehörigen abgeholt. Auf allen Wiesen und Feldern steht viel Vieh herrenlos umher.<br />

Zum Glück ist inzwischen der Schnee geschmolzen und etwas Futter zu finden.<br />

In Schröders Haus haben sich Flüchtlinge aus Ost- und Westpreußen einquartiert. Mit<br />

Mühe kann Frau Schröder die Wohnstube für uns freibekommen. Hier verbrennen wir das<br />

letzte ,was uns evtl. belastend ausgelegt werden könnte. Auch meine geliebten Flugzeugtypen-Bücher<br />

werden verbrannt. Die anderen Hauseinwohner, eine Frau Posekel aus Ostpreußen<br />

spricht fließend polnisch, sowie noch eine Frau, mit der sie zusammen gekommen<br />

ist. Eine Familie Weinrich aus Ostpreußen, die einen kleinen Jungen von 4-5 Jahren<br />

hat und mit angeblich mehreren Wagen auf den Treck gegangen ist. Jetzt hat er nur noch<br />

einen Wagen und zwei Pferde, darunter einen wunderbaren Kaltbluthengst, den er in einer<br />

zugenagelten Remise versteckt.<br />

Mehrmals kommen Russen, die man glücklicherweise auf der Asphalt-Chaussee hören<br />

kann. Hört das Trappeln der Pferde vor dem Haus auf, so springen wir alle schnell durch<br />

das Hinterfenster auf den Misthaufen und laufen hinter die Scheune. Man hört von Vergewaltigungen,<br />

andere wieder verlangen nur Eier und Butter. Durch diese vielen Aufregungen<br />

werden wir sehr nervös und zucken bei jedem Schritt eines Anderen zusammen.<br />

Wir sind manchmal recht böse auf den Kleinen der Farn. W. der oft auf dem Hof herumläuft<br />

und spielt. Frau P. hält uns durch ihre Sprachkenntnisse die Russen sehr vom Leibe.<br />

<strong>Schlawe</strong>r Familien sind auch zu uns nach Mariental hinausgeflüchtet weil das Leben hier<br />

noch erträglicher ist. In unserem Haus sind jetzt eine Frau Kuchaschewsky mit ihrer Mutter,<br />

Frau Becker sowie Tochter Sirena. Sie haben gründlich sauber gemacht, leider meine<br />

Zigarettenbilder-Sammlung "Schienenwunder", die ich von meiner Cousine Ingrid bekam,<br />

auf den Aschhaufen gekippt. Ich suche sie alle wieder heraus und reinige sie sorgfältig.<br />

Bei Schröders hat noch Frau Manske mit Tochter Inge aus <strong>Schlawe</strong> Unterkunft<br />

gefunden.<br />

Ich verberge mich an den gefährlichsten Tageszeiten in einem ausgehöhlten Strohschober<br />

oder auch auf dem Heuboden. Die Familie Wegner aus Neu-Gut hat sich erschossen. Herr<br />

Schwuchow ist dort gewesen und hat es bestätigt. Auch ich bin dort gewesen und habe mir<br />

das Haus angesehen, das, wie vermutet wird, von Deutschen vollständig leer geräumt<br />

wurde. Gleich nach unserer Rückkunft ist Frau Saß mit Tochter, ihr Mann und Barzens in<br />

die Wipper gegangen, Herrn Saß haben allerdings vorüberkommende Russen herausge-<br />

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zogen und an einen Baum gebunden. Die anderen Leichen sind an der Schleuse angetrieben,<br />

darunter auch mehrere aus den weiter stromaufwärts gelegenen Dörfern.<br />

Die Polen und Ukrainermädchen unseres Dorfes versorgen sich reichlich mit Vorräten<br />

und Wäsche ihrer früheren Dienstherren und machen sich auf den Heimweg. Nur wenige<br />

bleiben, darunter der Russe Michel, der sich ebenfalls auf Böden und Schobern versteckt<br />

und Tadek, der überall herumspioniert. Die Russen haben die ersten Männer verschleppt,<br />

darunter Bösel und Pagel. Man hört oft Schießerei und Geschrei im Dorf. Aus diesen<br />

Gründen und, da es jetzt wärmer wird, gehen wir Jüngeren jetzt alle frühmorgens in den<br />

Wald. Erst spätabends, wenn wir ein beruhigen<strong>des</strong> Zeichen vom Hause erhalten, kommen<br />

wir herein. Das Essen wird von alten Frauen in den Wald gebracht. Zum Glück betritt nie<br />

ein Russe den Wald, der an dieser Stelle gar nicht so sehr groß ist. Höchstens wird von<br />

der Straße aus manchmal hineingeschossen. An einigen Stellen herrscht Verwesungsgestank,<br />

hier liegt krepiertes Vieh. Während die Mädchen sich in undurchdringlichen Waldstücken<br />

verbergen, machen wir Jungens doch Erkundigungsgänge. Hierbei wird Hans<br />

Messing, aus Ostpreußen (Deutschendorf)stammend, beim überqueren der Straße von<br />

Russen geschnappt und nach der im Wald angeblich versteckten SS und dem „Werwolf“<br />

befragt. Da er nicht darauf antworten kann, wird er sehr verprügelt. Dazu trägt auch seine<br />

Vorliebe für allerlei Soldatenkäppis bei, die er abwechselnd trägt. Wir stoßen später tatsächlich<br />

auf SS, aber nur ein Mann, der aus <strong>Schlawe</strong> stammt. Er trägt noch Uniform und<br />

die MP bei sich und hat noch mehrere Magazine Munition.<br />

Er bekommt jetzt Zivilkleidung und kann vom nördl. Waldrand seine verbrannte Heimatstadt<br />

sehen. Eines Tages haben wir uns zu weit an den Waldrand am Exerzierplatz herangewagt<br />

und die Russen nicht bemerkt. Plötzliche "Stoi"- Rufe und Schüsse hinter uns.<br />

Wir laufen wie die Hasen und entkommen ins Dickicht. Dieser Zwischenfall hemmt unseren<br />

Erkundungsdrang beträchtlich.<br />

Alles wird jetzt grün und manchmal fällt schwerer Regen. Ich baue für Inge Manske und<br />

mich zwei Unterstände aus Hartfaserplatten, die ein ostpreußischer Flüchtlingsjunge, der<br />

bei Westphals ist, abgibt. Der hat genug davon aus <strong>Schlawe</strong> besorgt. Die Wildtauben<br />

gurren den ganzen Tag und russische Schlachtflugzeuge IL-2 überfliegen uns.<br />

So geht es einige Wochen. Der Bürgermeister W. Hackbarth sitzt bei seinem Bruder auf<br />

dem Boden versteckt. Als Russen nach dem Bürgermeister fragen, wagt er sich nicht<br />

hervor. So wird ein alter Mann zum Bürgermeister bestimmt. Den Russen geht es hauptsächlich<br />

darum, jemand zu haben, der die verlangten Arbeitskräfte zusammenholen kann.<br />

Da der alte Mewes das aber nicht schaffen kann, ruft sich einfach Johann, ein Ukrainer,<br />

der bei Schröders wohnt, zum Bürgermeister aus. Dadurch genießen wir manchen Schutz.<br />

Er veranlaßt unseren Bäcker Frenz, Brot zu backen von Korn, das dorthin gebracht wird.<br />

An Fleisch leiden wir keine Not, da noch viel Vieh auf den Weiden steht und wir davon<br />

bei Bedarf schlachten. Langsam wagen wir uns auch wieder in die Umgegend. Friedrich<br />

Kramp ist auch wieder aufgetaucht, mit einem riesigen Vollbart, um älter auszusehen.<br />

Auch Fritz Kramp ist plötzlich da, gibt sich aber als Holländer aus. Am Straßenknick bei<br />

Westphals, wo der Kleinbahndamm früher die Straße überquerte, steht eine verlassene<br />

guterhaltene Kutsche. Herr Schröder und ich schieben sie hinters Haus. Hinter Schröders<br />

Scheune habe ich eine Schreibmaschine gefunden, leider fehlt der Wagen. Trotzdem versuche<br />

ich, sie gangbar zu machen. Ich trage jetzt kurze Hosen, um jünger zu erscheinen.<br />

Eines Tages suchen Frau Schröder und ich Holz. Da kommt uns(auf der Straße Mariental-<br />

Abzweig Quatzower Berg)viel Vieh entgegen. Da wir schon vorher von solchen Viehtrieben<br />

gehört haben, sind wir vorsichtig und verschwinden sofort im Wald. Wir sehen Jungen<br />

und Mädchen in meinem Alter, teils mir bekannt durch die Fahrten im Zug zur Schule,<br />

unter Bewachung von Russen das Vieh in Richtung <strong>Schlawe</strong> treiben.<br />

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Wir backen jetzt auch selbst Brot. Mutti und ich bringen von unserem Korn zu Schröders<br />

und in deren Ofen wird gebacken. Es ist sehr grob, aber es schmeckt wunderbar. H.<br />

Weinrich hat immer eine Harke oder sonstiges Werkzeug auf dem Rücken, wenn er vor<br />

die Tür geht. Falls er Russen oder Polen trifft, behauptet er, erginge "robota" und meint,<br />

so könne ihm nichts passieren. Mutti und ich sind nun umgezogen in eine Hinterstube<br />

von Schröders. Eines Nachts werden wir wach, es sind Russen im Haus. Einige sind in<br />

der Küche, so dass wir durch das rechte Vorderzimmer entkommen müssen. Zum Glück<br />

ist der Russe, der sich dort aufhält, mit der Gefährtin der Frau P. beschäftigt und beachtet<br />

uns nicht.<br />

Eines Tages stehen wir vor dem Tor, da verlangt ein Russe nach Inge M. Diese läuft aber<br />

weg über das Feld von Westphals in Richtung Wald. Der Soldat, der neben uns steht,<br />

schießt mit der Kalaschnikoff hinterher, trifft zum Glück nicht. Welch ein Eindruck von<br />

diesen Menschen! Eben versuchten wir noch, uns mit ihm zu unterhalten, jetzt erklärt er<br />

kalt, jeder, der laufe, mache sich verdächtig!<br />

Vom LS- Gebäude bei Wegner habe ich den Plan einer Bombe mitgebracht und bei<br />

Schröders hinter den, Ofen gesteckt. Mir hat der technische Plan gefallen. Eines Tages ist<br />

Herr Schröder sehr aufgebracht und macht mir Vorwürfe. Russen sind gekommen und<br />

haben den Plan gefunden. Er hat dafür Ohrfeigen bekommen. Ich gebe an, ich habe den<br />

Plan als Einwickelpapier mitgebracht.<br />

Eines Tages haben die Russen ein Kosakenpony, das leicht lahmt, stehengelassen. Wir (H.<br />

Messing und ich)vergnügen uns damit und ziehen es auch zu leichten Arbeiten heran. Es ist im<br />

Stall in einer Schweinebucht untergebracht und wiehert, wenn man hereinkommt. Bald<br />

hecken wir einen bösen Streich aus. Wir wollen die Mädchen ,die sich immer noch im<br />

Wald verstekken, erschrecken. Ich setze mich auf das Panje- Pferdchen und unter russischen<br />

Flüchen und Galopp, H. Messing läuft hinterher, rein in den Wald. Wie wir später hören,<br />

sind die Mädchen entsetzt zur anderen Waldseite hinausgeflüchtet und man wollte uns<br />

später, als entlarvte Übeltäter, dafür verprügeln.<br />

Ende April wird seitens der Russen bekanntgemacht, alle, die sich noch verbergen, sollen<br />

herauskommen. Es werde niemand etwas geschehen, man werde lediglich zur Arbeit herangezogen<br />

und bekäme dann auch zu essen. Jeder, der sich weiterhin verstecke, mache<br />

sich verdächtig und werde bestraft. Da hauptsächlich die Flüchtlinge darauf angewiesen<br />

sind, sich etwas zum essen zu verschaffen, bleibt sowieso keine andere Wahl. Auch hat<br />

sich die allgemeine Lage etwas entspannt. Die Kampftruppen sind weitergezogen und die<br />

Besatzung, so weit ich mich erinnere, ist für Mariental die Kommandantur in Quatzow<br />

zuständig, sind meist ältere Soldaten. Diese werden zu Hilfe gerufen, sobald irgendwo<br />

plündernde Fremdarbeitertrupps auftauchen. In dieser Zeit taucht plötzlich ein Eisenbahnzug<br />

aus Richtung Quäsdow auf, vorsichtig fahrend mit einem Sicherheitswagen vorgekuppelt<br />

wegen evtl. Mienen. In Höhe unseres Hauses schießen Russen Leuchtpistolen ab,<br />

zum Glück gehen die Kugeln über das Haus hinweg.<br />

Mutti und ich ziehen nun endgültig in unser Haus hinunter. Außer der Familie Becker<br />

sind noch zwei ostpreußische Familien im Hause. Die Pferde sind im hinteren großen<br />

Holzschuppen verborgen, werden aber eines Tages entdeckt und abgeholt. Ich richte mir<br />

vorsorglich noch einen Verschlag über dem Hühnerstall ein, um mich im besonderen Fall<br />

verstecken zu können. Zum Glück ist es nicht mehr nötig und hätte auch wohl nichts genützt,<br />

da ein Arbeitskräfte suchender Offizier mit einem Stock die zur Tarnung vorgeschichteten<br />

Staketenlatten umstößt. Ich bin aber nicht dahinter, sondern schon zur Arbeit<br />

geholt worden.<br />

Morgens früh werden Arbeitskräfte zusammengeholt, auf einen Pferdewagen verladen<br />

und mit unbekanntem Ziel irgendwo hingefahren. Mein erster Einsatz erfolgt bei der De-<br />

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montage der <strong>Schlawe</strong>r Stadtmühle. Vom Wagen kann man in die Fenster <strong>des</strong> Hotel Roggenbuck<br />

sehen. Gutgekleidete Leute sitzen an den Tischen und lesen die Zitung, unbegreiflieh!<br />

Nachdem wir durch das Kösliner Tor gefahren sind, umgibt uns der ekelhafte<br />

Brandgeruch der untergegangenen Stadt. Man sieht das zum ersten Mal, der Eindruckest<br />

so entsetzlich, trotzdem nach der furchtbaren Trecknacht so etwas zu erwarten war. In der<br />

Mühle wird alles abgebaut, sogar die Förderschnecken. Wer soll das wieder zusammensetzen?<br />

In großen Kisten verpackt wird alles zum Güterbahnhof gebracht. Das dauert einige<br />

Tage, danach werde ich kurz bei der Demontage der Molkerei eingesetzt. Trotz der traurigen<br />

Lage muß man lachen, wenn man sieht, daß nach Abbruch der Außenwand sogar<br />

der eingemauerte große Flammrohrkessel herausgerissen wird. Ob er allerdings auch<br />

verladen wird, kann ich nicht sagen. Zwischendurch müssen unter Führung eines Sowjet-<br />

Offiziers einige Leute mit und aus einem Privathaus in der Gen.- Litzmann-Straße Möbel<br />

verladen.<br />

Der nächste Demontage-Einsatz geht vom Gutshof Suckow aus. Es wird die Bahnstrecke<br />

Pollnow-Zollbrück abgebaut. Wir sind für den Abschnitt Krangen-Bussin bis Suckow<br />

zuständig. Bis auf die Schwellen wird alles aufgenommen. Die Schienen auf S-bzw. SS-<br />

Wagen verladen, alles per Hand natürlich. Die Schrauben, Klemm- und Unterlagsplatten<br />

werden mit einer Hebeldraisine zurückgefahren, mit der wir auch morgens und abends<br />

an die Arbeitsstelle fahren. Mein Geburtstag wird in diesen Tagen ohne Kenntnisnahme<br />

begangen, ich werde 15 Jahre alt.<br />

Am 8. Mai plötzlich ein großer Jubel unter der sowj. Wachmannschaft. "Hitler kaputt"<br />

wird uns zugerufen. Für uns ein schwerer Schlag, hofften doch alle noch, dass das unbegreifliche<br />

nicht sein durfte, dass der Russe wieder zurückgeschlagen wird! Für diesen Tag<br />

jedenfalls gibt es vorzeitig Feierabend.<br />

Nach einigen Tagen ist Suckow erreicht, der Schienenstrang verschwunden. Am Abend<br />

gibt mir ein junger Russe, mit dem ich mich öfter versucht habe zu unterhalten, eine<br />

Handvoll großer Werkzeugschlüsselin den Arm und flüstert mir zu: "Dawai damoi!" Eine<br />

gewisse Spannung lag in den letzten Tagen in der Luft, jetzt wird es zur Gewissheit,<br />

die Männer werden zurück gehalten ! Sie werden mit den Schienen „auf' die Reise geschickt“,<br />

sollen angeblich die Strecke irgendwo in Russland aufbauen. Leider sind mir keine Namen<br />

in Erinnerung, aber es sind wohl keine Marientaler dabei. Ich verberge mich hinter<br />

Frauenröcken auf dem Pferdewagen und komme glücklich nach hause.<br />

Wir haben uns einen neuen, ganz jungen Hund angeschafft, verschenken ihn aber bald<br />

wieder, weil wegen der andauernden Arbeitseinsätze doch niemand zu Hause ist.<br />

Nachdem nun der Krieg aus ist, zeichnet sich eine gewisse Normalisierung ab, d. h. der<br />

Kolchosenbetrieb setzt ein. Das Quatzower Gut ist von den Russen übernommen und von<br />

dort erfolgt unser Arbeitseinsatz. Heu wird auf den Quatzower Wipperwiesen gemacht, es<br />

wird in der Pause Essen ausgegeben und einer der Soldaten holt die Ziehharmonika hervor.<br />

Ein Kreis wird gebildet und die Russen tanzen trotz <strong>des</strong> hohen Grases. Die Mädchen<br />

werden in Ruhe gelassen, zumal sich immer einzelne finden, denen die Sache anscheinend<br />

nichts ausmacht.<br />

Eines Morgens werden uns jüngeren bestimmte Pferdegespanne zugeteilt und, nachdem<br />

die Wagen voller Frauen und Mädchen sind, geht die Fahrt ab. Ich bekomme das Gespann<br />

mit den schweren Belgiern <strong>des</strong> H. Weinert zugeteilt. Diese ziehen zwar alles weg, aber<br />

ich bin mit den Kaltblütern immer der Letzte, was den Unwillen <strong>des</strong> russischen Wachsoldaten<br />

erregt, der auf dem vordersten Wagen sitzt und gestikulierend sich dauernd zu mir<br />

umdreht. Die Fahrt geht anscheinend in die Gegend von Tychow-Notzkow. Unterwegs<br />

treffe ich Ernst Raddatz, ein Klassengefährte aus Alt-Warschow, auch auf einem Wagen<br />

sitzend. Es wird getrockneter Klee auf riesige Haufen zusammengefahren. Abends werden<br />

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auf einem Gutshof zuerst die Pferde versorgt, dann geht es zum Essen. Hier sitzen auf<br />

langen Bänken Deutsche, Russen, Polen und Ukrainer durcheinander. Es wird bereitwillig<br />

Platz gemacht, da die Gespannführer immer etwas später sind. Geschlafen wird auf dem<br />

Boden im. Heu. Das dauert etwa 2-3 Tage.<br />

In dieser Zeit, etwa Juni, werden die Flüchtlinge aus Ostpreußen aufgefordert, nach Hause<br />

zurückzukehren .Bei Heinrich Schwuchow ist ein Ostpreuße, der Stellmacher ist. Da nur<br />

noch ein kleiner Teil der Pferde da ist, macht dieser aus leichten Wagen zweirädrige<br />

Handkarren am laufenden Band. Und wirklich verlassen nun die Flüchtlinge Mariental,<br />

mit den Resten ihrer Habe. Ob sie jemals ankamen?<br />

Großen Respekt haben wir immer vor den Kosaken, kenntlich an dem meist mongolischen<br />

Gesichtsausdruck, dem man nicht ansieht, was er denkt und was er vorhat, und dem<br />

Kreuz auf der Pelzmütze. Da diese aber immer Pferde benutzen, hat man schon ein Ohr<br />

dafür und hört schon von weitem, was los ist. Eines Tages jedoch, ich stehe am Hoftor<br />

und Mutti hinter mir, ist ein Mongole von hinten durch das Haus gekommen und steht<br />

hinter uns in der Haustür. Er verlangt nach Frau. Sie geht ins Haus. Während ich nun versuche<br />

mit ihm russisch zu sprechen und ihn ablenke, springt sie schnell hinten durchs Fenster<br />

in den Garten und von dort ins Roggenfeld, der schon so hoch steht, dass sie sich verbergen<br />

kann. Das Schlitzauge verschwindet nun eilends über die Wipperwiesen. Gleich<br />

darauf erscheint ein sowjetischer Offizier und nachdem ich alles geschildert habe, erklärt<br />

dieser, es sei ein Deserteur, er suche ihn und meint: "Warum du Angst? Hau doch mit<br />

Stock vor Kopf!" Das schien mir ein schlechter Rat.<br />

Eines Morgens sitze ich beim Frühstück, als ein älterer Soldat hereinkommt. Er sagt in<br />

gutem Deutsch, ich solle mit ihm kommen, er habe eine" Arbeit. Als ich aufstehe, sagt er,<br />

ich solle erst essen und dann sollten wir eine Kuh nach <strong>Schlawe</strong> bringen. Das wird ein<br />

gemütlicher Gang, unterwegs zeigt er Bilder seiner Kinder und fragt nach Vater. Er bedauert,<br />

wieso es zum Krieg kommen muss und die Familien auseinander gerissen werden.<br />

Die Kuh wird in <strong>Schlawe</strong> gegenüber unserer Mittelschule auf einem großen Hof abgegeben<br />

und ich bin entlassen.<br />

Immer wieder tauchen Gerüchte auf, die Russen müssten alles wieder räumen und die<br />

Amerikaner würden alles übernehmen. Es sollen sogar Amerikaner mit ihren Autos in<br />

<strong>Schlawe</strong> gesehen worden sein! Alles Gerüchte, aus Wünschen geboren, aus dem Unvermögen,<br />

sich das Ungeheuerliche vorzustellen, was uns noch bevorstehen soll.<br />

Der Hans Messing weiß wieder etwas besonderes. Er hat eine Geldbörse mit einem SS-<br />

Totenkopf darauf und will sich einen Spaß damit machen, indem er einen Faden daran<br />

befestigt. Die Börse wird auf den Weg gelegt, wir hinter dem Zaun ziehen daran, sobald<br />

sich jemand danach bückt. Es klappt, aber es ist ausgerechnet Michel. Der fasst aber sehr<br />

schnell zu und hat die Börse. Mach langem Bitten gibt er die Geldbörse zurück, behält<br />

aber den Totenkopf.<br />

Etwa im Juli tauchen die ersten Polen auf. Kommen die Deutschen von der Arbeit, hängen<br />

plötzlich an der Haustür rot-weiße Fähnchen und die Deutschen landen in der Waschküche.<br />

Blitzschnell reservieren sich auch die früheren Fremdarbeiter aus dem Dorf gute<br />

Höfe. Michel, der kleine Russe, ist nun Herr bei H. Schwuchow. Unser Haus bekommt<br />

Erika, eine junge Polin mit Krätze an den Händen, deren Eltern das Gehöft von Bernhard<br />

Ziemann (Neu-Gut)belegen. Das hat für uns den Vorteil, dass diese meist nicht da ist und<br />

Nachts sowieso bei ihren Eltern schläft. Ein neuer polnischer Bürgermeister wird eingesetzt,<br />

der bei Last wohnt. Außerdem kommt jetzt polnisches Militär ins Dorf, es quartiert<br />

sich in. den Gasthof ein. Die Führung hat ein Leutnant mit sehr unangenehmen Auftreten,<br />

von dem man sagt, er sei Jude. Die Soldaten sind sehr umgänglich, besonders zwei<br />

Freunde, die beide Mietek heißen. Sie sprechen beide gutes deutsch, haben wohl unter<br />

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den Deutschen bei der Reichsbahn in Westpreußen gearbeitet. Der eine versucht die<br />

Bekanntschaft der jungen Sirene, die noch mit Mutter und Großmutter bei uns wohnt. Er<br />

meint, sie müsse Polin sein, wegen <strong>des</strong> polnischen Namens. Als er behauptet, sie heiße<br />

Kuchachewsky, er Kucharsky, verrät der zweite hinter vorgehaltener Hand: "Das stimmt<br />

gar nicht, der heißt Pęcak" Als wir Jungen nun unsere Russisch-Kenntnisse anbringen,<br />

wird uns schnell klargemacht, das sei russisch und wir müssten nun polnisch lernen.<br />

Die Russen haben nun auf die Marientaler keinen Einfluss mehr und bewirtschaften aber<br />

weiterhin (u. a.) das Gut Quatzow. Auch ein Teil der Deutschen, darunter W. Hackbarth<br />

,gehen zu den Russen nach Quatzow, wo sie von der ersten Ausweisungswelle, von der<br />

noch zu berichten sein wird, nicht erfasst werden und noch viele Jahre dort bleiben.<br />

Mutti und ich ziehen uns in unserem Hause in die Kammer zurück, die zwar der kleinste<br />

Raum ist, aber den zugenagelten Keller mit den wertvollsten Sachen birgt. Die Sparbücher<br />

jedoch und das Bargeld wird nachts in einer Blechbüchse an der Koppel vergraben,<br />

das gute Geschirr im Wecktopf im Garten. Weitere Sachen in einer Blechkiste im Hühnerstall.<br />

Das Kammerfenster vernagle ich von außen mit starken Brettern. Wir haben<br />

Glück, das die junge Polin meist nicht da ist, dürfen wir unsere Räume behalten und<br />

schließen auch ab, wenn wir zur Arbeit geholt werden.<br />

Als wir unter polnischer Führung eines Tages Heu einfahren wollen, neben der <strong>Schlawe</strong>r<br />

Siedlung oberhalb der Walkmühle, ist das ganze Heu schon weg, ob die Russen? Das<br />

Gefluche ist groß.<br />

Eine Zeit lang muss ich Arbeit bei den Polen auf dem Hof von Willi Pieper verrichten. Die<br />

Polenkinder beobachten mich meistens neugierig und so lernt man manch polnisches<br />

Wort. Beim Versuch der Vertiefung der Sprachkenntnisse gibt es auch Schwierigkeiten.<br />

Eines Tages, H. Messing war natürlich auch wieder dabei, üben wir hinter der Hecke<br />

zwischen W. Pieper und Neitzke lautstark polnische und russische Flüche. Plötzlich vor<br />

der Hecke auf dem Weg lautes Schimpfen: "Ich sage Bürgermeister, was du sagst zu polnische<br />

Frau!" Damit entfernt sich die von uns vorher nicht bemerkte schnell auf dem Fahrrad.<br />

Aus welchen Gründen auch immer, es hatte weiter keine Folgen.<br />

Gerüchte halten sich immer noch. Einmal, bei der Feldarbeit an der Chaussee nach <strong>Schlawe</strong>,<br />

sehen wir, dass unser Marientaler Militär geschlossen nach <strong>Schlawe</strong> marschiert, der<br />

Leutnant zu Pferde vorneweg. Frau Schröder meint, nun ziehen sie doch ab. Aber Abends<br />

sind sie wieder da. Hin und wieder treibt uns auch Tadek bei der Arbeit an und fuchtelt<br />

mit einer Pistole herum. Im September wird gedroschen. Ich bin, wohl durch Vermittlung<br />

von Erika, bei ihren Eltern auf dem Hof Ziemann(mit anderen)beschäftigt. Mittags<br />

werde ich von ihrer Mutter, einer gutmütigen Polin, im Wohnzimmer mit Speisen versorgt.<br />

Brot, einem Weißkäse, der, in einem Tuch gepresst, dann eine flachrunde Form<br />

annimmt und herrlich schmeckt, sowie Milch.<br />

In den ersten Oktobertagen sagt Mutti, sie habe gehört, es gäbe bei der polnischen Eisenbahn<br />

die Möglichkeit zu arbeiten. Der Rottenführer wohnt in Marienthal im Eisenbahnerhaus,<br />

wo Strehlaus wohnten. Schnell ist alles perfekt, ich kann anfangen. Der Einsatz der<br />

Rotte erfolgt vom Quäsdower Bahnhof aus. Der Verdienst ist 1o zł pro Tag. Wir fangen<br />

früh um 7°° Uhr an. Da es jetzt morgens noch lange dunkel ist, nicht ganz einfach, wenn<br />

man erst die 4 km laufen muss. Die Arbeit ist angenehm. Der Rottenführer, der kein<br />

deutsch spricht, bedient sich einer Dolmetscherin, die aus Ostpreußen stammt. Sonst besteht<br />

die Rotte nur aus Männern, die auch meist aus Ostpreußen kommen. Es ist weiter<br />

kein Marientaler dabei. Wir bessern Wasserdurchlässe aus, beschneiden die Sträucher am<br />

Bahndamm und legen die Kilometersteine frei. Als Hauptarbeit jedoch werden die Schienen<br />

systematisch nachgestopft. Allgemeiner Respekt herrscht vor dem Bahnrat, der aus<br />

<strong>Schlawe</strong> kommt und von Zeit zu Zeit unsere Arbeit inspiziert.<br />

100


Eines Tages, es ist der 12.Oktober,komme ich von der Arbeit nach Hause. Es ist niemand<br />

da. Die erste Ausweisungswelle hat die meisten Deutschen erfasst, die in 1o Minuten mit<br />

Handgepäck zusammen getrieben und auf Wagen nach <strong>Schlawe</strong> gebracht werden. Hier<br />

stehen sie dann noch bis zum nächsten Tag in Güterwagen auf dem Bahnhof. Mutti hat<br />

auch für mich Sachen zum Anziehen mitgenommen, da sie annimmt, ich komme abends<br />

nach. Sie hat aber einen Schinkenknochen dagelassen, damit ich etwas zu essen finde.<br />

Erika wühlt in unseren Sachen herum, da der Kammerschlüssel stecken bleiben musste.<br />

Die Polin ist sehr überrascht, dass ich noch da bin und verschwindet schimpfend, nimmt<br />

jedoch den Schlüssel mit. Mietek kommt, um nachzusehen, ob die Familie K. noch da ist.<br />

Er ist sehr enttäuscht, dass auch diese ausgewiesen ist. Ich bin wütend und gehe zum Bürgermeister,<br />

um mich über Erika zu beschweren. Da mir zugestanden ist, als Arbeiter beim<br />

Staat einen Raum in unserem Hause zu bewohnen und auch abzuschließen, verlange ich<br />

die Herausgabe <strong>des</strong> Schlüssels. Das hätte Folgen für mich haben können, denn die Beschwerde<br />

eines Deutschen über eine Polin hätte eigentlich mit Prügel an dem Pfahl geahndet<br />

werden müssen, der vom Bürgermeister vor dem Gasthof errichtet wurde und<br />

einigen Deutschen, die unvorsichtige Äußerungen machten, zum Verhängnis wurde.<br />

Durch die Vermittlung meines Rottenführers, der sich für mich einsetzt, wird alles ausgebügelt.<br />

Man macht mir allerdings den Vorschlag, der Erika den Schlüssel zu belassen da<br />

es ja nur eine Kammer sei und ich- solle das gute vordere Wohnzimmer übernehmen. Ich<br />

denke an den wertvollen Keller und lehne ab. Wie es mir gelingt, im Dunklen früh aufzustehen<br />

und ganz ohne Uhr pünktlich in Quäsdow zu sein, weiß ich selbst nicht. Der Pole<br />

Liomko ,der auf dem Hof von Frieda Fischer sitzt, fungiert als stellvertretender Bürgermeister.<br />

Er kümmert sich um mich und lädt mich ein, nach Feierabend zu ihm zum Essen<br />

zu kommen. Ich sitze mit den Polen am Tisch. Es steht eine große Schüssel in der Mitte<br />

<strong>des</strong> Tisches, jeder langt mit einem Löffel hinein. Für den nächsten Tag bekomme ich<br />

dann noch Brot und Butter mit. Allerdings stellt Stanislaw eine Bedingung. Ich soll ihm<br />

dafür mein , großes Holzmodell der "Scharnhorst" für seinen Sohn zum Geburtstag geben.<br />

Da es für mich inzwischen wertlos ist, willige ich natürlich ein. Die leichten Schäden an<br />

den Masten, die es im Keller erlitten hat, sind bald behoben.<br />

Bei der Rottenarbeit ist es inzwischen recht kalt geworden. Es ist November 1945 und wir<br />

wärmen uns oft an einem Feuer am Bahndamm. Eines Tages steht unverhofft oben auf<br />

dem Bahndamm der Bahnrat und schimpft herunter: "Nun, was ist?" Wir sind nun nicht<br />

mehr so eingeschüchtert und einer erwidert: "Feuer ist!" Worauf der Bahnrat verschwindet.<br />

Inzwischen werde ich zum Streckenläufer ernannt. Mein Abschnitt ist von Quäsdow<br />

über Marienthal nach <strong>Schlawe</strong> (bis zum Einfahrtssignal)und zurück bis Marienthal, den ich<br />

mit Schlüssel und Hammer abgehe und durch anschlagen der Laschen die Festigkeit und<br />

Zustand der Schienen überprüfe. Ein fahrplanmäßiger Zugverkehr findet aber noch nicht<br />

statt. Damit ist für mich etwa um Mittag Feierabend. Als Arbeiter bei der PKP habe ich<br />

einen Ausweis und kann mich so unbehelligt bewegen. Das nutze ich, indem ich in<br />

<strong>Schlawe</strong> Schulfreunde besuche und für deren Familien einkaufe. Deutsch darf nicht mehr<br />

gesprochen werden. In der Stadt ist noch kein Schutt geräumt und der Brandgeruch ist<br />

immer noch spürbar.<br />

Michel auf Schwuchows Hof fordert mich auf, bei ihm zu arbeiten. Mit Hinweis auf meine<br />

PKP-Arbeit lehne ich ab. Außer der Äußerung "Scheiß- Eisen- bahn" muss er sich<br />

zufrieden geben.<br />

Von dem Bürgermeister ist bei einer Kontrolle festgestellt worden, dass unsere Kuh(nach<br />

Muttis Ausweisung)völlig abgemagert im Stall steht. Mich macht man nach Befragen dafür<br />

nicht verantwortlich und so wird die Kuh nach Fischers geholt .Weiteres Vieh ist nicht<br />

mehr da. Erika wird das Haus weggenommen.<br />

101


Die nun folgenden Polen sind ein junges Pärchen, das sehr nett ist. Sie möchte immer für<br />

mich kochen, doch, nachdem sie im Garten einen großen Kürbis entdeckt hat, wird es<br />

immer nur Kürbissuppe. Da gehe ich doch lieber weiter zu Liomko. Als wir "Eisenbahner"<br />

einmal mit unserem alten Reichsbahn-Akku-Triebwagen nach Rügenwalde fahren, um<br />

dort eine Arbeit zu erledigen, werden wir von polnischen Fahrgästen beschimpft , wir sollten zu<br />

Fuß gehen. Das Vorzeigen unserer Ausweise besänftigt.<br />

Inzwischen, mit dem Verschwinden von Erika. bin ich doch ins Vorderzimmer umgezogen.<br />

Auch einen Teil unserer Möbel habe ich noch dort. Die Kellerluke in der Kammer wird<br />

sorgfältig getarnt und auch nicht gefunden. Allerdings wird sie kurz nach meiner Abreise<br />

von einem Deutschen, der schon immer scharf auf mein gutes Spielzeug war, aufgebrochen!<br />

Den Namen will ich hier nicht nennen. Auf diesem Wege jedoch erreicht mich viel<br />

später mein Konfirmationsbild, das der Pole sichergestellt hat.<br />

Inzwischen berichtet jemand aus Ujatzthal, dass man nach Berlin reisen kann. Da wir dort<br />

viel Verwandschaft haben und ich <strong>des</strong> Alleinseins überdrüssig bin, bemühe ich mich um<br />

die Ausreise. Mein Rottenführer will mich zuerst nicht freigeben, willigt dann aber doch<br />

ein, unter der Bedingung, dass ich ihm ein Puder Roggen beschaffe. Er weiß wohl, daß<br />

wir unseren Roggen noch vor der Polenzeit geerntet und in der Scheune liegen haben. Ich<br />

organisiere einen Wagen und bei Nacht und Nebel wird der eigene Roggen gestohlen und<br />

ein Puder zu Strehlaus gebracht.<br />

Nachdem der Rottenführer mir nochmals die Möglichkeit der Option für Polen erklärt,<br />

entlässt er mich dann doch, worauf ich am 5. Dezember nach <strong>Schlawe</strong> auf das ehemalige<br />

Kreishaus gehe, um eine Reisebescheinigung zu bekommen. Diese wird sofort ausgestellt<br />

und. lautet auf Familien- Zusammen- führung nach Berlin.<br />

Abends wird die Abreise vorbereitet. Das vergrabene Geld und die Sparbücher werden von<br />

der Koppel geholt und das Geld, längsgefaltet, in den Bund der Unterhose genäht. Meine<br />

Armbanduhr wird ohne Armband in die rechte(!) Stulpe der ehem. HJ-Winteruniform<br />

eingenäht, die ja breite, gesteppte Stulpen hat, wo eine flache Uhr nicht auffällt. Als<br />

Rucksack wird ein kleiner Jutesack genommen, der mit Stricken versehen wird. Es muss<br />

alles recht schäbig aussehen, da, wie man hört, unterwegs in den Zügen noch viel gestohlen<br />

wird und die Polen sehr scharf auf Reichsmark sind.20 RM kommen lose in die Tasche.<br />

Am nächsten Tag ziehe ich recht viel an, ein paar schlechte Schuhe an die Füße und<br />

bessere in den Sack, sowie auch Unterwäsche. Ganz unten die Sparbücher sowie ein Silberbesteck-<br />

Messer. Dazu die alte Wollpudelmütze für alle Fälle. Oben drüber ein langer<br />

Mantel. Es ist kalt in diesem Winter. Zuvor hatte ich mich bei einigen Deutschen, so auch<br />

von Schröders, verabschiedet. Von Fischers bekomme ich noch ein Kalenderbuch, worin<br />

ich Adressen notiere. Auch die Polenfamilie wünscht mir alles Gute.<br />

Zugegebenermaßen fällt der Abschied von der Heimat nicht allzu schwer. Die Eltern sind<br />

nicht da und alles andere ist durch die Fremdherrschaft sowieso vergällt. Außerdem nimmt<br />

die Überlegung, Organisation und Durchführung eines so endgültigen Entschlusses, bei<br />

dem niemand raten kann, einen 15-jährigen voll in Anspruch.<br />

Kurz vor dem Bahnhof in <strong>Schlawe</strong> verlangt ein Pole, ich soll ihm meinen Mantel verkaufen.<br />

Bevor er ihn mir auch so nimmt, nehme ich die 1oo Zloty die er bietet. Ich gehe daraufhin<br />

in die Stadt zurück und kaufe dafür eine Tafel Schokolade. Beim Auswickeln zeigt<br />

sich, dass es nur eine dünne Schokoladenschicht auf einer Waffel ist.<br />

Nachdem ich lange auf dem Bahnhof gewartet habe, sagt man mir, dass an diesem Tage<br />

gar kein Zug in Richtung Westen gehe. So gehe ich spät abends nochmals nach Marienthal<br />

und übernachte noch einmal in unserem Hause. Am nächsten Tag, es ist der<br />

7.Dezember 1945,haben sich mehrere deutsche Familien auf dem Bahnhof eingefunden.<br />

Sie haben verhältnismäßig viel Gepäck dabei, auch große Bettenbündel und kommen aus<br />

102


nördlicher Richtung von <strong>Schlawe</strong>. Es ist dunkel, als uns endlich ein Zug benannt wird, der<br />

nach Westen geht. Für Deutsche sind am Schluss gedeckte Güterwagen angehängt. Als<br />

ich einen Wagen besteigen will, wird mir von innen(!)die blaue Schirmmütze vom Kopf<br />

gerissen. Wie gut ,dass ich noch den alten Wollpudel mitgenommen habe. Schnell gehe<br />

ich zu einem anderen Wagen, wo auch die anderen Familien einsteigen. Während der<br />

Nachtfahrt muss der Zug mehrmals halten. Bei fast jedem Halt steigen Räuberbanden in<br />

die Güterwagen und durchsuchen alles und nehmen mit, was gefällt. Dank meiner Voraussicht,<br />

recht schäbig auszusehen, wird mir nichts weggenommen. Als einer sehr dringlich<br />

nach Geld verlangt, gebe ich die 20 RM, die ich vorsorglich lose in der Tasche habe. So<br />

vermeide ich peinliches Weitersuchen.<br />

Als wir endlich in Stettin-Scheune ankommen, sind die Familien mit dem großen Gepäck<br />

ihre gesamten Sachen los. Wir stehen auf dem Bahnsteig und warten auf den Weitertransport.<br />

Während <strong>des</strong>sen suchen Polen zwischen den Männern Arbeitskräfte heraus. Angeblich<br />

soll nur ein Schafstall entmistet werden. Auch ich bin dabei. Unter dem Vorwand,<br />

meinen Rucksack absetzen zu wollen, trete ich zurück und verschwinde in der Menge.<br />

Dann nehme ich die mitgebrachte graue Wehrmachtsdecke über den Kopf und bin eine<br />

Frau. Endlich ist diese letzte Hürde überstanden und ein Güterzug mit nun offenen Wagen<br />

wird von der Sowjetzonenseite herangeschoben.<br />

Unter langsamer Fahrt geht es endlich los und bald haben wir die Demarkationslinie überwunden.<br />

Nun sind wir zwar der polnischen Willkür entronnen, doch die große Erleichterung<br />

will sich nicht einstellen, sind wir ja immer noch im sowj. Machtbereich. Erst spät in<br />

der Nacht erreichen wir Angermünde, wo die Fahrt zu Ende ist. Die Umleitung erfolgt nach<br />

Binz /Rügen, wo eine 3-wöchige Quarantäne zu überstehen ist. Daran anschließend erfolgt<br />

die Auffindung von Mutter und Vater, was aber nicht mehr Inhalt dieses Berichtes sein soll.<br />

103


104


Kurt Mielke 19<br />

Ein Schicksal von Millionen<br />

<strong>Schlawe</strong> in Pommern 1945<br />

Erlebnisbericht<br />

aus Tagebuchaufzeichnungen<br />

Zum Geleit<br />

Der Vorstand der J.G. Herder-Bibliothek Siegerland e.V. kann hiermit den Band 26 der<br />

Schriftenreihe der Őffentlichkeit vorlegen. Er ist das Ergebnis der seit Jahren bewahrten<br />

Zusammenarbeit mit dem Heimatkreisausschuss <strong>Schlawe</strong> in Pommern, mit dem zusammen<br />

schon die Bandę 19 und 22 unserer Schriftenreihe erscheinen konnten. Betrafen<br />

jene Bandę die Geschichte zweier Kirchspiele <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> <strong>Schlawe</strong> (Wusterwitz und<br />

Quatzow) mit zusammen acht Dorfern, so dokumentiert der vorliegende Band ein dunkles<br />

Kapitel der Zeitgeschichte im Jahre 1945 am Beispiel <strong>Schlawe</strong>, das trotz zahlreicher<br />

Erinnerungs- und Dokumentationsbande noch nicht umfassend erforscht und dargestellt<br />

wurde und das noch langst nicht im historischen Bewusstsein von Deutschen und erst<br />

recht noch nicht von Polen gegenwärtig ist.<br />

Möge die wahrheitsgemässe Erlebnisschilderung aus dem Kreis <strong>Schlawe</strong> der künftigen<br />

systematischen Erforschung eine wichtige Quelle sein; möge się dem nicht aus der Erlebnisgeneration<br />

stammenden Leser helfen, das Schicksal und die Gefühle der deutschen<br />

Heimatvertriebenen besser zu verstehen, als das in der breiten Őffentlichkeit unserer<br />

Tage der Fall ist.<br />

Hilchenbach, den 6. Juni 1991 Peter Worster<br />

Vorwort<br />

Im Rahmen der Dokumentationen über den ehemaligen Kreis <strong>Schlawe</strong> in Pommern legt<br />

der Heimatkreisausschss <strong>Schlawe</strong> żur Erinnerung an sein langjähriges Mitglied Kurt<br />

Mielke, in Zusammenarbeit mit der Vereinigung <strong>ehemaliger</strong> Schuler/innen <strong>des</strong> <strong>Schlawe</strong>r<br />

Gymnasiums bzw. der Oberschule und der Mittelschule, die Darstellung seiner persönlichen<br />

Erlebnisse im Schicksalsjahr 1945 vor.<br />

Das Tagebuch dieses persönlichen Schicksals gibt einen ein-drucksvollen Einblick in die<br />

tatsachlichen Ablaufe der Geschehnisse und in die subjektiven Gefühle von Beteiligten.<br />

19 Kurt Mielke – geb. 1921, Sohn <strong>des</strong> <strong>Schlawe</strong>r Zahnarztes Wilhelm Mielke nd seiner<br />

Frau Maria geborene Klenz. Die Familie wohnte in <strong>Schlawe</strong> A.Hitlerstr.16 im Gebäude<br />

<strong>des</strong> heutigen Kindergartens. Seine <strong>Erinnerungen</strong> wurden 1991 veröffentlicht (aufgezeichnet<br />

1946-47). K.M. arbeitete als Journalist, er war Mitglied der Gesellschaft <strong>ehemaliger</strong><br />

Schüler <strong>des</strong> <strong>Schlawe</strong>r Gymnasiums. Verstorben 1976 in Wiesbaden.<br />

105


Damit erhalt es einen exemplarisch - dokumentarischen Wert von besonderer Bedeutung.<br />

In beschrankter Auflage wird das Buch im Einvernehmen mit der Familie <strong>des</strong> verstorbenen<br />

Autors zum Selbstkostenpreis "Freunden, Bekannten und Verwandten" und darüber<br />

hinaus wissenschaftlichen Bibliotheken und allen, die an der Geschichte <strong>des</strong> ehemals<br />

deutschen Ostpommern interessiert sind, zur Verfügung gestellt.<br />

Die Herausgeber sind sehr dankbar, dass die Herderbibliothek Siegerland e.V. das Buch<br />

in ihre Schriftenreihe aufgenommen hat. Ihr Dank gilt auch allen, die an dem Zustandekommen<br />

dieser bedruckenden Dokumentation durch Subskription, durch Spenden und<br />

durch Zurverfügungsstellung von Bildmaterial beteiligt gewesen sind.<br />

Die Druckvorlage erstellte die Firma "Kunst 8 Kommerz", Volker Brüning, Amöneburg.<br />

Den Druck besorgte das Atelier für Graphik und Gestaltung, H. Will in Schöffengrund.<br />

Siegen/Duisburg, im April 1991<br />

gez.<br />

Gosch, Vors. <strong>des</strong> HKA<br />

Boll, Sprecher der Schulervereinigung<br />

1. Einführung in Meinen Erlebnisbericht<br />

Der Zweite Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen gehören zu den herausragenden<br />

Ereignissen (nicht nur) meiner Generation. - In der "Befreiung"<br />

durch die Rotę Armee und der Polonisierung der deutschen Ostprovinzen durch<br />

die polnische Verwaltung erlebte ich die schmachvollste Epoche in der<br />

Geschichte meiner pommerschen Heimat aus unmittelbarer Anschauung.<br />

Wie war es damals ... 1945?<br />

Für Millionen Menschen war es das Jahr „Null“. Eine Zeit der Verzweiflung<br />

und der Hoffnungslosigkeit, ein Leben in Angst und Not mit schmerzlichen<br />

Überraschungen. Mitten im Leben stand mań mitten im Tod.<br />

Ich habe versucht, die Begebenheiten im letzten Abschnitt <strong>des</strong> Krieges und<br />

den nachfolgenden Monaten <strong>des</strong> Jahres 1945 zu rekapitulieren.<br />

Gedanken und <strong>Erinnerungen</strong> (1946 in Ascheffel / Langstücken, Schleswig<br />

Holstein) zu ordnen, się (1947 in Baden-Baden) in einen Zusammenhang<br />

zu bringen, fiel mir nicht schwer, denn mein Tagebuch konnte ich hinter<br />

einem Gipsverband retten. Für mich war es wertvoller als Gold und Silber, das<br />

mit anderem verlorenging.<br />

Aus meinen Aufzeichnungen entstand dieser Erlebnisbericht Er schildert mein persönliches<br />

Schicksal. Meine Erlebnissphäre war symptomatisch für fast alles, was<br />

1945 „jenseits“ der Oder geschah. Mein Schicksal ist daher kein Einzelschicksal,<br />

sondern nur „Ein Schicksal von Millionen“.<br />

Dieser Bericht erhebt keinen literarischen Anspruch. Er diente bisher nur einer<br />

Auswertung für die Zusammenstellung einer Dokumentation über die 'Provinz<br />

Pommern 1945'. Einmalige historische Ereignisse festzuhalten, hielt ich für<br />

meine Pflicht und für eine dokumentarische Notwendigkeit. Nicht nur von<br />

Deutschen wurden Greuel begangen, und nicht nur Deutsche verdunkelten das<br />

Bild der Vergangenheit. Der Sieger, der die deutschen Ostprovinzen eroberte, hinterließ<br />

schreckliche, aber wahrhafte Bilder. Sie werden niemals ausgelöscht werden<br />

können, und belasten ebenfalls die Bilanz <strong>des</strong> Bösen in dieser Welt.<br />

106


Die mir selbst gestellte Aufgabe, diesen Bericht zu erstellen, war nicht nur<br />

mein eigener, brennender Wunsch, sondern entsprach auch der Bitte vieler<br />

Freunde, Bekannter und Verwandter, die miterlebten und nicht miterlebten.<br />

Namentlich genannte Personen sind Zeugen <strong>des</strong> Geschehens. Manche Namen<br />

werden taktvoll verschwiegen.<br />

Einige Menschen wollen ungerne an jene Zeit erinnert oder mit ihr konfrontiert<br />

werden. Jeder aber, der das Leben bejaht, muss Eindrücke jeder Art aufnehmen<br />

und verarbeiten können, trotz der Fülle von Ablenkung in einer materiellen<br />

Welt.<br />

Wir alle müssen lernen von denen, die vor uns waren, und von denen, die<br />

mit uns sind.<br />

Das Erlebte im Jahre 1945 blieb im Bewusstsein verwurzelt. Was ich sah, hörte<br />

und empfunden habe, schrieb ich nieder. Die Gewissheit, dass hinter schattenwerfenden<br />

Dingen die Sonne scheint, gab mir Kraft und Energie zum Überleben. Das Wissen um<br />

jene Stunden der Angst und der Not, der Tränen und <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, gab mir den Impuls für<br />

die lebenden und die nachfolgenden Generationen ein glaubwürdiges Dokument zu<br />

schaffen, denn die Wirklichkeit schreibt wahre Geschichte; sie macht Gedanken, Worte<br />

und Taten sichtbar und unvergänglich und schafft so ein bleiben<strong>des</strong> und wahrheitsgetreues<br />

Bild.<br />

Kurt Mielke, Wiesbaden - Dotzheim 1967-69<br />

2. Einleitung<br />

Nach einer glücklichen Jugendzeit in meinem Elternhaus, in meinem Freun<strong>des</strong>kreis und<br />

meiner pommerschen Heimatstadt <strong>Schlawe</strong>, wurde ich aus meinem Beruf heraus zum<br />

Wehrdienst einberufen (5.2.1941).<br />

Nach kurzer Ausbildung im Pionier Btl. 12 in Schwedt/ Oder kam ich żur Fronttruppe<br />

(Infanterie Division 258). Zwei Sommer und zwei Winter war ich als Pionier an der Ost-<br />

Front. Zwei leichte Verwundungen<br />

überstand ich mit Glück, das dritte Mae erwischte es mich auf einem Himmelfahrtskommando<br />

sehr schwer. Ich blutete aus vielen Wunden und war nach über einjähriger<br />

Lazarettzeit (Gshatsk - Wjasma - Krakau - Freudenstadt - Forbach - Rastatt - Stolp) nicht<br />

mehr frontverwen dungsfähig.<br />

Im September 1944 bekam ich von meiner Truppe einen sechsmonatigen Studienurlaub<br />

zum Besuch der Staatsbauschule. Im "Florenz <strong>des</strong> Ostens", der damals noch unzerstörten,<br />

herrlichen Stadt Dresden, konnte ich mich mit gutem Erfolg meiner weiteren Berufsausbildung<br />

widmen.<br />

Nach der russischen Groß - Offensive im Januar 1945 stießen sowjetische Truppen in die<br />

deutschen Ostprovinzen vor. Die Stadt Dresden wurde von den Flüchtlingen aus Schlesien<br />

überflutet. Schulen wurden geschlossen, um die Menschenmassen ohne Hab und<br />

Gut aufzunehmen.<br />

Meine Ausbildung wurde abermals unterbrochen. Ich kehrte von Dresden nach <strong>Schlawe</strong><br />

zurück, denn auch von meiner Heimat waren die Russen nicht weit entfernt. Hier erlebte<br />

ich die letzte Phase <strong>des</strong> Zweiten Weltkriegs. Möglichkeiten zur Flucht in das menschenüberfüllte<br />

und ausgebombte Restdeutschland gąb es noch, aber mit meinen Eltern, die<br />

sich - wie der größte Teil der <strong>Schlawe</strong>r Bevölkerung - entschlossen hatten auszuharren,<br />

blieben auch meine Schwester und ich zu Hause. Was uns bevorstand wussten wir nicht.<br />

Mit dem Einmarsch der Roten Armee wurden aber unsere schlimmsten Befürchtungen<br />

übertroffen. Unsere "Befreier" brachten das Chaos.<br />

107


Eine Mordwelle überrollte unsere Stadt. Es folgten Vergewaltigungen der Frauen und<br />

Madchen, betrunkene Horden steckten die Hauser in Brand, Männer und Frauen (meine<br />

Eltern) 20 wurden unschuldig verschleppt, Verlust von aller Habe, von Haus und Hof.<br />

Plünderungen, Einkerkerungen, Hunger und Epidemien, Aufregungen und Angst. Ein<br />

Weg <strong>des</strong> Grauens in eine ungewisse Zukunft.<br />

Nach der ersten Epoche <strong>des</strong> Lei<strong>des</strong> kam die Polonisierung <strong>des</strong> deutschen Ostens. Im<br />

August 1945 unterzeichneten die Siegermächte durch Truman (USA), Stalin (UdSSR)<br />

und Churchill, später Attlee (Großbritannien) das Potsdamer Abkommen. Es beinhaltete<br />

kurz: Nördlicher Teil von Ostpreußen (mit Königsberg): unter sowjetische Verwaltung,<br />

den Rest der estlichsten deutschen Provinz mit Schlesien und Pommern (einschließlich<br />

ganz Stettin): unter polnische Verwaltung - bis żur endgültigen Regelung durch einen<br />

Friedensvertrag. Die Vertreibung deutscher Bevölkerung wurde grundsätzlich gebilligt.<br />

Aus der sogenannten "Verwaltung" wurde eine absolute Vergewaltigung. Für ein normales<br />

Vorstellungsvermögen, begannen in Ausmaß und Auswirkung kaum denkbare Vorgange.<br />

Von den Potsdamer Signataren heraufbeschworen, wurden się dem ganzen deutschen<br />

Volke spürbar, insbesondere natürlich den Millionen Menschen aus Ostpreußen,<br />

Schlesien und Pommern, die den Untergang ihrer blühenden Provinzen mit Leib und<br />

Seele miterlebten. Für się war es ihre Heimat - für Deutschland war es Lebensraum von<br />

besonderer kultureller Identität. Wie unter der russischen Besatzung war das Leben unter<br />

polnischer "Verwaltung" für uns Deutsche nichts anderes als ein sinnloses Dahin- Vegetieren.<br />

Trostlos, rechtlos und gedemütigt durchwanderten wir die Gefängnisse, ohne<br />

Schuld, ohne Grund, ohne Hoffnung. Abgeschnitten vom "andereń" Deutschland jenseits<br />

der Oder, ohne jede Nachricht über nichts orientiert, nur von Gerüchten lebend, im Spatsommer<br />

1945 noch keine Ahnung vom bereits im Mai vollzogenen Waffenstillstand.<br />

Wir harrten aus mit dem Mut verzweifelter Menschen. Mit starker seelischer Substanz<br />

und übermenschlicher Kraft versuchten wir zu überleben. Vergeblich stellten wir uns<br />

dem Unrecht entgegen. Im Bewusstsein ihrer Unschuld warteten viele auf den Großmut<br />

der Siegermächte. Aber über unser Land ergoss sich ein Strom von Rache, Vergeltung<br />

und Vernichtungswillen, ausgelost durch die Konferenzen in Teheran 1943 und in Jałta,<br />

Februar 1945. Stalin, der Mann, der einst mit Hitler paktierte, bestand auf der sogenannten<br />

"Oder-Neiße-Linie" und wollte auch Ostpreußen. Der Zugang żur Ostsee war bereits<br />

seit dem Zarenreich ein Ziel russischer Expansion, den Sowjets passte es in die Pläne<br />

ihrer beabsichtigten Weltrevolution.<br />

Roosevelt offerierte den Morgenthau-Plan 21 und Winston Churchill versicherte<br />

im Dezember 1944 vor dem englischen Unterhaus u. a.:<br />

"Die Vertreibung ist das befriedigendste und dauerhafteste Mittel!"<br />

Alles kam, wie nach den Anzeichen nicht anders zu erwarten. Sehr schnell begann die<br />

Vertreibung der deutschen Bevölkerung, soweit się nicht bereits vor ihren "Befreiern"<br />

geflohen war, oder durch die erdrückenden Lebensverhältnisse (keine Lebensmittel -<br />

kein Wasser - kein Geld) auf eigene Faust die Heimat verlassen hatte.<br />

20 Kurt Mielke ist der 2. Sohn <strong>des</strong> Dentisten und Zahnarztes Wilhelm Mielke,<br />

*29.01.1897, oo Maria Klemz, <strong>Schlawe</strong>, Kösliner Vorstadt 40 (Adolf-Hitler-Strasse 16)<br />

21 Plan <strong>des</strong> Finanzministers der USA Henry Morgenthau jr., der die Zurückentwicklung<br />

Deutschlands in ein Agrarland vorschlug und die Demontage von Fabrikanlagen in den<br />

ersten Nachkriegsjahren auslöste.<br />

108


Die Brutalität dieser unmenschlichen Austreibungsaktion ist mit Worten kaum darstellbar.<br />

Säuglinge, Kinder, Greise und Kranke wurden als rechtlose Elemente geschlagen<br />

und getreten wie Vieh, in dreckigen und überfüllten Waggons żur "Grenze" gebracht.<br />

Eine mittellose Masse Elend wurde in das Restdeutschland hineingepumpt. Im Potsdamer<br />

Protokoll nannte mań es "ordnungsgemäße und humane Umsiedlung aus den Ostgebieten".<br />

Eine „Umsiedlung“ von ca. 10 Millionen Menschen in das von der amerikanischen<br />

Luftwaffe und englischen Royal-Air-Force durch Bomben und Phosphorkanister<br />

zerstörte Deutschland.<br />

Der furchtbare Krieg hat über viele Völker unsägliches Leid gebracht, aber was in der<br />

Nachkriegszeit geschah, hat keine Parallelen. Die Austreibung der ostdeutschen Bevölkerung<br />

ist in der europäischen Geschichte ein bisher beispielloser Vorgang und entbehrt<br />

völkerrechtlich jeder Grundlage.<br />

Die deutsche Geschichte dieser Provinzen, die langst begonnen hatte, ehe Amerika entdeckt<br />

wurde, hatte ihr Ende gefunden!<br />

3. Rückblick auf das Alte Jahr<br />

3.1. Sylvester - 31.12.1944<br />

Abschied vom alten Jahr - Sylvester. In meiner Heimat war dieser Tag schon immer<br />

etwas besonderes. Freunde fanden sich zusammen, oder man feierte bei Verwandten und<br />

Bekannten. Lokalitäten waren überfüllt, man ging gerne aus an diesem Tage, man kostümierte<br />

sich sogar wie beim Karneval am Rhein. Zur Mitternacht zog man lautstark<br />

zum Marktplatz. In die mit Spannung erwarteten zwölf Glockenschläge knallte es dann<br />

aus allen Rohren. Jeder war sein eigener Feuerwerker. Anschließend wurde dann weiter<br />

gefeiert, bis in die frühen Morgenstunden <strong>des</strong> neuen Jahres.<br />

So war es im Frieden in meiner kleinen Heimatstadt.<br />

An diesem Silvester 1944 wollten wir Abschied nehmen vom fünften<br />

Kriegsjahr. Meine Schwester Brigitte und ich waren zu einer kleinen Feier bei<br />

Familie Last 22 eingeladen.<br />

Traditioneller Sylvesterpunsch, gefüllte Berliner oder Krepel wie man hier sagt - Pfannkuchen,<br />

Raritäten in dieser Zeit - alles war vorhanden. In Friedenszeiten ließ man Pfannkuchen<br />

auf Sonderbestellung beim Konditor mit "Mostrich" (Senf) füllen, wer dann<br />

einen davon erwischte, war selber schuld. Solche Scherze wollte man sich im Kriege<br />

natürlich nicht erlauben. In dieser Nacht schaute man öfter auf die Uhr als sonst, man<br />

verfolgte die Zeiger bis zur Mitternacht. Bei der „Zwölf“ stand man an der Grenze zweier<br />

Jahre, das „alte“ kannte man, vom „neuen“ wusste man nicht, was es bringen würde.<br />

365 Tage zogen in Gedanken an einem vorüber. Ich hatte z. Zt. Urlaub von meinen<br />

Truppenteil und kurze Festtagsferien von der Staatsbauschule in Dresden. Ich war glücklich,<br />

dass ich diese Tage daheim sein durfte. Nach meiner schweren Verwundung war<br />

der Krieg praktisch aus für mich.<br />

Meine Gedanken in dieser Nacht eilten zurück zu meinen Kameraden an der Ostfront.<br />

Wie mochte es ihnen ergangen sein, wer lebte noch, wer war in der Zwischenzeit gefallen?<br />

Ich dachte an meinen Bruder, wo mochte er wohl stecken in dieser kalten und verschneiten<br />

Sylvesternacht? Seine Gedanken waren sicher auch zu Hause. Ich dachte an<br />

alle meine Freunde, wo waren sie, der Krieg hatte uns alle durcheinandergewirbelt. Im<br />

Radio läuteten die Glocken - es war 24.00 Uhr - man verkündete das neue Jahr: das Jahr<br />

1945. Wir stießen an mit unseren Freunden, und dankten den Gastgebern für den netten<br />

22 Willi Last, Dir. der Kreissparkasse, Stolper Vorstadt 21.<br />

109


Abend. Telefonisch wünschten wir unseren Eltern einen „guten Rutsch“ , sie waren mit<br />

der Großmutter (85) zu Hause geblieben, still und ruhig - der Zeit entsprechend. Wir alle<br />

wünschten uns für das neue Jahr 1945 Glück und Gesundheit - am sehnlichsten aber den<br />

Frieden, und mit diesem die Heimkehr all unsrer Lieben.<br />

3.2. 1944 - Ein Ruckblick<br />

Das vergangene Jahr 1944 war für mich persönlich reich an Ereignissen. Neben Verdruss<br />

und Arger hat es mir auch manche schöne Stunde gebracht. Bevor ich auf das<br />

Schicksalsjahr 1945 eingehe, blendę ich auf die vergangenen 12 Monate zurück.<br />

Januar 1944: 13 Monate Lazarettzeit mit fünf Operationen lagen hinter mir. Wohl oder<br />

übel musste ich im Januar 1944 zu meinem Ersatztruppenteil nach Schwedt/Oder zurück.<br />

Es folgten drei Monate Nichtstun mit ärztlicher Behandlung in der Genesungs-<br />

Kompanie. Anfang Mai erfolgte ein Kommando auf den Truppenübungsplatz Altwarp in<br />

Vorpommern. Ich saß warm und trocken auf einem Geschäftszimmer und erlebte hier,<br />

wie mań aus elsässischen Rekruten brauchbares Kanonenfutter machen wollte - eine<br />

schwere Aufgabe 1944.<br />

Altwarp, ein schönes Fleckchen Erde direkt am Stettiner Haff gelegen, war landschaftlich<br />

etwas für unser Herz. Mein Stubenkamerad, Walter Bodę aus Warnemünde, war ein<br />

passionierter Segler, und ich verdanke ihm manche schone Stunde auf dem Wasser. So<br />

war der Truppenübungsplatz für uns erträglich.<br />

Ein freudiges Ereignis im schönen Monat Mai. war die Hochzeit meines Freun<strong>des</strong> Karl-<br />

Heinz Georg (Otsch) 23 . Nach vorheriger Absprache erreichte mich folgen<strong>des</strong> Telegramm:<br />

- Heirate am 6. Mai - Du Trauzeuge - Dein Bruder Georg -<br />

Urlaub gab es auf dem Übungsplatz nur in Sonderfallen, auch für mich, der am Stock<br />

ging. Trauzeuge bei der Hochzeit <strong>des</strong> „Bruders“ - mein Kompanie-Chef konnte es auslegen,<br />

wie er wollte. Mein Gluck, dass er aus Rügenwalde stammte, der Urlaub wurde<br />

genehmigt. Ich verschwieg natürlich, dass „Bruder Georg“ nicht mein Bruder, sondern<br />

mein Freund Karl-Heinz war. Es hatte geklappt und mir war es vergönnt, für 48 Stunden<br />

nach Hause zu fahren. Es war eine große Freude für mich, bei diesem Fest meines guten<br />

Freun<strong>des</strong> dabei zu sein. Acht Stunden Bahnfahrt nahm ich gern in Kauf.<br />

Am Sonnabend Vormittag ging es mit den Brautleuten, sowie Vater Georg und mir als<br />

Trauzeugen, auf das Stan<strong>des</strong>amt ins <strong>Schlawe</strong>r Rathaus. Die kirchliche Trauung in der St.<br />

Marienkirche verlief schlicht und feierlich, und das große Fest im Hause Georg war fast<br />

eine Friedenshochzeit. Mutter Georg hatte ihre guten Beziehungen zur Agrarwirtschaft<br />

spielen lassen und hatte wie immer gut vorgesorgt. Soldatenherzen lachten!<br />

Zu meiner rechten Seite hatte ich eine reizende Tischdame, die Freundin der jungen Frau<br />

Georg. Ich war der letzte Gast, der am hellen Morgen <strong>des</strong> 7. Mai 1944 das Hochzeitshaus<br />

verließ. Mit meinem Krückstock als treuem Begleiter, ging es mit schwerem „Rückenwind“<br />

nach Hause. Polizeiwachtmeister Szebbin, der mich quer über den <strong>Schlawe</strong>r<br />

Marktplatz "segeln" sah, meinte lächelnd, der Zapfenstreich wäre wohl überschritten.<br />

Was kümmerte mich der Zappen - ich war in Zivil. Mein Kompliment, dass er „Ostpommerns<br />

bester Polizist“ sei, quittierte der kleine, dicke Szebbin wieder mit freundlichem<br />

Lächeln.<br />

23 Karl-Heinz Georg, *Stolp 26.04.1921, + Hagen-Dahl 06.01. 1985, Zahnarzt, Sohn d.<br />

Kreiswiesenbaumeisters Reinhold Georg, <strong>Schlawe</strong>, Stolper Vorstadt 40a (langjähriges<br />

Mitglied d. Heimatkreisausschuss <strong>Schlawe</strong> als Heimatkreisbearbeiter, oo <strong>Schlawe</strong><br />

06.05.1944 Magdalena Mritz, *Bütow 26. 07.1922.<br />

110


Zu unserem Bedauern vermissten wir unseren Freund Gunther (Papa) Raasch 24 auf der<br />

Hochzeit. Er studierte seinerzeit in Greifswald Medizin. Durch irgendwelche unglücklichen<br />

Umstände war er nicht, oder zu spät in den Besitz <strong>des</strong> Telegramms gekommen.<br />

Das alte Sprichwort, das meine Großmutter oft anwandte: „Wer dient, der muss !“, galt<br />

nun für mich. Nach wenigen Stunden Schlaf musste ich zurück zur Truppe. Meine<br />

Tischdame leistete mir im Zuge bis Stettin Gesellschaft, so war die Fahrt nicht langweilig.<br />

Mai 1944 erfolgte die Auflösung <strong>des</strong> Truppenübungsplatzes. Die Ausbilder, alles<br />

Kriegsversehrte, schickte mań in Pfingsturlaub, die Elsässer wahrscheinlich an die Front.<br />

Ich konnte jetzt, was den Urlaub betraf, vieles nachholen, was mir als Frontsoldat vorenthalten<br />

war. So freute ich mich wieder auf die Tage im Elternhaus. Się wurden verschont<br />

durch den Besuch von unserer lieben und immer lustigen Tante Lotte und ihrem<br />

Mann aus Berlin. Mit Temperament und Witz brachte się Stimmung in die Budę und<br />

möbelte die Hinterpommern aus ihrer Geburtsstadt <strong>Schlawe</strong> tüchtig auf. Am 2. Pfingstfeiertag<br />

verbrachten wir alle zusammen einen netten Nachmittag im Garten der uns befreundeten<br />

Familie H.M. Boldt 25 . Onkel Max servierte uns eine Mai-Bowle von bester<br />

Güte und hier am Ufer unserer lieben Wipper konnte man vergessen, dass die Welt in<br />

Aufruhr war.<br />

Für unsere Berliner, die von ständigen Luftangriffen zermürbt waren, bereits auch<br />

ausgebombt, waren diese ruhigen Tage besonders erholsam. Ich musste nach diesem<br />

Kurzurlaub wieder in die Garnison nach Schwedt zurück. Auf dem Geschäftszimmer<br />

der Personalabteilung einer Kompanie verblieb ich vom Monat Mai bis September<br />

1944. Wenig Lichtblicke in dieser Tätigkeit. Ende September 1944 gąb es für mich eine<br />

freudige Überraschung. Mein Antrag für einen sechsmonatigen Studienurlaub wurde<br />

vom Kommandeur <strong>des</strong> Pionier-Ers. Btl. 12 genehmigt. Ein Schritt nach vorne - der für<br />

mein späteres Leben so bedeutend sein konnte, aber nicht entscheidend war. Im sechsten<br />

Kriegsjahr sechs Monate Studienurlaub, das rief viele Neider auf den Plan. Besonders<br />

meinen Spieß, der sich nach fast 40 jähriger Dienstzeit zum Stabsfeldwebel hochgedient<br />

hatte. Nun, ob es ihm schmeckte oder nicht, Mielke wurde zum Kommandeur bestellt.<br />

Ich trat ein und erschrak. Vor mir stand Hauptmann Händiges (Drogistensohn aus Wuppertal).<br />

Er war an der Ostfront mein Zug- und Kompaniechef gewesen. Wir kannten uns<br />

daher sehr gut, aus schweren Tagen und Nächten an der russischen Front. Keiner wusste<br />

besser als er, dass ich als Frontsoldat stets meine Pflicht getan hatte. Wir hatten uns<br />

durch unsere Verwundungen aus den Augen verloren. Jetzt standen wir uns hier überraschend<br />

gegenüber, als alte Freunde, die manchen schweren Sturm gemeinsam erlebt<br />

hatten. Mein großes Glück, dass mein Urlaubsgesuch gerade in seine Hände kam, denn<br />

erst wenige Tage vorher hatte er den Posten <strong>des</strong> Kommandeurs angetreten. Seine Unterschrift<br />

galt jetzt, mein Urlaub war genehmigt. Zähneknirschend musste der Spieß mir<br />

auch noch eine Zivilgenehmigung ausstellen. Ein herrliches Gefühl, als ich am<br />

29.09.1944 für sechs Monate das Kasernengelände verlassen konnte. Für die Neider<br />

blieb zum Abschied nur das Götz-Zitat auf meinen Lippen.<br />

Ich fuhr zunächst nach Hause. In dieser Zeit, oder überhaupt, lernte mań das Elternhaus<br />

und seine Heimatstadt immer mehr zu schätzen. Man hatte się ja auch nie so vermisst<br />

wie gerade in den letzten Jahren. Ein Glücksgefühl, wenn es gen Heimat ging. Nach<br />

24<br />

Gunther Raasch, Sohn <strong>des</strong> Krankenpflegers am <strong>Schlawe</strong>r Krankenhaus Max<br />

Raasch aus Alt Warschow.<br />

24<br />

Max Boldt, Inhaber <strong>des</strong> Bekleidungsgeschäftes H.M.Boldt, Kosliner Str. 28<br />

111


Stettin wurde mir das Abteil zu eng, nervös lief ich im Zuggang hin und her, je naher der<br />

Heimatbahnhof heranrückte, umso schlimmer wurde es.<br />

Am 1. Oktober musste ich zurück nach Stettin und mich auf der Staatsbauschule für<br />

Hoch- und Tiefbau einer Aufnahmeprüfung unterziehen. Nach siebenstündiger Dauer<br />

ging alles glatt. Meine Aufnahme war gesichert. Ich hatte Stettin gewählt, da die Staatsbauschule<br />

einen guten Ruf hatte. Und <strong>Schlawe</strong> war nicht allzu weit !<br />

Einen Tag vor Semesterbeginn scheiterte ganz plötzlich alles. Es gąb Heizungsschwierigkeiten,<br />

da die Staatsbauschule durch Bomben beschädigt war. Der Hauptgrund aber<br />

war wohl der, dass das 1. Semester nur mit fünf Mann belegt war. So hatte sich die Direktion<br />

entschlossen, nicht zu eröffnen. Guter Rat war teuer – „Was tun“, sprach Zeus?<br />

Schnell handeln war entscheidend, wenn ich nicht zurück in die Kaserne wollte - und ich<br />

wollte nicht. Sofort nach <strong>Schlawe</strong>, żur Rucksprache mit meinem Vater. Als meine<br />

Schwester mir die Türe öffnete, dachte się im ersten Moment, ich wäre in Stettin durchgefallen.<br />

Ich eilte ins Sprechzimmer und überbrachte meinem alten Herrn die „freudige“<br />

Nachricht aus Stettin. Wieder stand das Glück auf meiner Seite. Ein Patient (Soldat), der<br />

gerade żur Behandlung auf dem Stuhl saß, hörte von meinem Pech und schaltete sich in<br />

unser Gespräch ein. Zufällig war dies ein sachsischer Architekt, der mir gleich den Rat<br />

gąb, mich sofort an die Staatsbauschule Dresden zu wenden. Er habe się selbst besucht<br />

und könne się nur empfehlen. Ein Telefonat <strong>Schlawe</strong> - Dresden wurde erfolgreich abgeschlossen.<br />

3.2.1. Dresden<br />

Am 6. Oktober trat ich die Reise an, und bekam durch Vermittlung meiner Cousine Ursel<br />

Klemz, die in den früheren Jahren in Dresden in einem Pensionat geweseń war, noch<br />

ein Zimmer im „Hotel Schiller“. Es war das letzterbaute Hotel in Dresden, modern und<br />

mit allem Komfort. In dem wunderschönen Zimmer, mit Bad und Balkon, fühlte ich<br />

mich sehr wohl. Am nächsten Tage begann bereits die „Budensuche“, denn ich wollte<br />

das Portemonnaie meines Vaters nicht zu arg strapazieren. Meine Bemühungen wurden<br />

am 07.10., ich wohnte gerade 24 Stunden in Dresden, durch den ersten Fliegerangriff auf<br />

diese noch vollkommen heile Stadt unterbrochen. Meine gute Stimmung sank. Von dieser<br />

Stadt war mań schon nach kurzer Zeit begeistert. Deutschlands einzige, unbeschädigte<br />

Großstadt - wollte mań auch się jetzt in Schutt und Asche legen? Es war nur ein „kleiner“<br />

Angriff geweseń, der Stadtteil Friedrichsstadt hatte etwas abbekommen. Ich saß in<br />

einem Bunker am Neustädter Bahnhof, wurde kurz und kräftig durch ein paar fallende<br />

Bomben durchgerüttelt, mehr passierte zum Glück nicht. Die Bevölkerung stand Kopf.<br />

Die sonst so ruhigen Sachsen wurden aufgeregt und nervös.<br />

Sollte diese wunderschöne Stadt jetzt ihr Schicksal mit anderen deutschen Städten teilen?<br />

Die Einwohner konnten und wollten es nicht glauben. Die beschädigten Strassen,<br />

die Toten in den getroffenen Häusern, waren denen eine Mahnung, die noch glaubten,<br />

der immer furchtbarer werdende Luftkrieg mache ausgerechnet vor den Toren Dresdens<br />

halt.<br />

Dieser erste Schreck war überstanden, es ging weiter auf Budensuche. Meine Bemühungen<br />

wurden durch die gut organisierte Fürsorge <strong>des</strong> Studentenbun<strong>des</strong> sehr erleichtert.<br />

Ein nettes Zimmer bei Frau Winkler, Dresden-Neustadt, Villierstr. 19, war nun meine<br />

zukünftige Bleibe. Meine Wirtin war eine nette, ruhige Damę mit viel Verständnis für<br />

junge Menschen. Als Witwe eines Dresdner Baumeisters hatte się natürlich eine be-<br />

sondere Zuneigung für „Leute vom Bau“. Meine „Diplomatenwohnung“ im Hotel Schiller<br />

gąb ich nun auf. Aus meinem Fenster blickte ich auf das Stammhaus <strong>des</strong> Zirkus Sarrasanni,<br />

der in dieser Stadt zu Haus war. Dresden war zu dieser Zeit eine Soldaten- und<br />

Lazarettstadt, demzufolge lief bei Sarrasanni auch ein volles Programm erstklassiger<br />

112


Artistik. Dank Frau Winklers guter familiärer Beziehungen żur Direktion bekam ich oft<br />

Freikarten.<br />

Für mich begann jetzt eine schöne, aber auch schwere Zeit. Nach 44monatigem, mehr<br />

oder weniger sturem Soldatenleben, konnte mań jetzt frei atmen. Ich war zwar nur Urlauber,<br />

aber ich war Zivilist. Man hatte die Gewissheit, was mań jetzt tat, tat man für<br />

sich.<br />

Unser erstes Semester war mit 16 Mann belegt, acht Kriegsversehrte, acht jüngere Kollegen,<br />

die noch nicht den grauen Rock getragen hatten. Się kamen direkt aus der Praxis<br />

auf die Schulbank. Die Kameradschaft war gut, besonders natürlich unter uns "alten<br />

Kriegern". Die Herren Dozenten waren zu uns freundlich, zuvorkommend und gerecht.<br />

Das Lehrer-Schüler-Verhältnis konnte nicht besser sein. Wochen vergingen, um sich<br />

nach der langen Soldatenzeit aus der „geistigen Umnachtung“ zu lösen. Langsam musste<br />

mań sich in das Neue eingewöhnen. Als diese Phase überwunden war, machte die Arbeit<br />

viel Spaß. Der Tag reichte oft nicht aus, um Arbeiten und Zeichnungen fertigzustellen.<br />

Schwierigkeiten tauchten immer wieder auf. Lehr- und Zeichenmaterial waren stark<br />

rationiert. Fach- und Lehrbücher waren schwierig zu bekommen. Trotz aller Widerwärtigkeiten<br />

war es unser fester Wille, das Semester zu schaffen. Mit Kollege Dubeck, einem<br />

Oberschenkel-Amputierten aus Aussig, saß ich oft zusammen in meiner nicht immer<br />

warmen Budę und gemeinsam lösten wir schwierige Aufgaben. Wir wollten es wissen<br />

und waren auch mit uns zufrieden.<br />

An sportlichen und kulturellen Veranstaltungen bot das unzerstörte Dresden noch sehr<br />

viel. Das Wochenende in dieser Stadt war für uns immer eine Atempause. Ein Höhepunkt<br />

stand dann auf dem Programm. Öfter traf ich mich auch mit meiner Bekannten<br />

Rotraut von Krieger in Leipzig. Ich revanchierte mich so für ihre Besuche in <strong>Schlawe</strong><br />

und Schwedt an der Oder. Sonntags ging ich oft ins Ostragehege, dies war die Sportstätte<br />

<strong>des</strong> bekannten DSC (Dresdner-Sport-Club). Viele bekannte Sportler waren aus<br />

diesem Verein hervorgegangen. Unvergesslich der deutsche Meisterläufer Rudolf Harbig,<br />

die Sprinterin Kate Krauß, der DSC war 1943 und 1944 Deutscher Fußballmeister,<br />

Willibald Kreß, Helmut Schön und nicht zu vergessen der große Kanonier Richard Hofmann.<br />

Ich habe "König Richard" 1944 noch spielen sehen. Es gab noch viel Abwechslung in<br />

dieser Stadt. Kinos und Theater spielten volles Programm und waren meist überfüllt. Die<br />

berühmte Dresdner Oper (Maria Cebotari) war leider geschlossen. Ein herrliches Ausflugsziel<br />

war der "Weiße Hirsch", den man mit der Drahtseilbahn erreichte. Im „Luisenhof“<br />

fühlte man sich wohl und konnte auch noch gut essen (auf Marken!). Von der Veranda<br />

herab sah man unter sich die Elbe fließen, Dresden lag dann in seiner ganzen<br />

Pracht zu Füßen. Von diesem Augenblick musste man begeistert sein. Hier weilte ich<br />

sehr oft und sehr gerne. Ein Spaziergang in einer freien Stunde war in dieser Stadt schon<br />

eine Genugtuung. Herrliche Bauwerke in so einer Fülle und in so einer Vollendung, wie<br />

sie kaum eine andere deutsche Stadt zu bieten hatte. Wir besuchten sie mit unseren Bauräten,<br />

den Zwinger, die Staatsoper, das Schloss und die Frauenkirche. Es sind nur die<br />

bekanntesten Barockschöpfungen von August dem Starken (Balthasar Neumann). Dresden<br />

hat von diesem einst so gewaltigen Herrscher viel profitiert und fast jeder Bürger<br />

dieser Stadt wusste eine kleine Geschichte zu erzählen. Manche Anekdote machte die<br />

Runde und viele wollten wissen, dass er alleine in Dresden min<strong>des</strong>tens dreihundert uneheliche<br />

Nachkommen hinterlassen hätte.<br />

In meinem Zimmer lag ein Brief der Dresdner Standortkommandantur. Was war los? Ein<br />

Schreck durchfuhr meine Glieder. Meine Befürchtungen waren unbegründet. Von meinem<br />

Ersatztruppenteil in Schwedt a. d. Oder war eine Beförderung und eine Auszeich-<br />

113


nung eingetroffen. Zur Verleihung wurde ich in die Kommandantur gebeten. Meine<br />

Uniform hing zwar im Schrank, aber ich hatte mich schon so an das Zivil gewöhnt, und<br />

wollte es auch zu diesem Stelldichein nicht ablegen. So marschierte ich nun mit Krückstock,<br />

Hut und Mantel zum Stadtkommandanten. Soldaten aller Dienstgrade waren erschienen,<br />

außer mir aber nur noch ein Zivilist. Für uns etwas komisch, aber kein böser<br />

Blick, und trotz Schlips und Kragen beförderte man mich zum Unteroffizier. Das Eiserne<br />

Kreuz, lange verdient, hatte mich durch die völlige Aufreibung meiner alten Einheit<br />

sehr verspätet nun hier in Dresden erreicht. Es konnte sein, dass Hauptmann Händiges, z.<br />

Zt. Kommandeur in Schwedt, etwas Dampf gemacht hatte.<br />

Die Tage in Dresden vergingen wie im Fluge. Woche für Woche blieb hinter uns. Wir<br />

waren verbissen in unsere Arbeit. Es lief gut, es ging voran. Mein Wirken wurde eines<br />

Tages plötzlich unterbrochen.<br />

Die Verwundung an meinem Unterschenkel brach auf, ich musste ins Bett. Seit der Lazarettzeit<br />

war es das erstemal, dass mir dieses passierte. Große Schmerzen und Fieber<br />

kamen hinzu. Ich humpelte wieder an zwei Stöcken und wollte nach Hause. Fräulein<br />

Winkler brachte mich an den Frühzug und abends war ich bereits in <strong>Schlawe</strong>. Meine<br />

Eltern hatte ich telegrafisch verständigt, dass ich komme, aber nicht, wie ich komme. Erstaunt<br />

und besorgt empfingen sie mich mit zwei Freunden, die gerade Heimaturlaub<br />

hatten, auf dem Bahnhof. Ich war froh, dass ich zu Hause war. Am nächsten<br />

Tage ging es sofort ins Städtische Krankenhaus. Unser alter Hausarzt, Dr. Schmidt 26 ,behandelte<br />

mich. Er gab mir auch zu verstehen, dass mir diese Geschichte noch oft zusetzen<br />

werde. Für drei Wochen musste ich jedenfalls ins Bett.<br />

Dann ging es nach Dresden zurück. Bis zum Semesterschluss waren es noch drei Monate.<br />

Ich hatte allerhand versäumt, wichtig war es, alles schnell nachzuholen. Am laufenden<br />

Band wurden Nachtschichten eingelegt. Frau Winkler braute einen guten Kaffee (in<br />

Sachsen kann man das!), und einige Nächte wurde bis zum Morgengrauen hart gearbeitet.<br />

Kurz vor Weihnachten war es geschafft. Wir bekamen zehn Tage Ferien, natürlich ging<br />

es wieder nach Hause, und ich verlebte hier das Weihnachtsfest. Es unterschied sich von<br />

den Friedensfesten nur dadurch, dass mein Bruder nicht unter uns weilte. Er war dort,<br />

wo Millionen andere auch waren im sechsten Kriegsjahr. Mir war es vergönnt, mit meinen<br />

Angehörigen, Freunden und Bekannten schöne Weihnachten zu verleben. Auch der<br />

schon traditionelle Kirchgang am Heilig Abend mit der befreundeten Familie H.M.<br />

Boldt in unsere Marienkirche blieb nicht aus.<br />

Wer von uns ahnte damals, dass wenige Monate später diese Kirche, die fünf Jahrhunderte<br />

überlebt hatte, in der Schlussphase <strong>des</strong> Krieges noch von den Flammen erfasst<br />

werden würde? Wer ahnte damals, dass dieses das letzte Weihnachtsfest in unserer Heimat,<br />

in unserem Hause und unserem Familienkreis sein würde? Wer ahnte damals, dass<br />

die Eroberung und "Befreiung" der Provinz Pommern in solchen Ausmaßen geschehen<br />

würde? Es konnte keiner ahnen!<br />

Als in der Sylvesternacht <strong>des</strong> Jahres 1944 die Glocken der alten, ehrwürdigen, gotischen<br />

Backsteinkirche das Jahr 1945 einläuteten, wussten wir noch nicht, dass dieses Jahr unser<br />

aller Schicksalsjahr werden sollte. Ein furchtbares Jahr für mich und meine Familie,<br />

meine Verwandten und Bekannten, für viele Freunde. Das Schicksalsjahr meiner Hei-<br />

26<br />

Dr. Erich Schmidt praktischer Arzt, Stolper Vorstadt 31, zugleich Chirurg am Städtischen<br />

Krankenhaus.<br />

114


matstadt und der ganzen Provinz Pommern mit seiner Bevölkerung, die in diesem Lande<br />

seit uralten Tagen ansässig gewesen war.<br />

1945 wurde unserer Provinz mit ihren blühenden und kultivierten Dör fern und Städten<br />

das Antlitz zerstört.<br />

1945 war das Schicksalsjahr <strong>des</strong> deutschen Ostens und <strong>des</strong> ganzen deutschen Volkes.<br />

4. Das Schicksalsjahr 1945<br />

4.1. Januar - Russische Winteroffensive<br />

So gut das alte Jahr sein Ende fand, so gut begann das Jahr 1945.<br />

Am 2. Januar waren meine Weihnachtsferien zu Ende. Ich fuhr nach Dresden zurück.<br />

Mit neuer Kraft und neuem Mut ging es am 03.01. wieder an die Arbeit. Ziemlich schnell<br />

war man wieder im alten Rhythmus. Die letzte Runde hatte begonnen -Ende Februar<br />

war Semesterschluss. Am 06.01. besuchte mich ganz überraschend Rotraut von Krieger,<br />

die von Schwerin aus dem Weihnachtsurlaub über Dresden nach Leipzig zurückkehrte.<br />

Bei einem Zusammensein mit meiner Bekannten gab es immer politische Debatten. Sie<br />

war realistisch vorausschauend, und neigte immer zu Pessimismus dem derzeitigen Regime<br />

gegenüber. Bis jetzt hatte sie mit ihren Prognosen Recht behalten. Es war schwer<br />

zu begreifen, was jetzt alles geschah, und niemand wagte es, seinen geheimen Befürchtungen<br />

offen Ausdruck zu geben. Nur unter vier Augen konnte man seinen Gedanken<br />

freien Lauf lassen, Unbehagen schwelte im Unterbewusstsein. Es war noch etwas Ungreifbares,<br />

was unsere Seele bewegte, das man nicht konkretisieren konnte, weil es noch<br />

keine Gestalt angenommen hatte. Unter diesem Aspekt stand mein letztes Zusammensein<br />

mit Rotraut — wir sahen uns nicht wieder.<br />

Jeder Deutsche verfolgte die politische Lage unserer Nation mit großer Besorgnis. Ganz<br />

besonders die Lage unserer Front im Osten gab zu größter Sorge Anlass. Die gefürchtete<br />

Winteroffensive der Russen wurde allgemein erwartet, noch war Ruhe vor dem Sturm,<br />

aber wann kam sie? Ich kannte diese Offensiven, die ich zwei Winter miterlebt hatte. Ich<br />

kannte auch die zahlenmäßige Überlegenheit der russischen Truppen aus eigener Erfahrung.<br />

Mein Semester wurde abermals unterbrochen. Wegen Kohlenmangels schlössen sämtliche<br />

Dresdner Schulen für eine Woche. Am 13.01. 27 fuhr ich wieder nach <strong>Schlawe</strong>. Zu<br />

Hause war man erstaunt, als ich schon wieder da war. Inzwischen hatte der Rundfunk<br />

bereits verkündet: „Der Russe auf der gesamten Ostfront im Angriff“.<br />

Wenige waren sich der Bedeutung dieses einen Satzes bewusst. Das war die erwartete<br />

und gefürchtete große Offensive. War es unseren deutschen Armeen möglich, den Vormarsch<br />

aufzuhalten? Am 16. Januar 1945 war es mir noch vergönnt, den 56. Geburtstag<br />

meines Onkels mitzufeiern. Unser guter „Onkel Alla“ (Klemz 28 ) , ein Bruder meiner<br />

Mutter, wir mochten ihn alle immer ganz besonders gern, und sein Geburtstag war in<br />

unserer Familie von je her ein kleiner Höhepunkt. So war es auch noch in diesem Jahr.<br />

Zahlreiche Gäste, der Herren-Stammtisch, alles war erschienen. Die gute Stimmung der<br />

früheren Jahre kam nicht auf, sie konnte nicht aufkommen, denn wenn man aus dem<br />

Fenster schaute, sah man die ersten Trecks, die schon tagelang in eisiger Kälte aus Ost-<br />

und Westpreußen unterwegs waren. Sie zogen gen Westen mit ihrem wenigen Hab und<br />

27<br />

Am 12.01.1945 begann der Großangriff der Roten Armee aus dem Baranow-<br />

Brückenkopf.<br />

28<br />

Albert Klemz, Inhaber der Drogerie und <strong>des</strong> Feinkostgeschäftes inder Kösliner Str. 6.<br />

115


Gut, sie waren schon heimatlos. Der Sturm war schon mit roher Gewalt über sie hereingebrochen.<br />

Teile von Ostpreußen hatten die Russen schon in ein Flammenmeer verwandelt.<br />

Wir feierten noch Geburtstag, die hervorragende Erdbeerbowle, die meine Tante angesetzt<br />

hatte, versetzte uns wenigstens noch für ein paar Stunden in eine andere Welt nach<br />

dem Motto: „Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich!“ Es war das letzte Fest in<br />

diesem Hause, das letzte Fest in unserer Familie. Mit schlimmen Befürchtungen im Unterbewusstsein<br />

verging auch dieser schöne Tag.<br />

Das Ringen an der Ostfront wurde von Tag zu Tag unerbittlicher. Der Russe war weiter<br />

im Vormarsch. Mit großer Spannung erwarteten wir die täglichen Wehrmachtsberichte<br />

im Radio. Sie waren leider immer „umschrieben“ und sagten nicht die Wahrheit. Uns<br />

fehlte daher ein klares Bild der gesamten Lage. Durch den Rundfunk erfuhr ich auch,<br />

dass während meiner Abwesenheit von Dresden dort wieder ein kleinerer Fliegerangriff<br />

gewesen war, und zwar am 16. Januar. Vier Tage später kehrte ich wieder zurück und<br />

fand alles so vor, wie ich es vor meiner Abreise nach <strong>Schlawe</strong> verlassen hatte. Dieses<br />

Mal bin ich mit gemischten Gefühlen nach Dresden zurückgefahren. Ich wusste, dass der<br />

Russe nur wenige hundert Kilometer von meiner Heimat entfernt war, ich wusste auch,<br />

wie ernst die ganze Lage war. Ich war mir der großen Gefahr voll bewusst.<br />

In Schlesien war der Feind bereits einmarschiert. Schlesische Flüchtlinge überfluteten<br />

das Sachsenland. Dresden glich einem Ameisenhaufen. Hunderttausende waren auf dem<br />

Weg in den rettenden Westen und hielten sich nun in den Mauern der noch sicheren<br />

Stadt auf. Die Tage nach meiner Rückkehr waren nicht mehr schön. Im Semester verlief<br />

die Zeit mit fruchtlosen Debatten über die derzeitige Lage. Keiner hatte mehr Lust zum<br />

Lernen. Lehrer und Schüler ließen die Köpfe hängen. Die Initiative war gebrochen.<br />

Jeder sah die russische Dampfwalze näherrücken. Der Untergang <strong>des</strong> deutschen Ostens<br />

zeichnete sich ab und schien nicht mehr aufhaltbar. Das Gerücht, dass alle Dresdner<br />

Schulen und Hochschulen geschlossen werden sollten, wurde Wirklichkeit. Es mussten<br />

Unterkünfte für die in die Stadt eindrängenden Massen der flüchtenden Menschen geschaffen<br />

werden. Bestimmte Kreise innerhalb der Studentenschaft meuterten über diese<br />

Anordnungen. Sie konnten sich noch nicht vorstellen, dass sie selbst in aller Kürze auch<br />

von diesem Oststurm erfasst werden würden, der ihnen Haus und Hof wegfegen und sie<br />

genauso auf die Straße werfen würde.<br />

Inzwischen hatten die Russen die Provinz Pommern erreicht. Ich saß in Dresden wie auf<br />

heißen Kohlen und hatte keine Ruhe mehr. Alle gut gemeinten Worte und Ratschläge<br />

von den Damen Winkler, sie waren beide noch in gutem Glauben an das "große Wunder",<br />

verfehlten ihre Wirkung bei mir. Ich sah jetzt ganz klar, die letzten Kartenhäuser<br />

der Verblendung brachen zusammen. Am 25. Januar, ich weilte noch zwei Stunden im<br />

Semester, begab ich mich zum Direktor der Staatsbauschule, Professor Dr. Rauda, und<br />

schüttete ihm mein Herz aus. Er zeigte volles Verständnis, unsere Schule würde in aller<br />

Kürze geschlossen, es sei nicht mehr aufzuhalten, die Lage sehr ernst: „Herr Mielke,<br />

fahren Sie mit Gott, und meine besten Wünsche begleiten Sie, ich hoffe, dass wir uns<br />

wiedersehen werden!“.<br />

Diese Worte <strong>des</strong> Dr. Rauda gingen unter die Haut. Die Sachen in der Schule übergab ich<br />

meinem Kollegen Dubeck, aber auch er wollte Dresden in den nächsten Tagen verlassen.<br />

Andere Kollegen hatten denselben Entschluss gefasst. Unser Semester flog auf - die<br />

ganze Staatsbauschule war im Aufbruch. Wieder hatte ein wichtiger Abschnitt meines<br />

Lebens, der mich in meiner Berufsausbildung weiterbringen sollte, ein schnelles und<br />

nicht vorhergesehenes Ende gefunden.<br />

116


Frau Winkler war traurig über meinen Entschluss, aber sie konnte mich gut verstehen.<br />

Treuherzig meinten sie: "Herr Mielke, wenn wir uns jetzt verabschieden, sehen wir uns<br />

nicht mehr wieder!"<br />

Zum letzten Mal ging ich in mein Stammlokal, das „Narrenhäusel“, und nahm meine<br />

Dresdner Henkersmahlzeit ein. Sämtliche Sachen, Anzüge und Uniformen usw. ließ ich<br />

bei meiner Wirtin zurück.<br />

Zwei schön geräucherte, pommersche Gänsebrüste wanderten zum Andenken an einen<br />

ruhigen Mieter in die Speisekammer von Frau Winkler. Dann gab es einen herzlichen<br />

Abschied mit viel Tränen. Nur mit einer Aktentasche unter dem Arm eilte ich zum<br />

Hauptbahnhof. Ich fuhr mit der Absicht nach Hause, beim Näherrücken der russischen<br />

Front an meine Heimatstadt, vorerst meine Angehörigen mit nach Dresden zu nehmen,<br />

von hier dann ein weiteres Ziel ansteuern (Ich war doch noch Illusionist!). Frau Winkler<br />

war so freundlich und reservierte mir ihr größtes Zimmer!<br />

Der D-Zug aus Richtung Prag hatte 8 Stunden Verspätung. Er war so voll, dass auf dem<br />

Dresdner Hauptbahnhof keiner mehr zusteigen durfte. Nur mit Hilfe und letztem Einsatz<br />

einer Rot-Kreuz-Schwester bekam ich noch Platz in einem Versehrtenabteil, ein Glück,<br />

dass ich kein Gepäck dabei hatte, denn auch die Gänge waren voll wie eine Wursthaut.<br />

Um 18:00 Uhr war der Zug in Berlin, soweit ging alles glatt. Den Aufenthalt bis 22:00<br />

Uhr benutzte ich zu einem kurzen Besuch bei unserer Tante Lotte und Onkel Erich Storbeck<br />

in Berlin-Adlershof. Sie machten große Augen, als ich vor der Türe stand. Tante<br />

Lotte räumte natürlich wieder ihre Speisekammer, selbstlos wie immer, um mir - gegen<br />

meinen Willen - ein anständiges Abendbrot auf den Tisch zu stellen. Wie knapp war<br />

damals schon alles in Berlin - mir blieb nur eins, mich von <strong>Schlawe</strong> aus zu revanchieren,<br />

wobei mir meine Mutter sehr behilflich war. Schnell gings wieder zum Stettiner Bahnhof.<br />

Kaum saß ich im Zug, er war wieder brechend voll, wie in dieser Zeit <strong>des</strong> allgemeinen<br />

Aufbruchs alle Züge, gab es Fliegeralarm. Das gehörte in Berlin schon dazu.<br />

Raus aus dem Zug - rein in den Keller - raus aus dem Keller - rein in den Zug! Der Alarm<br />

dauerte nicht lange, wir konnten abfahren. Mit sieben Stunden Verspätung traf ich<br />

am 26. Januar 1945 in <strong>Schlawe</strong> ein.<br />

Die russischen Truppen hatten sich inzwischen bedenklich genähert, von Polen aus stießen<br />

sie in die Grenzmark vor, in Richtung Frankfurt/Oder. Bei Neustettin und Schlochau<br />

tobten schwere Kämpfe. Der Feind stieß im Grenzland nur auf schwachen Widerstand.<br />

Ich war erstaunt über die Ruhe in meiner Familie und bei den <strong>Schlawe</strong>r Bürgern. In<br />

Dresden und Berlin war damals die Bevölkerung viel aufgeklärter.<br />

Glaubte man hier auch noch an das große Wunder? Meinte man, es wäre unseren schwer<br />

angeschlagenen Armeen noch möglich, den Vormarsch zu stoppen, die Offensive aufzuhalten?<br />

Es geschah kein Wunder mehr!<br />

Meine Angehörigen wollten die Heimat nicht verlassen. Mein Vorschlag, Eltern, Großmutter<br />

und Schwester mit nach Dresden zu nehmen, konnte ich nicht durchsetzen. Der<br />

Entschluss, auf einmal alles im Stich zu lassen, war zu schwer. Ich konnte es verstehen.<br />

Täglich sah man das Elend auf den Straßen. Es schneite, die Tage waren dunkel und das<br />

Thermometer zeigte 20 Grad unter Null. Wie Geisterbilder rollten die Trecks Tag und<br />

Nacht auf den verstopften Straßen bis nach Stettin und noch weiter gen Westen. Im Südosten<br />

Deutschlands das gleiche Bild von Oberschlesien bis nach Dresden. Städte und<br />

Dörfer am Wege waren vollgepreßt mit Menschen, Endlos waren die Kolonnen <strong>des</strong> Elends.<br />

Größer und größer wurde die Not für die Menschen, die sich in dieser Winterkälte<br />

auf die Flucht begeben mussten. Wer den Strapazen nicht gewachsen war, alte Leute und<br />

Säuglinge, starb unterwegs. Die Erde war zu hartgefroren, um sie zu beerdigen, so blieben<br />

sie im Schnee liegen! Dramatische Szenen schilderten uns die Ostpreußen, die bis<br />

117


<strong>Schlawe</strong> durchgekommen waren. Sie machten in unseren Häusern Quartier, wärmten<br />

sich auf und empfingen ein warmes Essen. Der kürzeste und sicherste Weg für die Ostpreußen<br />

war der Weg über die Nehrung gewesen. Das Eis auf dem Frischen Haff jedoch<br />

trug oft nicht die schwere Last der Bauernwagen. Ungezählte erreichten die rettende<br />

Nehrung nicht, und versanken mit Pferd und Wagen in der eisigen Tiefe <strong>des</strong> Haffs. Niemand<br />

wird jemals die wahre Zahl derer schätzen können, die hier auf dem Frischen Haff<br />

untergangen sind. Diese Völkerwanderung auf dem Wege <strong>des</strong> Grauens und <strong>des</strong> Elends<br />

soll eines Tages als eines der traurigsten Ereignisse der deutschen Geschichte registriert<br />

werden.<br />

Jeder Tag voll Not, Leid und Jammer. Nicht nur auf den Straßen, sondern auch auf den<br />

Bahnhöfen ähnliche Bilder. Meine Eltern hatten sich entschlossen, auch beim Einmarsch<br />

der Rusunserer Küste. Bis hier waren die Sowjets noch nicht vorgedrungen und viele<br />

<strong>Schlawe</strong>r Landsleute erreichten diese Häfen noch.<br />

Am 30. Januar verließ das einst so stolze KdF-Flaggschiff „Wilhelm Gustloff“ 29 Gotenhafen<br />

mit Kurs West. Circa 6.000 Menschen hatten Tage und Nächte auf diese große<br />

Chance gewartet, in der Mehrzahl Frauen und Kinder sowie Schwerverletzte aus den<br />

Lazaretten der Umgebung. Völlig überbelegt dampfte dieses Schiff durch die Ostsee. Als<br />

die Nacht hereinbrach, ungefähr 12 Seemeilen vor Stolpmünde, wartete der Tod. Russische<br />

U-Boote lagen auf der Lauer, sie hatten von gleicher Stelle schon andere deutsche<br />

Schiffe beschossen. Gegen 21.00 Uhr zischten drei Torpedos durch die Nacht und die<br />

wogende See. Sie trafen voll. Die „Wilhelm Gustloff“ wurde in die Tiefe gerissen und<br />

mit ihr sanken ca. 5.000 Menschen in die eiskalte See. Die Ostsee wurde ihr Schicksal<br />

und ihr Grab, 900 konnten von umliegenden Schiffen gerettet werden.<br />

Das grauenhafte Geschick dieser Unglücklichen, konnte jedoch die Menschen nicht<br />

zurückhalten, der Sturm auf die Häfen hielt weiter an. Die Nerven waren<br />

überspannt, die Angst wurde immer größer.<br />

Erika Maatz 30 , eine Freundin meiner Schwester, musste sich in Thüringen einer<br />

Wehrmachtseinheit stellen. Ich hörte hiervon, und fasste den schnellen Entschluss mitzufahren.<br />

Meine Gedanken gingen nach Dresden. Ich hatte ja noch einen Koffer dort, mit<br />

Seligkeiten aus vergangenen Zeiten. Es war ein Entschluss der Unvernunft. Warum hing<br />

man jetzt noch so an seiner persönlichen Habe, wo doch nur das nackte Leben etwas<br />

wert war?<br />

Ein Bekannter von Erika nahm uns in einem Wehrmachtsauto bis Stettin mit, am Hauptbahnhof<br />

setzte er uns ab. Noch waren wir Optimisten und guter Dinge, denn bis hier<br />

hatte es gut geklappt. Der Bahnhofs-Lautsprecher verkündete am laufenden Band: „Die<br />

Reisenden in Richtung Berlin usw. werden gebeten ...“ Diese Bitte umfasste alles, um<br />

was man auch nur auf dem Bahnsteig einer Großstadt, die jetzt zum Umschlagplatz zwischen<br />

Ost und West geworden war, gebeten werden konnte. Ca. tausend Menschen warteten<br />

auf die Züge in Richtung Berlin, auch Erika Maatz und ich. Man wurde gebeten,<br />

Disziplin zu halten - nicht diesen, sondern den nächsten Zug zu nehmen - beim Einlaufen<br />

<strong>des</strong> Zuges zurückzutreten - die Menschen erst aussteigen zu lassen - nicht durch die<br />

Fenster zu steigen usw., usw. Stundenlang warteten wir beide auf den Zug, der aus Richtung<br />

Stargard kommen sollte. Disziplin wurde nicht gehalten, alle wollten in diesen Zug<br />

und nicht in einen anderen, der Zug lief ein, der Sturm brach los. Hals über Kopf, ohne<br />

29 Kraft durch Freude: Maßnahme der NS-Regierung „Parteigenossen“ und minderbemittelten<br />

„Volksgenossen“ Urlaubsreisen zu ermöglichen.<br />

30 Tochter <strong>des</strong> Rudolf Maatz, Inhaber <strong>des</strong> Geschäftes für Eisenwaren, Werkzeuge,<br />

Baubedarf, Haushaltseinrichtung usw., Markt 14/15<br />

118


Rücksicht wurden Fenster und Türen blockiert. Chaotische Zustände - bevor dieser Zug<br />

den Hauptbahnhof Stettin wieder verließ, es war der einzige fahrplanmäßige Zug auf<br />

dem Weg nach Berlin. Normal eine Zwei-Stundenfahrt, jetzt - laut Bahnhofsansage -<br />

musste mit 17 bis 18 Stunden gerechnet werden. Erika wurde mit allen Kräften in das<br />

Menschenknäuel hineingedrückt, ich musste verzichten, diese Strapaze konnte ich meinem<br />

rechten Unterschenkel nicht zumuten. Es war der 22. Februar. Ich blieb die Nacht in<br />

Stettin, und versuchte mein Glück am nächsten Tage noch einmal. Es war wieder vergebens.<br />

Die Züge kamen bereits total überfüllt mit Flüchtlingen aus dem Raume Stargard;<br />

diese Stadt an der Hauptstraße Danzig - Stettin lag bereits unter dem Beschuss der russischen<br />

Artillerie.<br />

Meine „Irrfahrt“ hatte hier in Stettin ihr Ende gefunden, wie kam ich wieder nach Hause?<br />

Es waren nur noch Nebenstrecken befahrbar, und hier fuhren sehr wenige Züge. Ich<br />

erwischte einen Güterzug, dies spielte jetzt keine Rolle mehr, wenn man nur vorwärts<br />

kam, und landete abends in Kolberg. Es war eine Tagesreise geworden. Wohin jetzt in<br />

der Nacht, der Wartesaal war überfüllt. Alle Menschen waren im Aufbruch. Hotels und<br />

Gaststätten überbelegt. Kolberg machte einen unheimlichen Eindruck auf mich in dieser<br />

eiskalten Februarnacht. Ich hatte dieses schöne Ostseebad aus guten Zeiten in besserer<br />

Erinnerung. Als Junge war es mir früher zu feudal, wir liebten die kleinen, idyllischen<br />

Bäder ohne den Komfort der großen Welt. Sie waren urwüchsiger und man konnte sich<br />

freier bewegen. Ziellos irrte ich in dieser Nacht in den Straßen herum in der Hoffnung,<br />

doch noch eine Bleibe zu finden. Eine der zahlreichen Militärstreifen verwies mich in<br />

das Soldatenheim. Hier war ich in die Höhle <strong>des</strong> Löwen geraten. Ein Kommen, ein Gehen,<br />

die ganze Nacht hindurch. Irgendwo fand ich auf der Erde noch ein Plätzchen, an<br />

Schlaf war natürlich nicht zu denken. Immer wieder durchkämmten Streifen die Räume<br />

und furchtbare Szenen spielten sich hier ab. Die Landser an meiner rechten und linken<br />

Seite munkelten davon, dass Kolberg wahrscheinlich zur Festung erklärt werden sollte.<br />

Man wartete auf den Führerbefehl. In Berlin hatte man wahrscheinlich an den Siebenjährigen<br />

Krieg gedacht, in dem die Stadt Kolberg dreimal von den Russen belagert und<br />

1761 eingenommen wurde. Spielte man den Helden Nettelbeck, den großen Sohn dieser<br />

Stadt, absichtlich hoch?<br />

Man sprach jetzt viel von diesem preußischen Patrioten, einem gebürtigen Kolberger,<br />

der zusammen mit dem preußischen Heerführer Gneisenau im Jahre 1807 Kolberg erfolgreich<br />

gegen Napoleon verteidigt hatte. Mir kamen diese Gedanken beim nächtlichen<br />

Gang durch die Stadt, als ich an einem Kino vorbeikam; dort lief durchgehend von morgens<br />

bis abends der Film „Kolberg“ (in der Hauptrolle unser Stettiner Landsmann Heinrich<br />

George, Bruder eines Dentisten mit Namen Schulz).<br />

Für mich war es zu spät, mir diesen Film noch anzuschauen, im wahrsten Sinne <strong>des</strong><br />

Wortes, einmal zeitlich, und zum anderen konnten zu dieser Zeit auch noch so gute Leinwandhelden<br />

meinen Patriotismus nicht mehr anheizen. Diese Karte stach nicht mehr!<br />

Die Nähe der Front brachte Nervosität in die von Soldaten überfüllte Stadt. Hier im Soldatenheim<br />

herrschte eine hektische Atmosphäre. Der "Heldenklau" ging um, d.h. eine<br />

Sonderstreife ging durch die Räume und kontrollierte sämtliche Insassen. Einige Landser,<br />

mit einem Urlaubsschein in der Tasche, wurden in die Kasernen zurückgerufen,<br />

anderen, die ihren Urlaub noch künstlich verlängern wollten, ging es genauso. Ich war<br />

froh, als der Morgen graute. Nach einem Teller mit warmer Suppe begab ich mich sofort<br />

zum Bahnhof. In der Frühe sollte ein Güterzug nach Belgard fahren; ich musste mit, egal<br />

wie. Als Soldat in Zivil fasste ich sogar noch Marschverpflegung. Man war großzügig in<br />

den letzten Tagen dieser noch lebenden Stadt. Die Zigaretten waren für mich sehr wichtig,<br />

ich brauchte sie eventuell für die Bahnbeamten, warum sollten sie nichts nehmen für<br />

119


ihre Hilfe? Der Güterzug, der lebenswichtige Sachen in die Stadt Kolberg gebracht hatte,<br />

fuhr nach einigen Stunden zurück. Ich sagte mir 'lieber im Mief ersticken, als in der Kälte<br />

erfrieren', und hatte mich im überfüllten Wartesaal gut durchgewärmt. Ich konnte es<br />

gut gebrauchen, denn ich bekam in diesem Güterzug mein Sonder-Abteil und zwar im<br />

Bremser-Häuschen. Hart und kalt, im Februar kein Vergnügen, aber es ging wenigstens<br />

weiter in Richtung Heimat, wo man mich schon vermisst hatte. Belgard war erreicht, der<br />

Zug wartete bis die Strecke frei war, das passierte unterwegs noch öfter. Durch Köslin<br />

fuhr er langsam durch, in Zanow wurde er zum Teil neu beladen, kurz vor <strong>Schlawe</strong> hielt<br />

er nochmal, und durch <strong>Schlawe</strong> fuhr er wieder durch. Ich war bitter enttäuscht.<br />

Unter der Unterführung sah ich die Pollnower-Straße liegen, links die Nr. 20, wo meine<br />

Jugendliebe wohnte. Es ging weiter über die Holzgrabenbrücke ... schön langsam, das<br />

Abspringen wäre früher kein Problem gewesen, aber mit meinem Bein konnte ich nichts<br />

riskieren. Rechts sah ich die Badeanstalt am Holzgraben, das neue Schwimmbad (Moorbad),<br />

links lag unser Sportplatz, der „Neue“, der nach der Planung zu einem kleinen<br />

Stadion ausgebaut werden sollte, dahinter die neue Schule mit der einmalig schönen,<br />

modernen Turnhalle.<br />

Dann kam der alte Sportplatz, er nannte sich „Stadtschulspielplatz“. Das war da, wo wir<br />

gekämpft hatten, Fuß- und Handball im tiefen Sand. Erst nach acht Regentagen war der<br />

Platz gut bespielbar, aber es blieb "unser Platz" und jeder Gegner hatte es hier schwer.<br />

Am Rande unter den Bäumen am Weg zum Schützenhaus standen damals die alten Post-<br />

Pensionäre Luhff 31 und Radtke 32 , Viehkaufmann Schwichtenberg 33 und vor allem die<br />

"Spedis" (so nannte man die Spediteure von Raddatz 34 ); sie feuerten als Zuschauer uns<br />

lautstark an, feierten mit uns die Siege, trösteten uns nach Niederlagen.<br />

Dahinter sah ich unseren Tennisplatz, wo ich kurz vor dem Kriege mit meinem Freund<br />

Otsch so manches Match ausgefochten hatte. Im Wäldchen lag die "Penne" mit der<br />

Turnhalle, das Casino (jetzt: Landwirtschaftsschule), links die Badeanstalt an der Wipper<br />

und bei der Fahrt über die Eisenbahnbrücke blieb rechts auch die alte Wipperbrücke<br />

aus Holz hinter mir liegen, über diese Brücke fuhr unser Freund Günther Raasch aus Alt-<br />

Warschow täglich zur Schule.<br />

An einem Sommertag, es war lange vor Kriegsbeginn, über das Geländer der Wipperbrücke<br />

gelehnt, den Lauf <strong>des</strong> fließenden Wassers der zur Ostsee strebenden Wipper<br />

verfolgend, wurden einmal große Worte gelassen ausgesprochen. Papa Rasch philosophierte<br />

mit unserem Freund Otsch. Sie hatten scheinbar nichts anderes zu tun. Das Ergebnis<br />

dieses philosophischen Denkens waren die pathetischen Worte: „Otsch, wir leben<br />

doch in einer großen Zeit!“ Diese Emotion unseres Freun<strong>des</strong> war schon lange in unserem<br />

Herzen erloschen.<br />

Es waren ein paar schnelle Gedanken zurück in eine glückliche Jugendzeit.<br />

Mein Zug fuhr aber weiter - ich war steif gefroren in meinem Bremser-Häuschen. Rechts<br />

erblickte ich unser Schützenwäldchen mit dem Schützenhaus. Gustav Tilgner hatte es<br />

mit und für seine Gilde gebaut. Kunstmaler Dankert hatte die <strong>Schlawe</strong>r Schützengilde<br />

fast lebensgroß an den Wänden <strong>des</strong> Saales verewigt. Im Wäldchen kannten wir Baum<br />

und Strauch und Dank wie unsere Westentasche. Schulfeste mit Vogelwerfen<br />

usw.<br />

31 Julius Luhff, Oberpostschaffner, Kirchstr. 11.<br />

32 Pranz Radtke, Angestellter, Stolper Vorstadt 41<br />

33 August Schwichtenberg, Händler, Mauerstr. 5.<br />

34 Gerhard Raddatz, Spediteur, Adolf-Hitler-Str. 42.<br />

120


An der Straße nach Stolp waren die Schranken heruntergelassen. Links das kleine Haus<br />

von Bahnwärter Höpner 35 , rechts wohnte Papa Raasch. Langsam fuhren wir durch<br />

den Hästerkathen, dieses schöne Ausflugsziel für Spaziergänger und Schulklassen,<br />

war mit dem Namen Steinhorst 36 eng verbunden.<br />

"Räder müssen rollen für den Sieg!" stand auf unserer Lokomotive in großen weißen<br />

Lettern. Der Traum vom Sieg war wohl aus, wenn die Räder auch noch rollten. Wir<br />

durchführen den Bahnhof Freetz, nach Stolp wären es noch 30 Minuten gewesen. In Alt<br />

Reblin kam der so sehnlichst erwartete Stop. Hungrig, durstig und verfroren entstieg ich<br />

meinem Sonderabteil 5. Klasse. Wie kam ich jetzt wieder nach <strong>Schlawe</strong> zurück? Ungefähr<br />

20 Kilometer. Der Gegenzug, meine große Hoffnung, fuhr durch. Ich telefonierte<br />

nach Hause, denn meine Eltern waren schon in großer Sorge um mich. Erst zu Fuß, später<br />

mit Pferd und Wagen kam ich abends bis Altwarschow, und war dann bald zu Hause.<br />

Die Reise Stettin-<strong>Schlawe</strong>, normal drei D-Zug-Stunden, hatte 48 Stunden gedauert. Das<br />

"Unternehmen Dresden" war gescheitert, ich beugte mich höherer Gewalt, und sah diese<br />

Stadt nicht mehr wieder: Elb-Florenz hatte ich in mein Herz geschlossen.<br />

Es sollte nicht sein, fast ein Jahr später erfuhr ich erst, dass am 13. und 14. Februar 1945<br />

diese herrliche Stadt dem Erdboden gleichgemacht worden ist. Der Wehrmachtsbericht<br />

lautete am 15.02.1945 ganz kurz und auf keinen Fall dieser Katastrophe entsprechend:<br />

„Die Briten richteten in der vergangenen Nacht Terror angriffe gegen das Stadtgebiet<br />

von Dresden.“<br />

Wir hatten zu Hause diese Nachricht, wahrscheinlich wegen ihrer Kürze, bagatellisiert.<br />

Das Schicksal war mir also gnädig gewesen, was hätte mich in Dresden erwartet: verbrannte<br />

Erde!<br />

Britische Bomber in erster, amerikanische in der zweiten Welle, hatten in der Nacht vom<br />

13. auf den 14. Februar Dresden in eine Hölle verwandelt.<br />

Eine dritte Welle anfliegender Bomber, die das grausame Werk fortsetzen wollten,<br />

mussten wegen <strong>des</strong> Feuersturms über der Stadt abdrehen. Dresden hatte aufgehört, eine<br />

Stadt zu sein, es war ein Trümmerhaufen und für Hunderttausende ein Friedhof, über die<br />

genaue Zahl der Menschen, die bei diesen Angriffen verbrannten, erstickten, unter einstürzenden<br />

Mauern begraben wurden, wird man nie die letzte Klarheit gewinnen. Die<br />

Angriffe auf Dresden gehörten damals in das „strategisch-politische Programm“ der von<br />

dem britischen Luftmarschall Harris befürworteten Terror an griffe auf deutsche Städte.<br />

Sie sollten die Zivilbevölkerung zermürben, Furcht und Schrekken verbreiten. In der<br />

Zerstörung Dresdens fand diese Kriegsmaßnahme ihren schaurigsten Ausdruck. Sie war<br />

militärisch völlig sinnlos.<br />

Nicht in Hiroshima und nicht in Nagasaki - in Dresden hat das furchtbarste Gemetzel<br />

stattgefunden, das je binnen 24 Stunden von Menschen an Menschen veranstaltet wurde.<br />

Die Frage nach Sinn und Unsinn dieser Vernichtungsaktion, nach der politischen Verantwortung<br />

und der moralischen Schuld wird noch zu stellen sein.<br />

Gerhart HAUPTMANN sagte Ende Februar 1945:<br />

Wer das Weinen verlernt hat,<br />

der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.<br />

Dieser heitere Morgenstern der Jugend<br />

hat bisher der Welt geleuchtet.<br />

35 Karl Höpner, Weichenwärter, Stolper Chaussee.<br />

36 Paul Steinhorst, Bauernhof und Ausflugslokal, Alt Warschow.<br />

121


Ich weine.<br />

Man stoße sich nicht an dem Wort weinen,<br />

die größten Helden <strong>des</strong> Altertums<br />

haben sich seiner nicht geschämt.<br />

Nun kam eine tote Zeit, tatenlos saß man zu Hause und sah, wie das Unglück immer<br />

näher kam. Viele Leute verließen in dieser Zeit trotz allem die Stadt, teils mit der Bahn,<br />

mit Schiffen oder Lastwagen der Wehrmacht. Personen in verantwortungsvollen Positionen<br />

(Geschäftsleute, Ärzte, Stadtwerke usw.) durften die Stadt nicht vor dem offiziellen<br />

Räumungsbefehl verlassen. Mein Vater fiel in diese Kategorie. Gerüchte am laufenden<br />

Band durcheilten unsere Stadt.<br />

Neue Armeen und SS-Divisionen sollten eingesetzt werden, um die Provinz Pommern<br />

zu befreien bzw. zu verteidigen. Nichts entsprach der Wahrheit.<br />

Unverantwortlich ließ die Obrigkeit das Volk im Dunkeln. Man konnte annehmen, dass<br />

die sogenannte Führung auch nicht viel wusste, <strong>des</strong>halb das 'Schweigen im Walde'. Unsere<br />

Stunden waren gezählt, alles andere war Illusion!<br />

Alt und Jung bemühten sich nach besten Kräften, dem Iwan möglichst wenig zu hinterlassen.<br />

Vorräte jeder Art waren aber überall noch so reichlich vorhanden, dass es schwerfiel,<br />

sich an diesen Vorsatz zu halten. Wir lebten jetzt ein etwas loses Leben. Im Kreise von<br />

Freunden und Bekannten wurde für "weingeistige" Betreuung gesorgt. Überall und jeden<br />

Abend fand man sich zusammen. Die letzten Stunden <strong>des</strong> Frohsinns in unserer Heimatstadt<br />

- sie konnten morgen zu Ende sein!<br />

25. Februar<br />

Magda Georg kam aus Stettin nach Hause, ich brachte sie am nächsten Tag zum Bahnhof.<br />

Sie fuhr nach Bütow zu ihrer Mutter.<br />

26. Februar<br />

Heinz-Günther Jürs, der Mann meiner Cousine Ursel Klemz kam als frischgebackener<br />

Leutnant von der Kriegsschule aus Brunn in Urlaub. Er brachte viel Optimismus mit.<br />

Wir waren zwar erstaunt, aber ohne jede Hoffnung. Die rauhe Wirklichkeit sah anders<br />

aus, und auch Heinz-Günther musste seine Meinung in den nächsten 48 Stunden revidieren.<br />

Der Russe marschierte weiter. An diesem Tage fiel Pollnow in seine Hand, die südlichste<br />

Stadt <strong>des</strong> <strong>Kreises</strong> <strong>Schlawe</strong>. Die Bevölkerung hatte die Stadt zum größten Teil zu Fuß<br />

verlassen, und kam die ca. 30 Kilometer mit ihrem Handgepäck nach <strong>Schlawe</strong>.<br />

Der sogenannte „Ostwall“ 37 (im Gegensatz zum „Westwall“), in mühsamer Arbeit<br />

von Frauen, Mädchen und älteren Männern errichtet, wurde von russischen Truppen<br />

vom Westen her im Spaziergang genommen. Ja, es gab hier noch nicht einmal etwas zu<br />

nehmen. Es war kaum ein Hindernis.<br />

28. Februar<br />

In <strong>Schlawe</strong> fing man doch an, Panzergräben auszuschachten, Barrikaden wurden errichtet,<br />

von Leuten, die weder Ahnung, noch Erfahrung hatten. Als ausgebildeter Pionier<br />

blieb mir nur ein Kopfschütteln, sagen durfte ich nichts. Dafür war unser Bür-<br />

37 Oder Pommernwall Ein Graben- und Bunkersystem, das vom Buckower See entlang<br />

der Grabow das Kreisgebiet Richtung Osten sichern sollte.<br />

122


germeister 38 da, der „noch“ hoch zu Ross durch die Stadt ritt und die Stellungen<br />

inspizierte. Im Hotel „Plagentz“ war eine Volksversammlung einberufen. Das Stadtoberhaupt<br />

erklärte hier wörtlich: „Wenn wir keine Gewehre mehr haben, verteidigen wir<br />

unsere Stadt mit Forken und Spaten!“ Diese großen Worte musste er sicher irgendwo<br />

gehört haben. Wo war er aber bei der "Verteidigung" seiner Stadt? Ich habe ihn nie wieder<br />

gesehen. Leider, das muss ich sagen, gab es an mancher "führenden Persönlichkeit"<br />

etwas auszusetzen.<br />

Es wurde viel geschoben, es gab Autobesitzer, die Benzinscheine bekamen, es gab auch<br />

Autobesitzer, die keine bekamen. Verantwortliche Männer der Organisation Todt 39<br />

feierten Nacht für Nacht Orgien im Hotel „Prahlow“, das Hotel war von den Bonzen<br />

beschlagnahmt, der Besitzer wurde nicht mehr gefragt. Keiner hätte etwas dagegen gehabt,<br />

wenn nicht gleichzeitig brave alte Männer und Frauen mit Kindern die Schaufel am<br />

„Ostwall“ schwingen mussten!<br />

Diese betrüblichen Tatsachen, die meine eigenen Augen sahen, fallen in die letzten<br />

Stunden meiner Heimatstadt. Gerade jetzt hätte unsere vom Tod bedrohte Stadt eine<br />

wahre Persönlichkeit nötig gebraucht, die mit ruhiger, führender und starker Hand Ruhe<br />

vor dem Chaos <strong>des</strong> Zusammenbruches in die Bevölkerung gebracht hätte, damit die<br />

Panik nicht noch größer würde.<br />

29. Februar<br />

Der letzte Tag in diesem Monat!<br />

Uns gegenüber, im zweiten Hause von Schmiedemeister Lemm, wohnte Kate<br />

Block, an sie musste ich unwillkürlich denken, denn sie feierte nur alle<br />

vier Jahre Geburtstag, weil sie an einem 29. Februar geboren war.<br />

Bald hieß es Abschied nehmen von unserer lieben Heimatstadt.<br />

Abschied wohin und wie lange? Oft hatte ich Heimweh nach meiner Stadt gehabt, in der<br />

ich geboren wurde, zur Schule ging, meine Freunde hatte, die ersten Prügel bezog,<br />

Erwin Schaar 40 mich das Radfahren lehrte, mit Fritz Boldt 41 wo ich die erste Zigarre<br />

rauchte, die erste Liebe hatte, jede Straße, jede Ecke, jeden Stein und bald je<strong>des</strong><br />

Gesicht meiner 10.000 Mitbürger kannte.<br />

Es war kalt an diesem letzten Februartag, trockene, gesunde Kälte ohne Schnee. Ich lief<br />

durch die Straßen der Stadt, um bewusst noch viele Eindrücke in mich aufzunehmen, um<br />

sie tief in meinem Herzen zu vergraben. Am Nachmittag traf ich Max<br />

Hasenbusch 42 .Wir hatten uns zu dieser Zeit angefreundet, Freunde in der Not.<br />

Max war zu Hause, vom Schuldienst in Berlin befreit, da es ihm gesundheitlich nicht gut<br />

38 Es dürfte sich um einen Repräsentanten der Partei gehandelt haben, denn<br />

der zuständige Bürgermeister Willi Stübs war 1943 zum Wehrdienst eingezogen<br />

worden.<br />

39 NS-Organisation, benannt nach Dr. Fritz Todt, zuständig für alle Bauten an<br />

Straßen-, Befestigungs- und Verteidigungsanlagen, ebenso für alle Partei- und Staatsbaumaßnahmen<br />

.<br />

40 Friedrich Schaar, Fahrradhändler Adolf-Hitler-Str 12, Vater <strong>des</strong> genannten.<br />

41 Ältester Sohn <strong>des</strong> Max Boldt, Inhaber <strong>des</strong> Bekleidungshauses H. M. Boldt.<br />

42 Ältester Sohn <strong>des</strong> Tischlermeisters Otto Hasenbusch. Er war Lehrer an einer Volksschule<br />

in Berlin und gehörte in den Kreis künstlerisch engagierter junger Leute,<br />

die der offiziellen NS-Kunst kritisch gegenüberstanden, *<strong>Schlawe</strong> 15.12.1912.<br />

123


ging. Wie konnte es anders sein, wir sprachen auch von „unserm“ Ostseebad Jershöft<br />

und vielen schönen Ferientagen dort.<br />

Sie waren noch allzu lebhaft in unserer Erinnerung. Wir gingen zu ihm nach Hause und<br />

tranken Kaffee und viel Schnaps. Max zeigte mir seine selbstgemalten Bilder, Aquarelle,<br />

viele Bleistift-Skizzen, die noch unfertig waren, mit wunderschönen Motiven unserer<br />

kleinen Stadt. Viele Wege am Holzgraben, immer wieder eine Fundgrube für Fotografen<br />

und Maler, die schon besprochene Wipperbrücke, Silhouetten aus allen Richtungen, die<br />

engen Straßen um unsere Kirche, den Martktplatz zu alten Zeiten mit Bäumen und<br />

Brunnen usw. Man konnte sich<br />

mit ihm so wunderbar unterhalten, er war ein begeisterter und begabter Maler, wollte<br />

aber von dieser Kunst alleine nicht leben. Ich glaube, dass er auch ein guter Pädagoge<br />

war, denn er sprach gerne von seiner Schule in Berlin und seinen Schülern. Wir hatten<br />

uns beide an diesem Nachmittag ganz schön die Nase begossen, denn so war alles leichter<br />

zu ertragen. Max Hasenbusch hatte viele Pläne ... wenn alles vorbei war: Er wusste<br />

wohl selbst nicht, wie krank er war.<br />

Nachts hörte man jetzt erstmals das Grollen der russischen Artillerie. Pollnow war in<br />

Fein<strong>des</strong> Hand. Unser beliebtes Ausflugsziel mit dem Aussichtsturm und der Walkmühle,<br />

einer sehr beliebten schönen Kampfbahn, in der ich einmal, von einigen jungen Damen<br />

angefeuert, Günter Kunert 43 und Martin Siedler im 100-m-Lauf besiegte. Die Heimatstadt<br />

von Kurt Österreich, der bei meinem Vater gelernt hatte und später noch einige<br />

Jahre als Techniker bei uns tätig war. Ein Allerweltskerl, ein Haudegen. Wir trafen uns<br />

in Russland und mussten feststellen, dass wir in einer Division waren, Infanterist und<br />

Pionier. Beide wurden wir schwer verwundet.<br />

Die Frontlinie lag jetzt bei Jannewitz, man sprach von schweren Kämpfen.<br />

4.3. März - Die Katastrophe<br />

1. März. Donnerstag<br />

Heute wurde ein verzweifelter Versuch unternommen, unsere Frauen und Kinder aus der<br />

Stadt herauszubringen. Barchert, Kutscher und Hausmeister meines Onkels Klemz,<br />

machte den großen, gummibereiften Vier-Tonnen-Pferdewagen starklar. Meine Cousine<br />

Ursel Jürs, geb. Klemz, mit Tochter Gudrun und Mann, Frau Kunkel 44 mit Marianne<br />

und Gundolf sowie meine Schwester, fuhren am Vormittag aus der Stadt in Richtung<br />

Köslin. Meine Warnung wurde nicht beachtet, sie wollten in Köslin noch einen Zug oder<br />

ein Auto erreichen. Auf die vielen Gerüchte durfte man nicht mehr hereinfallen. Ich<br />

glaube, unser frisch gebackener Leutnant, Heinz-Günter Jürs, ritt hier eine Attacke, die<br />

leider oder Gott sei Dank, bei dem Dorf Karwitz 45 schon beendet war. Wegen starken<br />

Artilleriebe- Schusses war diese Straße bereits gesperrt. Am Nachmittag waren alle wieder<br />

gesund zu Hause. Ein Ende mit Schrecken blieb allen Beteiligten erspart.<br />

Das Dröhnen der Geschütze hörte man nun immer deutlicher. Wir wussten aber nicht, ob<br />

es die eigenen oder die russischen waren. Für Frontsoldaten ein vertrautes Geräusch,<br />

aber was bedeutete es für Frauen und Kinder? Die Nervosität unter der Bevölkerung<br />

wurde immer größer. Der Ortsgruppenleiter unserer Stadt, Werner Pomplun 46 , hielt<br />

am Abend <strong>des</strong> 1. März auf dem Marktplatz eine Ansprache „an das Volk“. Die<br />

43 Schüler <strong>des</strong> Gymnasiums und guter Sportler.<br />

44 Karoline Kunkel, Pollnower Str. 6.<br />

45 Am 01.03. hatte eine russische Panzer-Vorausabteilung die Straße bei Nemitz und den<br />

Grabow-Übergang, von Pollnow kommend, gesperrt.<br />

46 Sohn <strong>des</strong> Sägewerksbesitzers Hermann Pomplun, Kösliner Vorstadt 86<br />

124


öffentliche Meinung der Bürger hatte ihn wahrscheinlich dazu gezwungen. Was wir<br />

erfuhren war nichts. Am Ende seiner Ausführungen bemerkte er, wir könnten beruhigt<br />

nach Hause gehen, die Gefahr wäre „fürs Erste“ gebannt. Wir gingen alle nach Hause,<br />

aber keiner war beruhigt. In dieser Situation musste ein aufrichtiger Mensch und Parteiführer<br />

ein offenes und ehrliches Wort sprechen, er hätte Farbe bekennen müssen, und<br />

wenn er, wie die Bürger dieser Stadt, nichts Genaues wusste, wäre zu dieser Stunde die<br />

Parole "Rette sich, wer kann" wohl angebracht gewesen. Diese Worte auf eigene Faust<br />

hätten alle <strong>Schlawe</strong>r sehr gut verstanden. Hirngespinste, Parolen, Phrasen oder gar bewusste<br />

Lügen der Bevölkerung zu erzählen, war verantwortungslos.<br />

Verhängnisvoll wurden sie für viele, die schönen Worten Glauben schenkten, denn die<br />

Gefahr war nicht gebannt, sie war zum Greifen nahe.<br />

Der ersehnte Befehl zur Freigabe von Lebensmitteln kam nicht, Kaufleute, Fleischer,<br />

Bäcker usw. hatten ihn vergeblich erwartet. Ein Wahnsinn in höchster Potenz, jetzt noch<br />

Lebensmittel auf Marken zu verkaufen. Alle, die unsere Stadt verließen, um sich in den<br />

umliegenden Dörfern zu verkriechen, konnten sich nicht einmal mit dem allernotwendigsten<br />

Vorrat eindecken. Es war überall alles reichlich vorhanden. Wo waren die Verantwortlichen<br />

oder wer waren die Verantwortlichen, die für diese dringende Notwendigkeit<br />

das längst überfällige Startzeichen hätten geben müssen?<br />

Meine Mutter sagte oft zu mir, ich sollte für alle Fälle unseren großen Ziehwagen in<br />

Ordnung bringen, falls wir doch noch die Stadt verlassen müssten. Ich fasste dies als<br />

Spaß auf. Wenn ich den großen Ziehwagen sah, dachte ich immer an Guste Abel, sie war<br />

früher „eine der besten Waschfrauen <strong>Schlawe</strong>s“, jahrelang zog sie auch unseren Wagen<br />

vollbeladen mit Wäsche auf den Trockenplatz am Gemeindehaus. Nun, meine Mutter<br />

sollte Recht behalten. Mir wäre zwar unser Opel lieber gewesen, er stand aber nicht<br />

mehr in unserer Garage, man hatte ihn „eingezogen“.<br />

In der Nacht vom 1. zum 2. März wurde das nie Geglaubte grausame Wirklichkeit. In<br />

Anbetracht <strong>des</strong> näherrückenden Artilleriefeuers beratschlagten wir mit Familie Klemz<br />

und kamen zu dem Entschluss, Frauen und Kinder aus der Stadt herauszubringen. Der<br />

große Vier-Tonnen-Pferdewagen meines Onkels trat abermals in Aktion und wurde noch<br />

nachts beladen. Unsere Sachen waren mit einkalkuliert, es war aber eine Fehlspekulation.<br />

Der Wagen war schnell überfüllt. Man hatte in aller Aufregung vergessen, dass es<br />

auf die Flucht ging und nicht auf eine Wochenendfahrt oder einen Betriebsausflug. Jeder<br />

wollte am liebsten alles mitnehmen, sicher war es schwer, sich innerhalb weniger Stunden<br />

von seinen liebgewonnenen Habseligkeiten zu trennen. So war es auch verständlich,<br />

dass die Unvernunft Blüten trieb. Alles Bitten, nur das Notwendigste zu greifen, war<br />

vergebens. Harte Worte fielen, denn die Vernunft musste siegen! Nach dem strengen<br />

Reglement durfte je<strong>des</strong> Familienmitglied einen Koffer mitnehmen. Lebensmittel und<br />

Menschen mussten auf den Wagon, d.h. alte Frauen und kleine Kinder. Tante Missen<br />

Klemz hatte für alle gut vorgesorgt, in den ersten Tagen war keine Not zu befürchten.<br />

Zusätzlich musste nun doch unser Ziehwagen aktiv werden.<br />

2. März 1945,Freitag<br />

Meine Schwester Brigitte, unsere tapfere Oma, Mutter meines Vaters, mit ihren 83 Jahren,<br />

unsere Köchin Erna Sill, die schon 14 Jahre hei uns tätig war, und meine Mutter<br />

gehörten nun zu dem Treck, der in den frühen Morgenstunden <strong>des</strong> 2. März die Stadt<br />

verließ. Ida Last, unsere zweite Hausangestellte, die auch schon neun Jahre mit uns<br />

Freud und Leid getragen hatte, blieb nicht bei uns, da Eltern und Geschwister in Alt-<br />

Warschow auf sie warteten.<br />

Ein schwerer Schritt für uns alle. Vom Geborgensein im eigenen Haus in fast drei Jahrzehnten<br />

jetzt der Abschied zum schwersten Gang <strong>des</strong> bisherigen Lebens, ohne Ziel, mit<br />

125


unvorstellbaren körperlichen und seelischen Anforderungen und der Gefahr für Leib und<br />

Leben.<br />

Meine Mutter war tapfer wie immer, als sie "ihr Haus" vielleicht für immer verließ. Wer<br />

aber kennt nicht das Gesicht seiner Mutter, um zu beurteilen, was in diesen Momenten in<br />

ihr vorging.<br />

Mutter - Deine Wege,<br />

Die Du gehst sind schwer.<br />

Unsere Herzens-Schläge<br />

gehen in Gedanken vor Dir her.<br />

Mutter - Deine Liebe<br />

War uns mehr als Glück,<br />

Wenn uns nichts mehr bliebe.<br />

Ist es doch Dein Blick.<br />

Dein Haus soll uns bald wieder Obdach sein.<br />

Wenn es gibt ein Wiedergeben;<br />

Dann wollen wir in hellem Sonnenschein<br />

Unsere Heimat neu erleben!<br />

Zwei starke braune Pferde stampften davon und zogen eine schwere Last. Es war kalt an<br />

diesem Morgen und wir hatten unsere alten Frauen und die Kinder in warme Decken<br />

gehüllt. Circa 25 Mann stark war dieser Treck. Außer der Familie meines Onkels, vielen<br />

seiner Angestellten und zu unserer Familie, gesellte sich noch Frieda Fenske, eine gebürtige<br />

<strong>Schlawe</strong>rin aus Berlin, wo sie dem Bombenterror entronnen war. Sie war die<br />

Schwester von Leo Kämmerer 47 aus München und eine gute Freundin unserer Familie.<br />

Den Untergang ihrer Geburtsstadt erlebte sie nun in unserem Familienkreis. Das erste<br />

Ziel unseres Trecks war das Jagdhaus in unserem <strong>Schlawe</strong>r Stadtwald, sieben Kilometer<br />

- gegenüber vom Stadtförster Scharnweber - zur linken Seite auf dem Wege nach Jershöft.<br />

Die Verwalter dieses Hauses, Familie Karsten, hatte hier für uns alle Quartier gemacht.<br />

Für jede Familie war ein Raum vorgesehen. Ja, hier hätte man es noch ausgehalten, hier<br />

war noch Ruhe. Fern der hektischen Atmosphäre in der Stadt und aller Gerüchte. Ich<br />

hatte unsere Lieben mit dem Fahrrad begleitet, fuhr am Nachmittag aber wieder in die<br />

Stadt zurück. Mein Vater und unser französischer Techniker Camille (Kriegsgefangener),<br />

der bei uns wie ein Kind im Hause war, hielten weiterhin die Stellung in<br />

Haus und Stadt. Wir drei waren jetzt ganz allein - Männerwirtschaft! Essen gingen wir<br />

zu meiner Cousine Ursel Jürs, die mit ihrem Mann Heinz-Günther und wenigen Angestellten<br />

in ihrem Hause und ihrem Geschäft geblieben waren. Meine Tante kam jeden<br />

Tag aus dem Jagdhaus zurück in die Stadt, denn das Geschäft lief ja noch auf vollen<br />

Touren. Auch mein Vater behandelte nach wie vor die letzten, unentwegten Patienten.<br />

Camille leistete treu und brav Hilfestellung. Wie mag ihm und seinen Karneraden wohl<br />

zu Mute gewesen sein? Sie waren ja noch immer Kriegsgefangene. Ihre Befreiung durch<br />

die russischen Truppen stand kurz bevor. Waren sie hierüber glücklich, dass sie bald<br />

47 Oberregierungsrat, Verfasser <strong>des</strong> Buches „Aus der Heimat“ zusammen mit dem Lehrer<br />

Walter Poepel, Hindenburgstr. 24, Gießen 1962.<br />

126


nach Hause konnten, oder hatten auch sie sich alles anders vorgestellt? Die Angst auf<br />

das, was auf uns und sie zukam, hatte alle französischen Kriegsgefangenen in den Bann<br />

gezogen. Was sie aber in Wirklichkeit dachten, konnte keiner ergründen.<br />

Ich versorgte meinen Vater und Camille mit allem, was das Haus Mielke noch zu bieten<br />

hatte und was speziell der Keller noch hergab. Statt Morgenkaffee gab es einen guten<br />

Tropfen von der Mosel, Alkohol betäubte den Magen und beruhigte die Nerven. Eingemachtes<br />

Obst war noch reichlich vorhanden und die Russen hätten nichts damit anzufangen<br />

gewusst. Mein Ehrgeiz war es, unseren "Befreiern" nichts zu hinterlassen. Ich<br />

habe es nicht ganz geschafft!<br />

Das Radio lief unentwegt, gespannt verfolgten wir die Nachrichten - Stunde um Stunde.<br />

Bald musste <strong>Schlawe</strong> ja auch erwähnt werden.<br />

Telefonisch gaben wir jede Meldung weiter ins Jagdhaus zu unseren Angehörigen. Alle<br />

Achtung, die Telefonistinnen auf dem Amt hielten auch noch ihre Stellungen! Am 2.<br />

März 1945 in den Nachmittagsstunden meldete der Wehrmachtsbericht:<br />

„Feindliche Panzerspitzen drangen auf schmalem Raum weiter nach Norden vor, und<br />

erreichten die Straße Köslin - <strong>Schlawe</strong>!“<br />

Diese Meldung, original wiedergegeben, war die allerletzte, die wir in unserem Haus<br />

noch hören konnten. Unsere allerletzte Hoffnung zerbrach, der bewußte Strohhalm<br />

schwamm dahin.<br />

Mit Beginn der sowjetischen März-Offensive waren die Tage Hinterpommerns gezählt.<br />

Marschall Schukows Divisionen überrollten unsere Städte und Dörfer, die Armeen Rokossowskis<br />

stießen in die Danziger Bucht vor. <strong>Schlawe</strong>s Nachbarstädte Neustettin,<br />

Rummelsburg, Pollnow, Zanow, Köslin usw. hatten die Sowjets schon eingenommen.<br />

3. März 1945, Samstag<br />

Am 3.3. erreichte Madga Georg mit ihrer Mutter in einem Auto aus Bütow noch <strong>Schlawe</strong>.<br />

Das Schicksal der Frau meines Freun<strong>des</strong> Otsch lag mir sehr am Herzen. Wieviele<br />

schöne Stunden hatten wir gemeinsam verlebt. Ich war mit vielen anderen <strong>Schlawe</strong>r<br />

Freunden dabei, als die beiden sich kennenlernten, wir verbrachten gemeinsame Urlaubstage<br />

im Seebad Jershöft, wir sahen uns öfter in Stettin, ich war noch im Mai 1944<br />

Trauzeuge als beide heirateten, und nun in den letzten Stunden blieben uns noch wenigstens<br />

ein paar Worte <strong>des</strong> gegenseitigen Trostes für ein gutes überleben. Unsere Gedanken<br />

eilten auch zu ihrem Mann, meinem Freund. Ihm mussten, wo er auch zur Zeit weilte,<br />

die Ohren klingen. Sicher waren auch seine Gedanken in der Heimat, die jetzt ihren<br />

letzten Stunden entgegen ging. Noch waren wir da, noch lebten alle, aber noch stand uns<br />

das Schlimmste bevor. Karl-Heinz suchte sicher in Gedanken seine Frau, seine Eltern<br />

und vielleicht dachte er auch ein wenig an mich, seinen guten Freund Pietje, der nach<br />

allem Kriegs-Schlamassel nun abermals in größten Nöten war. In den Dörfern, ca. 15 km<br />

südwestlich von <strong>Schlawe</strong>, tobten schwere Kämpfe. zusammengewürfelte Kampfgruppen,<br />

abgekämpfte Reste deutscher Einheiten, nicht ausgebildete Volkssturmleute ohne<br />

festen Zusammenhalt, sie waren einem massierten feindlichen Ansturm nicht gewachsen.<br />

An Schlaf war bei uns nicht mehr zu denken. Nächtelang lagen wir halbangezogen und<br />

fielen nur in Halbschlummer. Alle Sachen standen griffbereit. Fortgesetzt schellte das<br />

Telefon, unsere Angehörigen im Stadtwald warteten auf uns. Bekannte riefen an, mit<br />

neuen Meldungen, Gerüchten, Halbwahrheiten und Tatsachen. Auf der Straße draußen<br />

rollten unaufhörlich die Trecks. Es waren jetzt keine Ost- und Westpreußen mehr, unsere<br />

engsten Landsleute aus umliegenden Dörfern waren nun auf den Beinen. Die typischen,<br />

großen Leiterwagen waren hochbeladen. Ich lief oft auf die Straße, um zu erfahren aus<br />

welchen Dörfern sie kamen. Ein jammervolles Bild, da es sich meistens um ältere Leute<br />

127


handelte. Ich fragte die alten Männer und die vermummten Mütterchen, wo sie herkämen:<br />

sie kamen aus Quäsdow, Suckow, Hohenzollerndorf, später aus Malchow, Karwitz,<br />

Bewersdorf, Marienthal usw. Hörte ich Soltikow, so fragte ich nach den Brüdern Machals,<br />

unseren Verwandten: keiner wusste etwas.<br />

Fragte man diese Menschen: "Wo wollt ihr hin?" so waren Schluchzen und Tränen die<br />

Antwort. Zusammengekauert saßen sie in der Kälte auf ihren Wagen und lenkten die<br />

Zügel ins Ungewisse. Der treue Haushund lief neben seinem Herrn und wollte auch<br />

nicht dem Iwan in die Hände fallen. Unser brauner Kurzhaardackel "Lump der Dritte"<br />

hatte sich schon einige Zeit vorher "abgesetzt", hoffentlich erfolgreich. Vermutlich hatte<br />

er bei einer durchziehenden deutschen Wehrmachtseinheit Anschluss gefunden.<br />

So irrte alles planlos auf den Landstraßen hin und her. Im Westen war jetzt der Russe,<br />

nur der Osten bis Danzig war noch frei. Von Osten hatte man die russischen Truppen<br />

erwartet. Von Süden und Westen marschierten sie nun auf unsere Stadt zu. Diese sogenannten<br />

Kesselschlachten hatten die russischen Generäle von der deutschen Heeresleitung<br />

gelernt, sie konnten sie jetzt erfolgreich praktizieren und taten das auch. In der<br />

Nacht vom 3. zum 4. März ließ ein kleiner russischer Aufklärer, an der Ostfront unter<br />

dem Namen "Kaffeemühle" bekannt, drei Bomben in der Nähe <strong>des</strong> <strong>Schlawe</strong>r Bahnhofs<br />

fallen. Sollte etwa ein Bombenangriff der Anfang vom Ende sein? Bomben auf eine so<br />

kleine Stadt, die fast schon menschenleer war? Es war eigentlich nicht denkbar, aber<br />

diese Gedanken beschäftigten uns. <strong>Schlawe</strong> war natürlich immer noch ein kleiner Kontenpunkt.<br />

5. März 1945, Montag<br />

Eine der ganz wenigen Familien in unserer Stadt, die nicht nervös waren und bis<br />

zuletzt Ruhe bewahrten, war die Familie Dahnz 48 . Am Abend <strong>des</strong> 5. März wurde mein<br />

Vater mit mir von seinem Freund Otto eingeladen. Er wusste, wir waren alleine<br />

und bat uns zum Abendbrot. Gemeinsam holten wir die letzten guten Tropfen aus dem<br />

Keller und suchten gegenseitig Ermunterung. Natürlich endete je<strong>des</strong> Gespräch immer<br />

beim gleichen Thema. Mutter und Vater Dahnz waren beruhigt, dass sie ihre drei Töchter<br />

noch auf die große Reise geschickt hatten. Sie vermuteten Kate, Hanna und Eka in<br />

Sicherheit, obwohl sie noch ohne jede Nachricht waren. Von ihrem Sohn Werner wussten<br />

sie natürlich auch nichts. Oft tranken wir in dieser Nacht auf das Wohl ihrer Kinder.<br />

Otto Dahnz führte uns in dieser Nacht noch durch sein Geschäft und seine Lagerräume,<br />

als wollte er sagen: „Schaut her, für alles musste man sich lange mühen, dies Geschäft<br />

haben wir uns in Jahrzehnten auf- und ausgebaut, schon morgen kann alles vorbei sein!“<br />

Wir öffneten die Dachluke auf dem Boden und sahen südlich von <strong>Schlawe</strong> einen feuerroten<br />

Himmel. Welches Dorf das Brandopfer war, konnten wir nicht feststellen.<br />

Es wurde wieder spät in dieser Nacht, Vater und ich gingen nach Hause, ohne dass wir<br />

richtige Ruhe fanden.<br />

Knappe 48 Stunden später lebte Familie Dahnz nicht mehr. Sie wurden kurz nach dem<br />

Einmarsch der russischen Truppen in die Stadt <strong>Schlawe</strong> am 7. März von den "Befreiern"<br />

ermordet. Mit dem Ehepaar Dahnz starben auch die Eltern von Mutter Dahnz. Im Glauben<br />

an das Gute mussten diese Menschen ihr Leben lassen. Sie hatten nach dem Einmarsch<br />

an eine normale Besatzung geglaubt, <strong>des</strong>halb die Ruhe vorher und das Verblei-<br />

48 Otto Dahnz, Inhaber <strong>des</strong> Geschäftes für Eisenwaren, Baubedarf, Feuerung, Haushaltswaren<br />

usw., Kösliner Str. 19/ 20, oo Frieda Carpus aus einer ursprünglich Rügenwalder<br />

Familie.<br />

128


en in Stadt und Haus. Dieser Irrtum war tödlich. Als eine der ersten <strong>Schlawe</strong>r Einwohner<br />

mussten diese unschuldigen Menschen ihr Leben lassen.<br />

Den alten Freunden meines<br />

Elternhauses An dieser Stelle ein ehren<strong>des</strong> Gedenken !<br />

Wer sie so gut kannte und noch die letzten<br />

Stunden mit ihnen zusammen war, wird sie<br />

Nie vergessen !<br />

6. März 1945. Dienstag<br />

Der 6. März ist der Schicksalstag meiner Heimatstadt. Dieser Dienstag war ein trockener,<br />

kalter und klarer Märztag. Am frühen Morgen traf ich mit Magda Georg zusammen,<br />

beide hatten wir noch einige Einkäufe zu tätigen. Magda war noch Ende Februar aus<br />

Stettin gekommen, um ihre Mutter aus Bütow herauszuholen. Sie kamen aber nicht mehr<br />

fort und blieben nun bei den Schwiegereltern in <strong>Schlawe</strong>. Bei unserem Einkauf erlebten<br />

wir die letzten Wehen einer immer noch überspannten Organisation, die aber trotzdem<br />

nicht zu funktionieren schien.<br />

Wir kauften das letzte Mal unsere gute „pommersche Wurst“. 30 Im Fleischerladen<br />

Sielaff 49 in der Marktstraße wollte man noch Marken von uns haben!! Die Angst vor<br />

der Obrigkeit war auch in diesen letzten Stunden noch groß. Dabei sah man niemand<br />

mehr von diesen „Herren“.<br />

Ich verabschiedete mich von Magda mit einem herzlichen „Auf Wiedersehen“. Bald<br />

wäre es nicht mehr dazu gekommen. Ich eilte in das Geschäft meines Onkels Klemz und<br />

wollte meine Tante bitten, die Lebensmittel an die Bevölkerung zu verteilen. Der Aufbruch<br />

stand unmittelbar bevor. Gegen 10:00 Uhr war ich Zeuge eines Telefonats zwischen<br />

meiner Tante und dem Wirtschaftsamt. Diese Behörde wäre für diese Aktion zuständig<br />

gewesen. Der Gesprächspartner ist nicht mehr bekannt. Jedenfalls wurde die<br />

Freigabe abgelehnt. Man wollte den Räumungsbefehl abwarten. Welcher Mensch hätte<br />

dann noch Zeit, Lust und Ruhe zum Einkaufen gehabt? Guter Rat war teuer, wir waren<br />

uns einig und griffen kurzentschlossen zur Selbsthilfe. Ein großer Teil der Lebensmittel<br />

auf dem Lager meines Onkels waren vom Wirtschaftsamt plombiert. Frauen und Kinder<br />

stürmten in den Laden, sie wollten dieses und jenes, vor allem natürlich Lebensmittel. In<br />

allen Familien und Häusern war man zum Verlassen der Stadt vorbereitet. Verzweifelt<br />

baten die Hausfrauen um die Notwendigkeiten, die man für die nächsten Stunden und<br />

Tage dringend benötigte. Herzzerreißende Szenen, man wollte und konnte, durfte aber<br />

nicht helfen, man wusste, dass vielleicht in einer Stunde alles vorbei war. Wo waren die<br />

Verantwortlichen, wer war überhaupt verantwortlich? Keinen sah man, keiner war da.<br />

Einige treue Angestellte meines Onkels, die bis zur letzten Stunde hinter dem Ladentisch<br />

standen, der junge Drews, Gastwirtssohn aus Kannin, meine Cousine Ursel und ihr<br />

Mann in Uniform und ich ergriffen in eigener Verantwortung die Initiative. Wir schleppten<br />

die Butter und Schmalzfässer aus dem Keller und von den Speichern in den Laden.<br />

Mit beiden Armen bis zu den Ellbogen im Fett, verteilten wir es an die wartenden Frauen.<br />

Wir schufteten, was in unseren Kräften stand. Es sprach sich herum, immer mehr<br />

Frauen kamen, holten, gingen und kamen wieder.<br />

Meine Tante hatte Angst um uns, was wir taten war verboten, wir entfernten die Plomben<br />

von Paketen und Säcken mit Mehl und Hülsenfrüchten. Der ganze Laden stand voller<br />

Menschen. Wir gaben aus, was wir nur geben konnten. Ohne Befehl, ohne Genehmigung!<br />

49 Franz Otto Sielaff, Fleischermeister<br />

129


Mitten in unsere so gut laufende Selbsthilfe-Aktion vernahmen wir das Läuten unserer<br />

Glocken. Lauter und lauter wurde ihr Klang, man empfand es jedenfalls so. Niemals<br />

zuvor erschien das Geläut so vernehmbar wie in diesen Minuten. Glockenklang in unserer<br />

kleinen Stadt, das war bisher ein Wohlempfinden — gegenwärtig war es Mahnung,<br />

Appell und zugleich Aufforderung an alle <strong>Bewohner</strong> dieser Stadt, sie umgehend zu verlassen.<br />

Es war der 6. März 1945 - 11:00 Uhr - . Der Schicksalstag, die Schicksalsstunde<br />

meiner Vaterstadt: Ich habe sie miterlebt!<br />

Unser Gewissen war etwas erleichtert, weil wir wenigstens noch im letzten Augenblick<br />

sehr vielen Menschen geholfen hatten.<br />

Nun schloss auch dieses Geschäft, das einen großen Teil der <strong>Schlawe</strong>r Bevölkerung<br />

einige Jahrzehnte mit Drogerieerzeugnissen und Lebensmitteln bestens versorgt hatte,<br />

seine Türen. Was alleine in diesem Betrieb, der in seiner Branche führend in unserer<br />

Stadt war, an lebensnotwendigen Gütern nicht mehr zur Ausgabe gelangte, ist kaum zu<br />

schildern. Unmengen von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern fielen den "Befreiern" in<br />

die Hände und der Feuersbrunst zum Opfer.<br />

Ich eilte noch schnell in die Stolper-Vorstadt, um mich von Familie Georg zu verabschieden.<br />

Die Eltern und die Frau meines Freun<strong>des</strong> mit ihrer Mutter standen zur Abfahrt<br />

bereit. Ich drückte den Eltern die Hände und wünschte ihnen Kraft und Gesundheit, um<br />

alles zu überstehen, was auf sie zukam. Sie versprachen tapfer durchzuhalten, ihr einziger,<br />

großer Wunsch: Ihre Kinder wiederzusehen. Ruth Georg im Dienste <strong>des</strong> Deutschen<br />

Roten Kreuzes, Uli und Karl-Heinz Georg im grauen Rock. Beim Abschied von der<br />

tapferen Frau meines Freun<strong>des</strong> standen uns beiden Tränen in den Augen. Viele schöne<br />

Stunden hatten wir gemeinsam in unserer Heimat verlebt. Jetzt in dieser Stunde musste<br />

jeder sein eigenes Päckchen auf den Rücken und sein eigenes Schicksal in die Hand<br />

nehmen. Alle Wege trennten sich und keiner wusste und konnte voraussagen, wo sie<br />

endeten. Beim letzten Händedruck wussten wir nicht, ist es ein Abschied für immer oder<br />

nur für kurze Zeit? Magda hatte sich zur Flucht entschlossen. Für junge Frauen war es<br />

nun einmal der bessere Weg, wenn es noch eine Möglichkeit gab.<br />

Beim Erreichen der deutschen Reichsgrenzen hatte der bekannte Sowjet-Literat Ilja Ehrenburg<br />

seinen berüchtigten Aufruf an alle Soldaten der russischen Armeen verkündet.<br />

Durch Parolen, Ansprachen, Zeitungen und Soldatensender wurde er verbreitet:<br />

„Rotarmisten! Ihr betretet jetzt die Höhle der blonden Bestie! Tötet! Tötet! Tötet! Brecht<br />

den Hochmut der germanischen Frauen. Sie sind Eure rechtmäßige Beute !“<br />

Ich musste immer wieder an die Flüchtlinge aus Ostpreußen denken, sie hatten uns geschildert,<br />

was sich dort abgespielt hatte. In den östlichsten deutschen Orten, Goldap und<br />

Nemmersdorf, hatte bereits im Oktober 1944 die Jagd von russischen Soldaten auf deutsche<br />

Frauen begonnen.<br />

Flugzettel mit besagtem Aufruf lagen auch in den Straßen unserer Stadt. Wahrscheinlich<br />

hatte der nächtliche Aufklärer sie fallen gelassen.<br />

Magda Georg nahm Abschied von Mutter und Schwiegereltern. Das Lebewohl war sicher<br />

eines der schwersten ihres Lebens. Grau wie der Himmel stand vor ihr die Welt. Sie<br />

war gut beraten, als sie sich zur Flucht entschlossen hatte. Manchmal entscheidet ein<br />

Augenblick oder ein plötzlicher Entschluss über das weitere Schicksal. Tapfer wagte<br />

Magda einen abenteuerlichen Weg, von nun an alleine auf sich gestellt. Ein Wehrmachtsauto<br />

nahm sie mit nach Gotenhafen. Hier erreichte sie ein Torpedoboot, das morgens<br />

um 5:00 Uhr im Geleit von drei anderen Booten den Hafen verließ. Endlich an<br />

Bord eines ersehnten Schiffes. Glück, großes Glück, aber noch keine endgültige Rettung<br />

für alle die, die von diesen Booten aufgenommen wurden. Auch die Ostsee war jetzt zu<br />

einem gnadenlosen Kriegsschauplatz geworden. Glück und Unglück liegen oft dicht<br />

130


eisammen. Gegen 7:00 Uhr, auf der Höhe von Heia, wurde dieses Geleit beschossen.<br />

Das Torpedo-Boot von Magda wurde getroffen. Die Panik kann man sich vorstellen.<br />

Innerhalb von sieben Minuten versank das Boot nach dem schweren Treffer in der wogenden<br />

See. Die drei Begleitschiffe kamen zur Hilfe und nahmen die Schiffbrüchigen an<br />

Bord. Magda wurde gerettet. Beinahe wäre auch ihr die Ostsee zum Schicksal geworden.<br />

Die Fahrt ging weiter nach Dänemark. Hier verbrachte Magda 18 Monate hinter Stacheldraht,<br />

bis sie im Oktober 1946 aus dem Internierungslager nach Deutschland entlassen<br />

wurde. Wir nahmen sie in Lübeck in Empfang.<br />

Mein Vater wartete auf mich zu Hause voller Ungeduld. Den Entschluss, in der Stadt zu<br />

bleiben, hatten wir noch nicht aufgegeben. Am Nachmittag dieses 6. März setzte der<br />

Beschuss auf unsere Stadt ein, etwa aus Richtung Quatzower Wald. Unheimlicher wurde<br />

es, als die ersten Granaten in unserer Strasse einschlugen, zwischen dem Hospital 50 und<br />

dem Weidemann’schen Haus 51 .<br />

Die noch in der Stadt weilenden Frauen und Kinder waren natürlich vollkomen kopflos<br />

geworden. Eine alte Patientin meines Vaters bat um eine Dosis Schlaftabletten, sie wollte<br />

mit ihrem Kinde aus dem Leben scheiden. Es war nur ein Beispiel von vielen, und<br />

zeigte die Nervenverfassung der Menschen. Mein Vater brachte es nicht über sein Herz<br />

und verweigerte das Medikament.<br />

Die Einschläge russischer Granaten wurden stärker. Am Stadtrand gab es die ersten Toten<br />

durch den feindlichen Beschuss. Telefonisch erreichten wir unsere Lieben immer<br />

noch, auch sie hatten draußen im Walde das Donnern der Kanonen gehört, und warteten<br />

voller Ungeduld auf uns. Für meinen Vater, unseren französischen Techniker und mich,<br />

kam nun der Aufbruch. Ein Schneesturm hatte unsere Stadt zum Abschied in ein weißes<br />

Kleid gehüllt, die Straßen waren glatt. Unsere Fahrräder standen bereit, wir verließen<br />

unser Haus. Ich muss ehrlich gestehen, es war ein furchtbarer Augenblick. Für mich und<br />

ganz besonders für meinen Vater. Camille und ich standen schon auf der Straße und<br />

warteten auf ihn. Er war noch im Garten und hatte zum letzten Male seine Brieftauben<br />

gefüttert. Dann verließ auch er sein Haus, wie ein Kapitän, der als Letzter sein Schiff<br />

verlässt, wenn es zu sinken droht. Er war nicht ganz schlüssig, ob er die Haustüre abschließen<br />

oder offen lassen sollte. Es wäre egal gewesen, gefühlsmäßig verschloss er sie.<br />

Unserm Franzosen kullerten die Tränen, ich musste mit mir kämpfen, denn ich wusste,<br />

was dieser Augenblick für meinen Vater bedeutete, und was in seiner Seele vorging. Er<br />

konnte nicht ahnen, dass er seine Haustüre zum letzten Male verschlossen hatte, und daß<br />

er sein Haus nie wieder betreten würde. 34 Jahre hatte er mit Erfolg in seinem Beruf<br />

gearbeitet. In dieser Zeit hatte er es zu einem guten Wohlstand gebracht. Vielen Menschen<br />

hatte er geholfen und sie während dreier Jahrzehnte von Schmerzen befreit. Sein<br />

Haus mit dem großen, dahinterliegenden Garten hatte er im Jahre 1919 von dem Sanitätsrat<br />

Dr. Mulert gekauft. In diesem Augenblick musste er es einem Ungewissen<br />

Schicksal überlassen. Schweren Herzens schwangen wir uns auf die Räder und fuhren in<br />

Richtung <strong>Schlawe</strong>r Stadtwald/Jagdhaus.<br />

Wir holten meine Cousine Ursel ab, und versorgten uns noch mit Rauchwaren aus dem<br />

Tabaklager meines Onkels. Heinz-Günther Jürs durfte als Offizier die Stadt nicht verlassen,<br />

und musste sich dem Standortkommandanten zur Verfügung stellen. Die Fahrt auf<br />

der verschneiten Straße, dazu ein tolles Schneegestöber machte uns allen zu schaffen.<br />

Wir hatten zu tun, dass wir uns auf unseren Rädern hielten, immer wieder rutschte einer<br />

50 Städtisches St. Georgen Hospital, Adolf-Hitler-Str. 30/32.<br />

51 Margarete Weidemann (Tante Grete),Schülerpension, Adolf- Hitler - Str. 26.<br />

131


aus. Gesprochen wurde nicht viel, die Gedanken meines Vaters waren noch ganz woanders.<br />

Die vielen glücklichen Stunden, die er in seinem Hause und seiner Familie im Laufe<br />

der Jahrzehnte erlebt hatte, zogen im Fluge an ihm vorüber.<br />

Höhepunkte waren der Oktober 1937, sein 25jähriges Praxis-Jubiläum und ein Jahr später,<br />

am 14. Oktober 1938, die Silberne Hochzeit meiner Eltern, auch uns Kindern sind<br />

diese Feiertage unvergessen und werden immer in unserer Erinnerung weiterleben. Sicher<br />

dachte er auch an die vielen von verantwortungsvoller Arbeit erfüllten Stunden in<br />

seiner Praxis und seinem Labor. Bis zur letzten Stunde stand er seinen Patienten zur<br />

Verfügung.<br />

Eine Detonation - eine Granate schlug nicht weit von meinem Vater ein, der als erster<br />

radelte. Beinahe hätte es uns erwischt! Wir nahmen volle Deckung im Straßengraben.<br />

Camille, ein guter Kerl obwohl kein Held, wurde ängstlich, mir reichte mein Eisen im<br />

Körper auch. Der Schreck war uns allen in die Glieder gefahren. Wir schoben unsere<br />

Fahrräder jetzt bis zum Waldrand, dann waren wir in Deckung, anscheinend konnte man<br />

uns sehen, oder man hatte die deutschen Artilleristen gemeint, die gerade ihre Geschütze<br />

in Stellung brachten. Etwas später hörten wir noch, wie sie ihre kargen Bestände an Munition<br />

verschossen. An das Getöse musste man sich nun wieder gewöhnen.<br />

Unsere Angehörigen standen vor dem Jagdhaus schon zum Abmarsch bereit. Das immer<br />

stärker werdende Artilleriefeuer hatte sie dazu veranlasst. Einen Schluck heißen Kaffee<br />

mit Streuselkuchen, den unsere Erna versalzen hatte, sie hatte statt in den Zuckerbeute]<br />

in den Salznapf gegriffen, dann ging es weiter, der Ungewissheit entgegen. Unser Treck,<br />

mit unserm Vier- Tonner mit zwei kräftigen Pferden und dem Ziehwagen, war nun vollzählig.<br />

Frau Fenske hatte das Jagdhaus vorher verlassen. Sie hatte sich in den Hästerkaten<br />

durchgeschlagen und glaubte, hier etwas außerhalb der Stadt bei der befreundeten<br />

Familie Steinhorst in AH Warschow einen sicheren Unterschlupf zu finden, der Treck<br />

war ihr zu strapaziös. Es sollte später ihr Unglück sein. So ging unsere Flucht vor der<br />

drohenden Gefahr weiter durch unseren <strong>Schlawe</strong>r Stadtwald in Richtung AH Krakow -<br />

Kannin. Der Weg durch Eis und Schnee war beschwerlich für Menschen und Tiere. In<br />

der verlassenen Oberförsterei an der Straße war unsere erste Rast. Haus und Ställe waren<br />

leer.<br />

Ein größerer Trupp französischer Kriegsgefangener kam die Straße entlang, sie wollten<br />

dorthin, wo wir herkamen, in die Stadt. Für sie kam nun die Befreiung. Nach jahrelanger<br />

Kriegsgefangenschaft wollten sie nach Hause. Verständlich, dass unser Camille den<br />

Wunsch hatte, sich jetzt seinen Landsleuten anzuschließen. Wir nahmen es ihm nicht<br />

übel. Schweren<br />

Herzens verabschiedete er sich von uns. Einige Jahre war er in unserem Haus gewesen,<br />

und hatte zur Zufriedenheit meines Vaters gearbeitet. Er hatte an unserem ganzen Familienleben<br />

teilgenommen und profitierte natürlich auch vom guten Herzen meiner Mutter.<br />

Nun kam der Abschied nach einer so langen Zeit. Seine und unsere Wege gingen nun ins<br />

Ungewisse. Wir alle wünschten ihm von ganzem Herzen Gesundheit und Glück, und daß<br />

er seine Familie in St. Etienne bald wiedersehen möge.<br />

Wir mussten weiter, wohin eigentlich? Genau wussten wir es selbst nicht. Unterwegs<br />

trafen wir Otto Granzow, unseren Verwandten aus Schlawin. Auch er war mit einem<br />

Treck unterwegs. Der Schneestrum wurde immer heftiger. Da es eisig kalt war, wärmten<br />

wir uns noch bei Gastwirt Drews in Kannin etwas auf. Ganz plötzlich stand Heinz-<br />

Günther Jürs vor uns. In <strong>Schlawe</strong> hatten sich die letzten Formationen der Wehrmacht<br />

aufgelöst. Er war uns nachgeeilt und wollte sich weiter mit uns durchschlagen. Sein Ziel<br />

war seine alte Einheit an der Kurlandfront. Unser Ziel sollte der Ostseehafen Stolpmün-<br />

132


de sein, weiter ging es ja nicht, unser Tagesziel war Pustamin. Wir hofften auf ein warmes<br />

Quartier bei der befreundeten Familie Trapp.<br />

Es war nicht leicht, ca. 25 Personen unterzubringen. Die Dörfer an den Straßen zur Ostseeküste<br />

waren überlaufen. Ich fuhr mit meiner Cousine und ihrem Mann voraus, um<br />

unser Quartier bei Trapps vorzubereiten. Es war eine furchtbare Fahrt. Eisiger<br />

Schneesturm peitschte uns um die Ohren, die Straße war spiegelglatt und völlig verstopft.<br />

Treckwagen standen kreuz und quer und versperrten den Weg. Die Fahrräder<br />

rutschten, und jeden Augenblick lag einer von uns auf der Nase. Wir waren erschöpft,<br />

als wir in Pustamin ankamen. Für unseren nachfolgenden Treck war es noch schwerer<br />

gewesen, zum Schneesturm und der Eisglätte kam noch die Dunkelheit. Die Pferde<br />

konnten sich kaum auf den Beinen halten. Kutscher Borchart hatte eine große Verantwortung.<br />

Unsere Alten und die Kinder auf dem Wagen waren sehr geduldig und trotzten<br />

den Gewalten der Natur. Meine Großmutter mit ihren 83 Jahren, sowie Tante Klemz und<br />

meine Mutter, gingen allen mit gutem Beispiel voran. Die älteren Herren waren schon<br />

ungeduldiger. Spät abends landeten wir in Pustamin und Mutter Trapp nahm uns in<br />

Empfang. Die Zimmer wurden verteilt und für das leibliche Wohl war auch gesorgt. Uns<br />

ging es nun so, wie Millionen anderen deutschen Menschen aus den Ostprovinzen unseres<br />

Reiches. Haus und Hof verlassen, waren wir auf der Flucht. Je<strong>des</strong> Gebäude war bis<br />

unter das Dach belegt. Menschen aus <strong>Schlawe</strong> und dem ganzen Kreis drängten sich hier<br />

zusammen. Der 6. März 1945, der erste Tag mit großen Strapazen, hatte hier in Pustamin<br />

sein Ende gefunden. Wir beruhigten unsere aufgepeitschten Nerven mit einem französischen<br />

"Benediktiner". Diese edle Flasche gehörte meinem Bruder. Unsere Mutter<br />

hatte sie wie ein Kleinod gehütet, für den nächsten "Heimaturlaub". 'Bis hierher und<br />

nicht weiter, sagten wir uns, jetzt musste sie daran glauben. Der Russe hätte diesen guten<br />

Tropfen doch nicht zu schätzen gewusst. Todmüde sanken wir alle auf unser hartes, aber<br />

warmes Lager.<br />

7. März, Mittwoch<br />

Für uns verlief die Nacht ruhig, man hörte nur die nicht abreißenden Trecks und die<br />

letzten, versprengten Wehrmachtseinheiten draußen auf der Straße. Am Morgen versuchten<br />

wir nochmals, unsere jungen Frauen und Kinder die 18 Kilometer nach Stolpmünde<br />

auf den Weg zu bringen. Ohne Erfolg, die Straße war restlos blockiert. Nur höhere<br />

Militärs und Parteiführer wussten, dass die Marine noch pausenlos Tag und Nacht im<br />

Einsatz war, um die Flüchtlinge aufzunehmen. Von dieser Tatsache wurde hier im Dorf<br />

nur gemunkelt. Dem "Volk" wurde es verschwiegen, um eine Panik zu vermeiden.<br />

Stolpmünde wäre gestürmt worden. Es war ein offenes Geheimnis, daß "maßgebliche<br />

Leute" ganz still und heimlich verschwanden, und natürlich noch die rettenden Schiffe<br />

erreichten. Eigennutz ging vor Geimeinnutz, nicht umgekehrt, wie es lange gepredigt wurde. In<br />

dieser Beziehung gab es wenig schöne Begebenheiten.<br />

H.-G. Jürs musste sich hier endgültig von uns verabschieden, er nahm Abschied von<br />

seiner Frau und seiner kleinen Tochter Gudrun, es war ein Abschied für immer. Ursel<br />

Jürs, geb. Klemz, wurde ein Opfer dieser wilden Zeit. Ihrem Mann gelang es, sich nach<br />

Danzig-Gotenhafen durchzuschlagen. Hier wurde er verwundet und kam per Schiff nach<br />

Dänemark. Im Juni 1945 wurde er nach Flensburg entlassen. Diese Stadt, und die<br />

Schwester meiner Tante, Frau Anni Lühr, waren unser Ziel, falls wir unsere Heimat ganz<br />

verlassen mussten, bzw. im Falle eine Verschleppung oder Versprengung. Jeder von uns<br />

hatte diese Anschrift im Kopf. Unsere zweite Not-Adresse war der alte Freund unserer<br />

Familie, Leo Kämmerer in München-Gräfelfing. Auch diese Anschrift saß jedem von<br />

uns fest im Gedächtnis. Dorthin erwarteten wir auch eine Nachricht meines Bruders,<br />

wenn er noch lebte. Wir vermuteten ihn in russischer Gefangenschaft. So ging der 7.<br />

133


März 1945 zu Ende und wir verbrachten die zweite Nacht in unserem Massenquartier.<br />

Auf der Straße war jetzt Ruhe. Wir hörten in der Ferne, Richtung <strong>Schlawe</strong>, Gewehrfeuer<br />

und das Knattern von Maschinengewehren. Brände flammten auf und erhellten den<br />

nächtlichen Himmel. Mit bangem Herzen dachten wir an unsere Stadt. Hier tobte jetzt<br />

sicher die russische Soldateska! An Schlaf war nicht zu denken, die Gedanken kreisten<br />

ruhelos. Vereinzelte deutsche Landser, die versuchten, sich in Zivil in Sicherheit zu<br />

bringen, berichteten uns, dass russische Truppen bereits in <strong>Schlawe</strong> einmarschiert seien.<br />

Unser großer Wagen stand auf der Straße vor dem Hause. Den Ziehwagen mit unseren<br />

Koffern hatte ich auf den Hof gestellt. „Doppelposten“, die sich alle zwei Stunden ablösten,<br />

bewachten beide Wagen. Mein Vater hatte plötzlich in der Nacht Alarm geschlagen,<br />

er wollte durch das Fenster russische Reiter auf der Dorfstraße gesehen haben. Waren es<br />

die Nerven, oder hatte er Recht? Keiner wollte es glauben, erst später stellte sich heraus:<br />

Die Beobachtung war richtig. In der Dunkelheit hatten reitende russische Vorposten<br />

unser Dorf erreicht und bereits hinter sich gelassen. Von wenigen gesehen - von wenigen<br />

gehört. Unsere Wagenwache war verblüfft. Tante und Cousine hatten wohl Reiter vernommen,<br />

aber nicht geahnt, dass es Russen waren.<br />

8. März, Donnerstag<br />

Morgengrauen, 04:15.<br />

Es war soweit: die "Befreier" waren da!<br />

Alles war wach und angezogen. Unzählige Male war es mir als Soldat gelungen, der<br />

russischen Gefangenschaft zu entgehen. Nun, als Zivilist und Urlauber wurde ich<br />

gezwungen, mich zu ergeben, mit Flaut und Haaren. Durch das offene Fenster drang<br />

lautes Stimmengewirr. Ich schaute hinaus, sah ein dunkles Menschenknäuel auf der<br />

Dorfstraße, das sich auf uns zu bewegte. Ich vernahm die ersten russischen Laute. Im<br />

Hause wartete alles mit höchster Spannung. Als die ersten Gewehrkolben die Haustür<br />

bearbeiteten und eine laute Meute sich gewaltsam Eintritt verschaffte, stand auf unseren<br />

Gesichtern der Ausdruck von Schrecken und Angst. Frau Künkel mit beiden Kindern,<br />

meine Schwester Brigitte und ich standen ganz dicht beieinander, unsere Eltern kamen<br />

zu uns ins Zimmer. Keiner sprach ein Wort, wir wechselten nur Blicke, die kleinen Kinder<br />

weinten.<br />

Unten im Laden waren die Russen schon eingedrungen. Mit großem Krach und Gepolter<br />

wurde alles durcheinander gewühlt und auf den Kopf gestellt. Die Plündere! war in vollem<br />

Gange, man suchte vor allem nach „Schnaaaaaaps“. Vielleicht war es ganz gut so,<br />

dadurch wurden sie von uns etwas abgelenkt. Ein russischer Offizier mit seinem Burschen<br />

polterte die Treppe hinauf. Die Türe wurde aufgerissen und wir blickten in die<br />

Läufe geladener Pistolen. „Hände hoch! Hände vorgestreckt!“ Blitzschnell wechselten<br />

Uhren und Ringe ihre Besitzer, und ganz schnell waren die beiden wieder verschwunden.<br />

Sie gehörten zur Kampftruppe, die sehr eilig der nahen Ostseeküste entgegenstrebte.<br />

Dann kam eine Weile garnichts, und was dann kam, war vom Übel. Die Formationen,<br />

die jetzt nachrückten, waren disziplinlose, meistens betrunkene Plünderer, Frauenjäger<br />

und Uhrendiebe. Wir hatten noch großes Glück, denn zwei ältere, sehr vernünftige russische<br />

Soldaten waren abkommandiert, unser Haus, das größte Lebensmittelgeschäft in<br />

Pustamin, zu bewachen. Es waren rühmliche Ausnahmen <strong>des</strong> Mobs, der jetzt hier im<br />

Dorfe sein Unwesen trieb. Zwei Männer, die zu Hause auch Frauen und Kinder hatten,<br />

über die das furchtbare Kriegsgeschehen hinweggebraust war. Sie konnten natürlich<br />

nicht verhindern, dass immer wieder höhere Dienstgrade, vor allem Offiziere, uns im<br />

Maus belästigten. Uhren, Uhren, Uhren, immer wieder Uhren wurden von uns verlangt.<br />

Das berüchtigte „Uri, Uri!“ wurde zu einem Begriff, und klang uns dauernd in den Ohren.<br />

Tausend Stück wäre man losgeworden, die Gier der Russen nach diesem Artikel war<br />

134


unersättlich. In erster Linie Armbanduhren, aber auch Wand-, Stand- und Taschenuhren.<br />

Alles, was „Tick-Tack“ machte, wurde eingeheimst.<br />

Unser großer Wagen vor der Tür wurde lautstark geplündert, was man nicht gebrauchen<br />

konnte, schmiss man in den Straßendreck. Hunger hatten diese Burschen nicht, denn<br />

Lebensmittel zertrampelte man auf dem Boden. Unser Ziehwagen auf dem Hof war nicht<br />

so interessant, man zerstach mit Bajonetten lediglich die Koffer.<br />

Der Inhalt war zur Zeit noch nicht beachtenswert. Meinem Vater nahm man die Brieftasche,<br />

die Geldscheine wurden zerissen und ihm in das Gesicht geworfen: „Kapitalistenschwein!“<br />

Meine Uhr hatte man natürlich auch, in der Aufregung hatte ich vergessen, sie<br />

verschwinden zu lassen: Es wäre doch nutzlos gewesen!<br />

Ein besonderes Stück in Gold drückte ich in die Erde eines Blumentopfes, dieses Stück<br />

wäre mir sonst zum Verhängnis geworden. Alles, was um uns russisch war, taumelte hin<br />

und her. Ein halbvoller „Iwan“ holte eine Flasche Rotwein aus der Tasche, misstrauisch<br />

mussten erst alle deutschen Männer einen Schluck trinken. Als er sah, daß keiner tot<br />

umfiel, schüttete er den eiskalten Inhalt wie ein durstiges Tier in sich hinunter. Später<br />

lag er fast besinnungslos vor der Haustür. Ein junger Offizier durchsuchte meinen Onkel,<br />

die Beute war eine goldene Taschenuhr, ein Erbstück seines Vaters. Alles ging dahin;<br />

wer sein Leben behalten wollte, musste viel Geduld aufbringen und mit geballter<br />

Faust in der Tasche Ruhe bewahren. Bis jetzt hatten wir in unserem Haus keine Toten zu<br />

beklagen, und das war ja wohl das Wichtigste. Bisher war auch keine unserer Frauen<br />

vergewaltigt worden. Es waren bislang nur irdische Güter, von denen wir „befreit“ wurden.<br />

Von größerem Unheil blieben wir dank unserer Posten verschont.<br />

Im Hause nebenan hatte man an diesem Vormittag <strong>des</strong> 8. März den Ortsbauernführer<br />

erschossen. Wir hörten Menschen schreien, die furchtbar geschlagen wurden. Aus Ställen<br />

und Scheunen holte man deutsche Landser heraus, die sich dort versteckt hatten. In<br />

den Häusern gegenüber trieb man Frauen zusammen, sperrte sie in Keller, um sie nachts<br />

zu vergewaltigen. Ehemalige polnische Landarbeiterinnen durchstöberten unseren großen<br />

Wagen, sie nahmen mit, was sie tragen konnten. Zwei unserer Frauen vertrieben<br />

dieses Gesindel. Angelockt von diesem Palaver, kam ein russischer Offizier hinzu, der<br />

die Polinnen in Schutz nahm. Von diesen Frauen aufgehetzt, stürmte er wutentbrannt in<br />

unser Haus. Er suchte unsere zwei Frauen und wollte sie erschießen, sie hatten sich versteckt,<br />

und kamen Gott sei Dank mit dem Schrecken davon. Unser Haus stand jetzt auf<br />

der Schwarzen Liste. Wer für diesen Zwischenfall büßen musste, war ich. Derselbe Offizier<br />

griff mich heraus und trieb mich mit Peitschenhieben auf die Straße. Hier standen<br />

schon ca. 30 Deutsche, ältere Männer zum Abmarsch bereit. Zwei voll trunkene Soldaten<br />

führten uns ab und „bewachten“ uns. Wurde ich das erste Opfer unseres Trecks? Es<br />

war kein schönes Gefühl, verschleppt zu werden, auch kam es in diesen Stunden um eine<br />

Liquidierung mehr oder weniger nicht an. Ich hatte mich zwar mit meinem Los abgefunden,<br />

aber merkwürdig schnell fand ich meine Fassung wieder. In dieser Situation bewegte<br />

mich nur ein Gedanke: Flucht! Die einzige Befürchtung, dass es mir nicht gelingen<br />

würde, war mein Bein, denn ich ging ja am Stock und die Verwundung machte mir immer<br />

noch Kummer. Ach, hätte ich nur meine gesunden Glieder, mit mir hätten sie es<br />

nicht so leicht gehabt, aber so war Vorsicht am Platze.<br />

Man trieb uns ab wie eine Herde Vieh. Das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett in<br />

der Hand, torkelten die betrunkenen Russen als Bewacher neben uns her. Man durfte<br />

trotzdem diese Burschen nicht unterschätzen, in dem Zustand waren sie unberechenbar.<br />

Wohin trieb man uns nun? Die letzten Häuser von Pustamin hatten wir erreicht. Die<br />

Soldaten verprügelten gerade einen Deutschen und schlugen mit den Gewehrkolben auf<br />

ihn ein. Ich nahm an, er hatte die gleichen Absichten wie ich und war dabei erwischt<br />

135


worden. Als Jüngster in dieser Herde nutzte ich diese Gelegenheit geistesgegenwärtig<br />

aus. Ich lief links aus der Kolonne heraus und stand auf dem Hof eines Bauernhauses.<br />

Die prügelnden Bewacher hatten nichts gemerkt. Meine Erregung war groß, ich zitterte<br />

am ganzen Körper. Meine erste Flucht war mir geglückt, noch viele sollten folgen. Meine<br />

Leidensgenossen in der großen Herde marschierten nun ab. Wohin? Kein Mensch<br />

wusste es. Der Bauer hatte am Fenster alles beobachtet. Ich wollte in sein Haus bis die<br />

größte Gefahr vorbei war. Er ließ mich aber nicht hinein, die Angst war zu groß.<br />

Vielleicht hätte ich auch die vielen Menschen gefährdet, die hier in dem Haus Zuflucht<br />

gesucht hatten. Über schneebedeckte Felder, Gärten und Zäune schlug ich mich zu meinen<br />

Angehörigen durch.<br />

Meine Mutter schloss mich glücklich in die Arme und war froh, dass ich wieder bei ihr<br />

war. Der ersten Verschleppung war ich entgangen, aber die Gefahr weiterer Verhaftungen<br />

bestand immer. Die nächste Hürde ließ auch nicht lange auf sich warten. Zwei Offiziere<br />

erschienen, man suchte Opfer, das Hauptaugenmerk lag natürlich auf jungen Leuten.<br />

Ich war 24 Jahre alt und meine schwere Beinverwundung sah mir ja keiner äußerlich<br />

an. Als sie in unser Zimmer traten, lag ich angezogen auf dem Bett. Mit ein paar russischen<br />

Brocken versuchte ich ihnen klar zu machen, dass ich ein schlimmes Bein hatte.<br />

Sie sahen meinen Stock und tuschelten miteinander. Ich entnahm der Unterhaltung das<br />

Wort „Prothese“. Sie waren also der Meinung, ich hätte ein künstliches Bein. Somit war<br />

ich für sie uninteressant und vor allem „ungefährlich“. Sie verschwanden, Eltern und<br />

Schwester atmeten auf.<br />

Eine Aufregung löste die andere ab. Die „Befreier“ befreiten uns nicht nur vom Faschismus,<br />

sie spielten jetzt alle ihre Trümpfe aus. Belästigungen folgten am laufenden<br />

Band. Betrunkene Gruppen zogen von Haus zu Haus, sie fuchtelten mit Pistolen und<br />

Gewehren herum, räuberten und plünderten nach Herzenslust. Nur Mut und eiserne Ruhe<br />

konnten uns vor dem Schlimmsten bewahren. Einer unserer tapfersten Frauen versagten<br />

die Nerven. Sie hatte Schlaftabletten genommen, die wir für den schlimmsten Fall<br />

alle bei uns hatten. Nur durch festes Zugreifen und schneller Hilfe einer anderen Frau<br />

wurde Schlimmeres verhütet. Mein Vater plagte sich mit Magenkrämpfen, auch er hatte<br />

von dem Gift genommen, aber zur rechten Zeit kam auch hier Hilfe. Alles Nervensache,<br />

aber gerade jetzt hätte ein Opfer in unserer Gemeinschaft den anderen das Los nicht<br />

leichter gemacht. Mein Vater gab mir das Versprechen durchzuhalten, er war aber von<br />

der Aussichtslosigkeit <strong>des</strong> Weiterlebens schon in diesen Stunden überzeugt. Vielleicht<br />

hat er geahnt, was ihm noch bevorstand.<br />

Auf der Straße draußen vollzog sich der russische Vormarsch. Truppen aller Waffengattungen<br />

zogen vor unseren Augen vorüber. Ich entsann mich einer Verlautbarung, die im<br />

Winter 1941/42 an der Ostfront verlesen wurde und lautete:<br />

„Soldaten der Ostfront! Die russischen Armeen sind zerschlagen, ihr kämpft nur<br />

noch gegen Greise und Kinder!“<br />

Nun, im März 1945 marschierten die „Greise und Kinder“ hier an uns vorüber. Nicht nur<br />

ich war erstaunt über das gute Menschenmaterial, das wir in den Reihen der russischen<br />

Armee bewundern konnten. Die Greise hatte man inzwischen ausrangiert, und die Kinder<br />

waren zu Kämpfern herangewachsen. Nach Angst und vielen Aufregungen, nach<br />

allem Erlebten, gab es eine schlaflose Nacht, der noch viele folgen sollten.<br />

9. März,Freitag<br />

Es wäre unklug gewesen, weiterhin in Pustamin zu bleiben, denn das Dorf lag jetzt an<br />

einer Vormarschstraße zur Küste. Wir entschlossen uns, nach <strong>Schlawe</strong> zurückzukehren.<br />

Unsere Pferde und sogar die Räder waren noch vorhanden. Unser bester Gaul wurde<br />

kurz hinter dem Dorf von Soldaten in einen schlechten umgetauscht. Vor Stemnitz<br />

136


mussten wir eine gesprengte Brücke passieren. Um ein Haar wäre unser großer Wagen<br />

in die Wipper gestürzt. Unsere Oma und die kleinen Kinder mussten ein Stück zu Fuß<br />

laufen. Wir bewunderten unsere Großmutter, die trotz ihrer 83 Jahre alle Strapazen mit<br />

einer geradezu bewundernswerten Ruhe und Tapferkeit überwand. Allen Teilnehmern<br />

dieses Trecks, jung und alt, war sie ein leuchten<strong>des</strong> Vorbild.<br />

Durch das Dorf Stemnitz gab es für uns einen Spießrutenlauf. Die Straße war von ehemaligen<br />

polnischen Landarbeitern übervölkert. Sie trugen weiß-rote Armbinden, als<br />

äußeres Zeichen ihrer Befreiung. Unter russischem Schutz hatten sie Narrenfreiheit im<br />

Umgang mit allem, was deutsch war. Wo sich eine Gelegenheit bot, wurde dem aufgespeicherten<br />

Hass Ausdruck gegeben. Rachedurstig stürmten sie die Bauernhäuser und<br />

alle anderen Gebäude und plünderten sie aus. Treckwagen der durchziehenden Flüchtlinge<br />

wurden angehalten, durchstöbert, und was nicht niet- und nagelfest war, ging mit.<br />

Hier wurde nur ab- und mitgenommen, auch unsere Fahrräder wurden wir los. Als wir<br />

dieses Dorf hinter uns hatten, waren wir froh. Die Straße war immer noch eisglatt, die<br />

Pferde und wir hatten zu tun, uns auf den Beinen zu halten. Frauen und Mädchen hatten<br />

sich in große schwarze Tücher vermummt, sie wollten absichtlich aussehen wie alte<br />

Großmütter. Die vorbeiziehenden Russen dachten sicher auch, hier wäre ein Altersheim<br />

auf der Flucht. Der Glücksstern strahlte noch über uns, bis jetzt war von unserem Treck<br />

noch keine Frau vergewaltigt worden. Nach langem Marsch in der Kälte kamen wir nach<br />

Altschlawe, von diesem Dorf waren es bis zur Stadt noch drei Kilometer. Viele Trecks<br />

waren auf dem Wege nach Hause, nach <strong>Schlawe</strong> und in die Dörfer, die von hier aus<br />

hinter der Stadt lagen. Man traf einige Bekannte unterwegs. Fast alle mit gleichen Ergebnissen,<br />

wie wir sie gehabt hatten. Einige Familien beklagten bereits Verluste. Die<br />

Männer waren verschleppt, und die Frauen hatten arg zu leiden gehabt.<br />

Auch hier in Altschlawe trieben Russen und Polen ihr grausames Spiel. Uns zog es daher<br />

zurück in unsere Stadt, wir wollten wieder in unser Haus, wo wir hingehörten. Viele Wagen<br />

kamen aber wieder zurück aus Richtung <strong>Schlawe</strong>. Am Stadtrand hatte man sie gewarnt,<br />

noch nicht in und durch die Stadt zu fahren, der Aufruhr hatte sich noch nicht<br />

gelegt. Unser zweites Pferd wurde von polnischen Zivilisten ausgetauscht, auch wir<br />

kehrten wieder um, und blieben in Altschlawe. Auf dem Bauernhof eines Kunden meines<br />

Onkels bekamen wir Quartier. Die Bauersleute waren auch gerade von der Flucht<br />

zurückgekommen. Sie nahmen uns sehr herzlich auf, denn sie wussten wie es uns allen<br />

erging - aus eigener Erfahrung. Von allen Seiten hörte man, dass es noch zu früh war, in<br />

die Stadt zurückzukehren. In <strong>Schlawe</strong> war der Teufel los. Noch mehrere Menschen kamen<br />

ins Haus, in dem wir die Nacht zum Sonnabend, den 10. März, verbrachten. Eine<br />

unruhige Nacht, die unheimlich wurde. Die Bauern, die polnische Landarbeiter beschäftigt<br />

hatten, wurden jetzt von diesen verfolgt. Die Gejagten liefen nachts von Hof zu Hof<br />

und suchten Schutz. Das Rufen und Klopfen ließ uns nicht zur Ruhe kommen. In dieser<br />

Nacht wurde meine Mutter noch dazu von hohem Fieber befallen, anscheinend hatte sie<br />

sich in den letzten Tagen doch zuviel zugemutet. Die psychische Last, die meine Mutter<br />

hier zu tragen hatte, wog schwerer als die physischen Belastungen. Berechtigte Sorgen<br />

um meine Schwester Brigitte und alle anderen Familienmitglieder zehrten an der nervlichen<br />

Substanz einer immer besorgten Mutter.<br />

10. März, Sonnabend<br />

Wir blieben diesen Sonnabend in Altschlawe. Am Abend sahen wir über <strong>Schlawe</strong> einen<br />

hellen Feuerschein. Deutlich erkannte man, dass immer wieder neue Brände aufflammten.<br />

Eine logische Erklärung hatten wir nicht, denn die Kämpfe, sofern man überhaupt<br />

von Kämpfen sprechen konnte, waren seit Tagen<br />

137


vorbei. Brannte unsere Stadt noch oder erneut? Nach dem Feuermeer zu urteilen, konnte<br />

vom <strong>Schlawe</strong>r Stadtkern nicht mehr viel übriggeblieben sein.<br />

In dieser Nacht fanden wir keine Ruhe, oft gingen wir vor die Tür und schauten zu unserer<br />

Stadt, die ja nur drei Kilometer von uns entfernt war. Nachts sahen wir das helle<br />

Feuer und morgens dunkle Rauchschwaden. Schauerliche Eindrücke einer ruhelosen<br />

Nacht .<br />

11. März, Sonntag<br />

Morgens waren wir früh auf den Beinen und sahen bereits einige Treckwagen in Richtung<br />

<strong>Schlawe</strong> fahren. Da es unserer Mutter besser ging, setzten auch wir unsere Fahrt<br />

fort. Die Mutter wollte in ihr Haus zurück, sollte es abgebrannt sein, wollten wir mit<br />

dem Keller vorlieb nehmen und mit neuem Mut anfangen, es wieder aufzubauen. Oft<br />

äußerte die Mutter diesen bescheidenen Wunsch. Die seelische Belastung, anderen Menschen<br />

auf der Pelle zu liegen, war für sie besonders groß. Ja, in aller Welt: Flüchtling<br />

sein, heißt geduldet sein! Kaum hatten wir Altschlawe hinter uns gelassen, da sahen wir<br />

auch schon die erste Heldentat der Befreier. Das Wahrzeichen unserer kleinen Stadt, die<br />

weithin sichtbare St. Marienkirche, war zu einer Ruine degradiert worden. Es fehlte die<br />

Turmspitze, mehr konnten wir im Moment nicht sehen, und wussten auch nicht, ob es<br />

durch Beschuss oder Brand geschehen war.<br />

Rechts und links der Landstraße lagen viele Tote, meistens ältere Männer. Wem hatten<br />

diese wehrlosen Menschen etwas getan? Warum hatte man sie wohl erschossen? Kein<br />

Mensch konnte eine Antwort geben. Niemand wagte es, sich um die Leichen zu kümmern,<br />

wo sollte man mit den Toten denn auch hin in dieser Situation? Russische angetrunkene<br />

Soldaten und polnische Halbzivilisten belebten die Straße. Die Finger am Abzug<br />

ihrer Gewehre und Pistolen: Jeder von uns hatte den Tod im Nacken.<br />

<strong>Schlawe</strong> rückte näher, die ersten Häuser waren schon total verwüstet. Fensterscheiben<br />

zertrümmert, Betten lagen auf der Straße, Möbel waren zu Kleinholz verarbeitet usw.<br />

Voll innerer Spannung, aber auch mit sehr viel Angst fuhren wir in die Stadt hinein. Die<br />

erste Station war das Kreiskrankenhaus. Oberschwester Maria Möller, die graue Eminenz<br />

dieser Anstalt, hatte uns kommen sehen. Tränen der Wiedersehensfreude kullerten.<br />

Kurz schilderte sie uns den Einmarsch der Russen, den sie aber nur aus der Krankenhaus-Perspektive<br />

beurteilen konnte. Aber auch diese paar Sätze genügten uns. Aus erster<br />

Hand erfuhren wir von der Oberschwester die furchtbare Tragödie unseres sehr verehrten<br />

Chefarztes Dr. Schmidt und seiner Familie. Über 30 Jahre war er unser Hausarzt und<br />

Patient meines Vaters gewesen. Wir Kinder waren dem "Onkel Doktor" eng ans Herz<br />

gewachsen. Auf das Tiefste erschüttert, hörten wir nun von seinem schaurigen Schicksal.<br />

Seine Tochter Eva (wie Hanna Reitsch Rekordfliegerin im Segelflug) wurde unzählige<br />

Male von einem russischen Soldaten vergewaltigt. Als sie sich endlich zur Wehr setzte,<br />

wurde sie kaltblütig erschossen. Von dieser grauenhaften und feigen Tat beeindruckt,<br />

verlor Dr. Schmidt seine sonst so eisernen Nerven, die als Operateur oft strapaziert wurden,<br />

er gab seiner Frau, den kleinen Enkelkindern und zuletzt sich selbst eine tödliche<br />

Spritze. In den Mauern <strong>des</strong> <strong>Schlawe</strong>r Krankenhausgelän<strong>des</strong>, seiner jahrzehntelangen<br />

Wirkungsstätte, verlöschte das Leben dieser verehrten <strong>Schlawe</strong>r Arztfamilie. Dr.<br />

Schmidt und seine Angehörigen folgten beiden Söhnen Klaus und Jochen, die ihr junges<br />

Leben bereits auf dem Schlachtfeld verloren hatten. Als einziges Familienmitglied überlebte<br />

Tochter Grete diese Katastrophe.<br />

Ein stilles Gedenken für diesen Arzt und<br />

Menschen, Dr. Erich Schmidt, für seine Familie,<br />

für unsere Freunde, Klaus (Klüsa) und Jochen (Pit)!<br />

138


Wir konnten und durften uns leider nicht länger hier im Krankenhaus aufhalten. Das<br />

ständige Kommen und Gehen von russischen Soldaten und Flintenweibern war beängstigend.<br />

Von einer Bekannten erfuhren wir, dass unser Haus und das Geschäft meines<br />

Onkels abgebrannt seien. Wir hatten mit allem gerechnet, und uns mit allem abgefunden.<br />

Bis jetzt hatten wir noch unser Leben und dies war mehr wert als aller Besitz. Wir fuhren<br />

weiter. Oberschwester Maria, diese mutige Frau, die trotz allem ihren wichtigen Platz im<br />

Krankenhaus nie verlassen hatte, gab uns den dringenden Rat, nicht durch die Innenstadt<br />

zu fahren und uns auch nicht in der Stadt aufzuhalten.<br />

Schwester Maria wusste mehr, als sie uns in diesen paar Minuten sagen konnte. In unserer<br />

Stadt waren furchtbare Dinge geschehen, die vielen Abscheulichkeiten kann ich nicht<br />

näher schildern. Wir fuhren außen herum, denn fast die ganze Innenstadt brannte und<br />

schwelte noch. Vom Krankenhaus die Winterfeldstraße hinunter und rechts in die Thomasstraße,<br />

am Schweinemarkt vorbei in die Hindenburgstraße, hier hatte sich unser<br />

Kreis geschlossen, denn vor ein paar Tagen verließen wir hier die Stadt. Jetzt sahen wir<br />

die ersten ausgebrannten Häuser. Am Rosengarten wurden wir von russischen Soldaten<br />

angehalten. Auf dem Sportplatz nebenan mussten wir mit anderen Männern ein Flak-<br />

Geschütz aufstellen helfen. Für uns unverständlich, denn wir waren ja im Glauben, der<br />

Krieg müsste so gut wie beendet sein. Wir irrten!<br />

Von hier bis zu unserem Grundstück waren es ca. 250 Meter. Verständlich, dass wir<br />

darauf brannten unser Haus zu sehen! Wir wollten doch wenigstens noch in den Keller<br />

ziehen. Wir dachten an die Mahnung der Oberschwester, aber Tante Missen und unsere<br />

Erna fassten Mut und wagten sich in die Schützenstraße vor. Sie hofften von dort aus<br />

etwas sehen zu können. Dieser Spähtrupp wäre beinahe ins Auge gegangen. Aus den<br />

nahen Häusern verfolgten sie zwei russische Soldaten: "Frau komm!" Kreidebleich und<br />

den Schreck in den Gliedern, waren sie wieder schnell bei uns, ohne etwas genau gesehen<br />

zu haben. Was uns blieb, war die Ungewissheit. Es ging weiter, alles war so ungeheuerlich,<br />

aus jedem Haus, das noch erhalten war, witterte man Gefahr. Am Lietzowdamm<br />

brannte es lichterloh, viele Anwesen lagen in Schutt und Asche. Aus dem Finanzamt<br />

schlugen uns noch Flammen entgegen, es musste kurz vorher in Brand gesteckt<br />

worden sein. Für uns alle ein furchtbarer Anblick, unsere kleine Stadt so brennen zu<br />

sehen. Wie mochte es wohl in der Innenstadt aussehen? Zur Rechten blieb der Bahnhof<br />

liegen, scheinbar unversehrt. Am Bahnhofshotel vorbei - wir dachten an unsere Freunde,<br />

die Wirts-Familie Zoske, wo mochten sie wohl in diesem Moment sein? - in die Kösliner<br />

Vorstadt, durch die Unterführung und links in die Straße an der Gärtnerei Lorenz vorbei,<br />

auf das Sägewerk Kusanke zu (meine alte Wirkungsstätte) in die Pollnowerstraße. Durch<br />

die Pollnower Siedlung kamen wir auf die Straße zum Quatzower Berg.<br />

An uns vorüber zogen unaufhörlich die Nachschubkolonnen der Roten Armee. Aus den<br />

Autos schauten asiatische Gesichter zu unseren Frauen. Ein Glück für uns, daß sie keine<br />

Zeit hatten, denn für sie ging es noch voran.<br />

Als wir das Stadtende erreicht hatten, waren wir froh. Ein unheimlicher Eindruck blieb<br />

in uns zurück.<br />

Unser Nahziel hieß jetzt Marienthal, hier hofften wir wieder auf eine Unterkunft bei<br />

bekannten Bauern. Man freute sich schon auf eine warme Stube, vielleicht auf einen<br />

Teller Suppe oder ein warmes Getränk. Der lange Marsch auf den schlammigen Straßen,<br />

die Aufregungen und Ängste, die Eindrücke in unserer brennenden Stadt hatten uns abgestumpft.<br />

Das Dorf Marienthal, früher ein sehr beliebter Ausflugsort für viele <strong>Schlawe</strong>r<br />

(Gasthaus Moews „Zur Filzlaus“), hier wurde im Winter gerodelt und bis hier auf dem<br />

Holzgraben mit Schlittschuhen gelaufen, hier hatten wir oft unseren Schulfreund<br />

139


Jürgen Rätzke 52 besucht, jetzt mussten diese schönen Bilder schauerlichen Impressionen<br />

weichen. Fast je<strong>des</strong> Gehöft stand leer. Das noch lebende Viehzeug der Bauern<br />

irrte herrenlos umher. Viele Tiere, meistens Kühe, lagen tot in den Ställen. Die<br />

Marienthaler, die ihr Dorf nicht verlassen hatten, mussten grauenhafte Stunden<br />

hinter sich gehabt haben 53 . Auf einigen Höfen lagen noch die Toten. Eine Kundin<br />

meines Onkels kam auf uns zu und schilderte uns, wie ihr kranker Sohn von einem Russen<br />

angeschossen wurde, und wie derselbe Soldat Sekunden später vor ihren Augen ihre<br />

einzige Tochter vergewaltigte und vieles andere mehr. Es war grässlich, was wir hier<br />

sahen und hörten. Diese Mutter hatte uns unter vielen Tränen die Wahrheit gesagt. Ein<br />

kleiner Bruchteil von Abscheulichkeiten, die sich in diesem einen Dorf nahe unserer<br />

Stadt abgespielt hatten.<br />

Es war gut, dass wir weiterfuhren, hier konnten wir nicht bleiben, alle unsere Treck-<br />

Teilnehmer waren aufs Tiefste erschüttert. Wir benutzten nun die Straße nach Quäsdow.<br />

Weit und breit war auf dieser Nebenstraße kein Russe zu sehen, beruhigend nach dieser<br />

Pause in Marienthal. Unsere Ersatzpferde hatten Prächtiges geleistet. Nach verhältnismäßig<br />

guter Fahrt erreichten wir am Spätnachmittag dieses Sonntags das Dorf Quäsdow.<br />

Bei einer bekannten Bauersfrau baten wir um ein warmes Getränk. Zwischen der Küche<br />

eines deutschen Bauernhauses und einem Müllhaufen gab es keinen Unterschied mehr.<br />

In der Quäsdower Siedlung, etwas außerhalb <strong>des</strong> Dorfes in Richtung Suckow, verteilten<br />

wir unseren Treck auf zwei Gehöfte. Diese lagen mit etwa fünf anderen Häusern abseits<br />

der Straße. Unsere Familie wohnte auf der einen, Familie Klemz mit ganzem Anhang<br />

gegenüber auf der der anderen Seite. Ein paar Stunden vor uns war die Bäuerin und ihre<br />

Mutter mit ihrem Treck wieder auf den Hof zurückgekehrt. Obwohl wir ihr keine Unbekannten<br />

waren, verfinsterte sich ihr Antlitz, als sie hörte, dass wir bei ihr einkehren wollten.<br />

Es blieb ihr aber nichts anderes übrig, als uns aufzunehmen. Todmüde bereiteten wir<br />

in der kleinen Dachstube unser Lager und fanden die verdiente Nachtruhe.<br />

Wir wussten noch nicht, dass für Wochen und Monate dieses Siedlungshaus unser<br />

Zwangsaufenthalt bleiben würde. Wer glaubte, wir hätten bis hierher das Schlimmste<br />

überstanden, irrte sich. Wir ahnten natürlich auch nicht, dass dieser Ort einmal zum<br />

Ausgangspunkt unserer Familientragödie werden sollte.<br />

Die süßsaure Miene unserer Bauersfrau, als wir höflich um Aufnahme gebeten hatten,<br />

gab uns zu denken. Wo sollten wir aber hin, in der Stadt zu bleiben, wäre unmnöglich<br />

gewesen und die Dunkelheit war angebrochen und die kleinen Kinder und alten Leute<br />

unseres Trecks konnten in der Kälte nicht draußen kampieren. Die Bäuerin selbst war<br />

wenige Tage und Stunden vorher in der gleichen Lage gewesen, und musste auf ihrer<br />

Flucht auch andere Menschen in Anspruch genommen haben. Jetzt konnte sie sich<br />

glücklich schätzen, dass sie auf ihren eigenen Besitz zurückkehren durfte. Auch dieses<br />

kleine bäuerliche Anwesen war zwar nicht von Plünderungen verschont geblieben, aber<br />

im Vergleich mit anderen Dörfern und den Häusern in der Stadt war nichts besonderes<br />

passiert. Diese Frau wusste das große Glück nicht zu schätzen. Wir zwängten uns in den<br />

kleinsten Raum auf dem Boden und waren sehr dankbar, ein Dach über dem Kopf zu<br />

haben. Sie hatte ihr Bett, ihr Viehzeug fast noch vollzählig, versteckte Vorräte in reichem<br />

Maße, ich möchte sagen: soviel, dass unsere Familie (Vater, Mutter, Oma, Brigit-<br />

52 Sohn <strong>des</strong> Lehrers Ernst Rätzke.<br />

53 Siehe dazu: MICHAELIS, E.H. v., Kirchspiel Quatzow, Kr. <strong>Schlawe</strong> in Pommern,<br />

Siegen 1990, dort ist das Dorf eingehend beschrieben.<br />

140


te, Erna und ich) mit sechs Personen auch noch satt geworden wäre. Unser Vorrat an<br />

Lebensmitteln ging zur Neige. Der klägliche Rest wurde sehr langgestreckt. Wir waren<br />

zu bescheiden, vielleicht auch noch zu stolz, die Bäuerin und ihre Mutter um dieses oder<br />

jenes zu bitten. Die Bettelei lag uns nicht, und als unser Brot zu Ende ging, blieben uns<br />

nur die Kartoffeln. Auch um diese mussten wir noch eifrig feilschen. Wir stippten sie ins<br />

Salznapf und aßen uns satt. Morgens - mittags - abends. Bauersfrau und Mutter waren<br />

sehr "fromme" Menschen. Ihre Religiosität stand leider in paradoxem Gegensatz zu ihrem<br />

Leben. Die Erfahrung hat gezeigt, welch ein gewaltiger Unterschied zwischen<br />

Frömmigkeit und Güte besteht. Das Verhältnis eines Menschen zu Gott hängt nicht davon<br />

ab, wieviele Choräle er am Tage singt, oder wieviele Gebete er spricht. Hier in diesem<br />

Hause wurde zuviel gesungen und gebetet. Darf man vor und nach jeder Mahlzeit<br />

den Allmächtigen anrufen, ihn um Schutz und Hilfe vor den bösen Menschen bitten,<br />

wenn man sich selbst an einen gefüllten Tisch setzt und seelenruhig zuschaut, wie im<br />

gleichen Raum sechs Menschen trockene Kartoffeln in Salz tunken? Darf man stundenlang<br />

lautstark in der Bibel lesen und den vielgepriesenen Spruch über die Nächstenliebe<br />

außer acht lassen: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (2. Mos. 19,18)!"?<br />

Ich bin nicht fromm und glaube auch nicht an den Moses-Spruch, aber uns bluteten<br />

manchmal unsere Herzen, wenn man uns Kleinigkeiten verwehrte, wir aber zusehen<br />

mussten, wenn der tägliche Besuch unerbetener Gäste in Gestalt russischer Mannsbilder<br />

mit Schinken, Würsten, Schmalztöpfen usw. das Grundstück wieder verließ. Mutter und<br />

Tochter, noch Besitzerin dieses Hofes, waren aus Holz geschnitzt, und dieses Holz war<br />

hart.<br />

Nicht an die Güter hänge dein Herz,<br />

Die das Leben vergänglich zieren.<br />

Wer besitzt, der lerne verlieren!<br />

Wer im Glück ist, der lerne den Schmerz!<br />

12. - 16. März, Montag - Freitag<br />

Hier in Quäsdow verlief ein Tag wie der andere. Sorgen machten uns nach wie vor die<br />

Russen und die Mühe um das tägliche Brot. Je größer die Not, je näher die Rettung. Ich<br />

machte mich so gut ich es konnte auf dem Hofe nützlich, Holzhacken, Ställe säubern<br />

usw., an Arbeit fehlte es nicht, auch mein Vater half tüchtig mit. Als Anerkennung erhofften<br />

wir für uns ein paar Kartoffeln, sie waren reichlich vorhanden. In vielen<br />

Schlupfwinkeln stieß ich auf versteckte Lebensmittel.<br />

Die Bauersfrau wusste nicht mehr, wo sie alles verborgen hatte. Hier lag Speck unter<br />

dem Holz, und dort Marmelade unter dem Unrat, Wurst im Stroh und Weckgläser unter<br />

Briketts und Kohlen. Ich witterte jetzt überall diese Kostbarkeiten, die für uns jetzt lebenswichtig<br />

waren. Mit Mühe und Not hielten wir uns über Wasser.<br />

17. März, Sonnabend<br />

Am 17. März verlebten wir in unserem kleinen, stillen Kämmerlein den 54 jährigen Geburtstag<br />

meiner Mutter. Ein trauriger Geburtstag, aber wir ertrugen ihn mit Fassung. Ich<br />

hatte lediglich eine kleine Sonderration „organisiert“, die wir heimlich in unserem Zimmer<br />

verzehrten. Ja, sonst war der Ehrentag unserer lieben Mutter nicht ein Tag wie jeder<br />

andere, aber hier hatte jeder Tag seine eigene Plage. Man konnte ihn wirklich erst am<br />

Abend loben, denn morgens wussten wir noch nicht, was uns bevorstand. Mit der Zeit<br />

hatten die russischen Soldaten in der Umgebung auch unsere Gehöfte abseits der Straße<br />

entdeckt. In alten Kutschwagen machten sie die ganze Gegend unsicher und stöberten<br />

alle Häuser durch. Sie stahlen, was an den schmutzigen Händen kleben blieb, egal, ob<br />

sie es gebrauchen konnten oder nicht. Nach den Plünderungen peitschten und schlugen<br />

141


sie auf alles, was ihnen gerade in den Weg kam. Frauen trieb man zusammen und nahm<br />

sie mit in russische Unterkünfte, hier vergewaltigte man sie und ließ sie wieder laufen.<br />

So ging es Tag für Tag. Nachts hatten wir bis jetzt noch Ruhe, denn die Russen hatten<br />

immer noch Angst vor versprengten deutschen Soldaten, die vereinzelt in den Wäldern<br />

vegetierten. Bei manchen Bauern klopften sie nachts und baten um Essen.<br />

Unser größtes Augenmerk galt natürlich unseren Frauen. Wir paar Männer mussten sie<br />

schützen und ihnen helfen. Wir alle waren in einem dauernden Alarmzustand. Schon<br />

ganz früh morgens hieß es: „Augen auf!“ Unser Signalsystem funktionierte ausgezeichnet.<br />

Von einem kleinen Dachfenster konnte man Straße und Gelände einsehen. Hier saß<br />

unsere Großmutter und hielt Ausschau, den gleichen Posten im Hause gegenüber hatte<br />

„Onkel Alla“ übernommen. Sowie sich in der Ferne etwas regte oder verdächtig näherte,<br />

gaben unsere Wachtposten sofort Alarm. Die Kutschwagen konnte man leicht erkennen,<br />

und mit solchem Gefährt kam nie etwas Gutes. Sofort verschwanden alle jungen Frauen<br />

in ihre Verstecke. Diese waren von uns vorher gut vorbereitet und jeder wusste, wo er<br />

hinzulaufen hatte. Gegenüber vom Wohnhaus war die große Scheune, unter dem<br />

Schweinestall war mit Bohlen verdeckt ein kleiner Keller- kaum zu sehen, denn auf den<br />

Holzbelag hatten wir schon alles mögliche hingestellt. Im Feld, ca. 50 Meter hinter dem<br />

Haus, war eine unterirdische Höhle, die sonst zum Einlagern von Zuckerrüben benutzt<br />

wurde, auch dieses Versteck war kaum sichtbar.<br />

Unsere Alarmposten waren einmalig, sie wussten sehr gut, was von ihrer Aufmerksamkeit<br />

abhing. Wenn Gefahr drohte, musste alles sehr, sehr schnell gehen. Unsere Manöver<br />

klappten, waren aber begleitet von ständiger Angst.<br />

In wilder Fahrt kamen die Russen auf den Hof, fast immer waren sie angetrunken, sie<br />

schossen wie die Verrückten mit Pistolen und Gewehren um sich, sie waren in ihrem<br />

Rausch unberechenbar, das war für uns die große Gefahr. Unsere rechtlosen Frauen<br />

wurden von ihnen, zum Freiwild degradiert, gejagt. Jeder Sowjet-Soldat hatte den Jagdschein<br />

in seiner Tasche und konnte uneingeschränkten Gebrauch davon machen, wo,<br />

wann und wie er es wollte. Es gab keine russische Obrigkeit, die hier eingriff, und alle<br />

diese bestialischen Abscheulichkeiten untersagte. Um Überraschungen aus dem Wege zu<br />

gehen, verschwand auch ich in einem guten Versteck. Ich hatte mir meine Skepsis bewahrt<br />

und fuhr gut dabei. Ich musste misstrauisch sein und bleiben, denn ich war in dieser<br />

Zeit einer der jüngsten Männer, die überhaupt hier herumliefen.<br />

Ganz überraschend gab es Alarm. In schnellem Tempo näherte sich eine Kutsche. Gerade<br />

noch gelang es unseren Frauen zu verschwinden. Sie waren gegenüber in die Scheune<br />

gelaufen und hatten sich hinter dicken Strohballen versteckt. Vier Russen betraten den<br />

Hof, was wollten sie? Sie suchten Frauen l Angeblich zum „Kartoffelschälen“. Das Haus<br />

wurde durchwühlt, sie kamen auf den Boden, ich lag ein paar Zentimeter unter dem<br />

Dach hinter einem Schornstein, am liebsten wäre ich in ihn hineingekrochen. Ich glaubte,<br />

sie hörten mein Herz schlagen, denn sie waren ganz still und horchten. Sehen konnten<br />

sie mich nicht, wo ich lag war es dunkel und der Schornstein versperrte die Sicht. Sie<br />

verschwanden, ich atmete auf. Hätte man mich gefunden, in den Augen dieser brutalen<br />

Frauenjäger wäre ich ein deutscher Soldat, ein Nazi oder gar ein „SS-Schwein“ gewesen.<br />

Das Gegenteil hätte ich nicht beweisen können und was man mit mir gemacht hätte,<br />

weiß ich nicht. Auf jeden Fall nichts Gutes.<br />

Jetzt suchten sie draußen die Ställe ab, den Keller, den ganzen Hof und noch einmal das<br />

Haus. Ungläubig, dass hier nur „alte Leute“ waren aber keine junge Frau zu finden war.<br />

Diese Burschen gaben nicht nach. Jetzt ging es in die Scheune. Meine Eltern und die<br />

Oma konnten vom Küchenfenster alles beobachten. Mit gefalteten Händen und klopfenden<br />

Herzen bangten sie um meine Schwester, um meine Cousine, um Frau Künkel und<br />

142


die anderen Frauen. Ich konnte von oben durch ein kleines Dachfenster alles mit ansehen.<br />

Die Soldaten kamen wieder heraus aus der Scheune, was passierte jetzt? Hatten sie<br />

drinnen etwas bemerkt? Sie pflanzten ihre Bajonette auf die Gewehre und gingen abermals<br />

hinein. Es fielen Schüsse, drei oder vier. Das Scheunentor war geschlossen, wir<br />

konnten nicht mehr sehen, was sich dort abspielte. Ich wurde beinahe wahnsinnig vor<br />

Erregung. Meine Schwester und ihre Leidensgefährtinnen in akuter Lebensgefahr, man<br />

musste zusehen und konnte nicht helfen. Naßgeschwitzt krabbelte ich aus meinem Versteck<br />

und wagte mich hinunter in die Küche zu meinen Eltern. Alle Augen starrten auf<br />

das Scheunentor, kein Wort fiel. Meine Mutter und die alte Oma weinten, auch sie durften<br />

das Haus nicht verlassen, ein Russe stand vor der Tür und passte auf. Bange Minuten<br />

vergingen. Was geschah in der Scheune? Auch von drüben aus dem Haus wurde alles<br />

beobachtet, denn auch Tante und Onkel sorgten sich um ihre Tochter und die miteingeschlossenen<br />

Frauen. Nach ca. 15 Minuten löste sich die entsetzliche Spannung. Das<br />

Scheunentor öffnete sich, die drei Russen traten heraus. Wütend gestikulierend bestiegen<br />

sie "ihre" Droschke und in wildem Galopp, wie sie gekommen waren, verschwanden sie.<br />

Sie rasten zum nächsten Hof oder zum übernächsten, gerade wie es ihnen passte und wie<br />

die "Herren" Lust hatten, dieses grausame Spiel zu wiederholen. Erst viele Minuten später,<br />

als wir uns überzeugt hatten, dass die Luft wieder rein war, befreiten wir unsere<br />

Frauen aus ihrer Zwangslage. Ganz tief nach unten, so dass sie beinahe erstickt wären,<br />

hatten sie sich ins Stroh gewühlt. Wir hatten Mühe, sie herauszuholen. Sie waren in<br />

Schweiß gebadet, furchterfüllt und sprachlos, der Ausdruck von Angst und Schrecken<br />

stand in ihren Gesichtern, sie weinten. Tränen spülten das Leid fort, genau wie eine herzliche<br />

Umarmung der Mutter, die meine Schwester glücklich in die Arme schloss. Glückselig<br />

war auch die Oma, dass ihrem Enkelkind Unheil erspart geblieben war. Drüben auf<br />

dem Hof dieselben Szenen der Freude. Was hatte sich in diesen Minuten in der Scheune<br />

abgespielt?<br />

Unsere Frauen hatten sich hinter dicken Strohballen tief hinuntergelassen. Die Schüsse<br />

hatten ihr Ziel verfehlt. Der Wunsch der Russen, hiermit die Frauen eingeschüchtert zu<br />

haben, ging Gott sei Dank nicht in Erfüllung. Mit den spitzen Bajonetten stachen diese<br />

Banditen systematisch die Strohballen ab. Die scharfen Waffen zerschnitten das Stroh<br />

und glitten haarscharf an den Frauenkörpern vorbei. Es stockte allen der Atem, die letzte<br />

Beherrschung erstickte alle Regungen und ohne die Fassung zu verlieren, wurden diese<br />

schrecklichen Minuten überwunden. Um ein scheußliches Erlebnis reicher, waren wir<br />

froh, dass diese Schreckgespenster ihre Absichten nicht verwirklichen konnten. Ein kleines<br />

Beispiel dafür, was unsere "Befreier" alles anstellten, um ein paar deutsche Frauen<br />

zum „Kartoffelschälen“ zu bewegen.<br />

Kaum hatten wir uns von diesem Schreck erholt, gaben unsere Posten schon wieder<br />

Alarm. In der Ferne tauchte wieder ein Kutschwagen auf. Großmutter rannte treppauf,<br />

treppab, die stete Sorge um uns alle und besonders um ihr Enkelkind ließ sie nicht zur<br />

Ruhe kommen. Nach den letzten Schreckminuten mieden wir dieses Mal die Scheune.<br />

Wir suchten Zuflucht im Kartofelkeller unter dem Schweinestall. Ich war mit von der<br />

Partie. Vater und Mutter halfen tatkräftig beim Verstecken. Es musste an alles gedacht<br />

werden. Schnell wurde mit den Bohlen alles zugedeckt, und die Säcke und Unrat darauf<br />

verteilt. Es dauerte nicht lange, da hörten wir über uns auch schon die Schritte der russischen<br />

Soldatenstiefel. Sie suchten wieder, wie die Ratten in allen Winkeln. Uns fand<br />

man auch dieses Mal nicht. Noch oft mußten wir in dies Kellerloch flüchten, noch oft<br />

hörten wir über uns russische Laute und Tritte. So ging es nun Tag für Tag von früh bis<br />

spät. So war es nicht nur hier in Quäsdow, so war es in allen Dörfern und Städten unserer<br />

Heimat. Die Jagd war auf: Wir waren Freiwild!<br />

143


19. März, Montag<br />

Meine Mutter, Tante Missen und noch ein paar beherzte Frauen fassten den mutigen<br />

Entschluss, einen „Spähtrupp“ in die Stadt zu unternehmen. Wahrlich, hierzu gehörte<br />

Courage! Mir brannten auch die Sohlen, und furchtbar gerne wäre ich mitmarschiert,<br />

aber für mich und unsere jungen Frauen war das Risiko zu diesem Zeitpunkt noch zu<br />

groß. Auf Umwegen gelangten die Tapferen in die Stadt. Durch das Dorf Marienthal,<br />

das seinerzeit so einen unheimlichen Eindruck auf uns hinterlassen hatte, mussten sie auf<br />

jeden Fall. Hinter dem Dorf hatten sie den Weg am Holzgraben gewählt, dieser war<br />

geschützter und nicht so gut einzusehen, er mündete auf der Holzgrabenbrücke beim<br />

Hotel Roggenbuck, d.h. unmittelbar unserem Haus gegenüber. Es hatte alles ganz gut<br />

geklappt. Meine Mutter erlebte eine freudige Überraschung, denn sie sah unser Haus,<br />

das wir ja alle in Schutt und Asche vermuteten, unversehrt vor sich stehen. Sie wagte<br />

sich auch ganz kurz hinein, da verschlug es ihr allerdings die Sprache. Um jeder Gefahr<br />

aus dem Wege zu gehen, hielten sie sich nicht länger auf. Meine Tante Klemz musste<br />

sich leider mit der bitteren Tatsache abfinden, dass ihr Geschäft (Köslinerstraße),<br />

sowie der gesamte Speicherraum 54 (Husarenstraße), bis auf die Grundmauern niedergebrannt<br />

waren. Auf der einen Seite Freud, auf der anderen Leid, bei<strong>des</strong> wieder einmal<br />

dicht beieinander. Tante Missen war niedergeschlagen, weinend stand sie vor den<br />

Trümmern ihres Hauses und mußte diese erschütternde Nachricht nun meinem Onkel<br />

mit nach Quäsdow bringen. Auch sie hatte in den letzten Tagen das „Leiden ohne zu<br />

klagen“ gelernt. Mit diesen Nachrichten kamen unsere beherzten Frauen von dem kühnen<br />

Unternehmen zurück. Mit großer Bravour hatten sie diesen sich selbst gestellten<br />

Auftrag erfolgreich erfüllt. Sie waren froh, als sie die Stadt wieder verlassen hatten. Für<br />

unseren Onkel Alla war es eine furchtbare Nachricht. Sein Lebenswerk war durch sinnlose<br />

Zerstörungswut vernichtet, das Geschäft, ein Lebensnerv unserer Stadt, in einer<br />

Nacht niedergebrannt. Was er befürchtet hatte, als wir von Altschlawe die Feuersglut am<br />

Himmel sahen, war Wirklichkeit geworden. Onkel Alla war gebrochen, die Narbe blieb,<br />

wenn auch die Wunden heilten.<br />

Nur kurze Zeit weilten die Frauen in der Stadt, aber viele neue und furchtbare Eindrücke<br />

brachten sie mit zurück. Was ihre Augen gesehen hatten, waren makabre Szenen als<br />

Folge <strong>des</strong> hereingebrochenen Chaos, das unsere Stadt über sich ergehen lassen mußte.<br />

Die Bürger, die in den Mauern der Stadt weilten, waren damit beschäftigt, die vielen<br />

Toten auf Leiterwagen zu laden und auf den Friedhof zu bringen. Hier wurden unsere<br />

durch Freitod aus dem Leben geschiedene Freunde und Bekannte in Massengräbern<br />

verscharrt.<br />

Franz Krüger, Ober im Cafe Zöbisch 55 , war zu diesem schaurigen Kommando abgestellt.<br />

Leider war es mir nicht vergönnt, ihn wiederzusehen und zu sprechen. Ich hätte<br />

ihm noch gerne Dank gesagt für viele Freundlichkeiten uns jungen Menschen gegenüber.<br />

Franz hatte immer ein Herz für die Jugend und die Jugend für ihn. Wenn man sich<br />

im Kriege mit Freunden oder Bräuten mal „bei Zöbisch“ traf, servierte uns Franz ohne<br />

Aufforderung immer etwas Besonderes, natürlich in der Kaffeetasse, „damit es nicht so<br />

auffällt!“. Ein Augenzwinkern war unser Dank, manchmal auch ein zu Hause „abgestaubtes<br />

Fläschchen“.<br />

54<br />

Leider scheinen keine Aufnahmen mehr von den Liegenschaften der Familie Klemz<br />

zu existieren<br />

55<br />

Franz Krüger, Oberkellner, Litzowdamm 36<br />

144


Jetzt musste er unter der Aufsicht alter <strong>Schlawe</strong>r KPD-Leute diese furchtbare Arbeit<br />

verrichten. Armer Franz !<br />

Die Zahl der Toten war hoch, nicht minder die Zahl derer, die freiwillig aus dem Leben<br />

geschieden waren. Das Krankenhaus war überfüllt, nicht nur von Kranken, sondern auch<br />

von vielen Frauen, die vergewaltigt worden waren, oder denen der Selbstmord nicht<br />

gelungen war (geöffnete Pulsadern). Erst nach und nach erfuhren wir, was sich alles<br />

zugetragen hatte. Langsam drang die Kunde von den vielen Toten auch zu uns nach<br />

Quäsdow. Der grausame Mord an der Familie Dahnz, die Tragödie der Familie Dr.<br />

Schmidt hatten eine Selbtsmordepidemie in der Stadt ausgelöst. Drei Lehrer unserer<br />

Mittelschule hatten freiwillig den Tod gesucht. Lehrerin Erna Müller, die schon meine<br />

Mutter unterrichtet hatte, mit ihrer Freundin und Kollegin Elisabeth Krebs; Erna Schewe,<br />

eine Verwandte von Eka Maatz, zusammen mit ihrem alten Vater; Lehrer Zedler, ein<br />

guter Pädagoge, wurde von Russen in seiner Wohnung erschossen, als er seine Frau<br />

verteidigte, die vergewaltigt werden sollte. Es war eine lange Reihe von Toten, die den<br />

Einmarsch der "Befreier" in der Stadt <strong>Schlawe</strong> mit- aber nicht überlebten!<br />

Eine Bestätigung für uns, dass wir richtig gehandelt hatten, als wir die Stadt verließen.<br />

Max Hasenbusch, mein guter Freund in den letzten Stunden unserer Heimatstadt, hatte<br />

in seinem Haus in der Kettenhagenstraße seine Schwägerin verteidigt, als auch sie von<br />

russischen Soldaten vergewaltigt werden sollte. Die Kugel der Pistole traf ihn ausgerechnet<br />

in die kranke Lunge. Sein Leiden wurde dadurch so verschlimmert, daß er im<br />

Krankenhaus mit dem Tode rang.<br />

Weiter hörten wir vom Tod der gesamten Familie Tierarzt Dr. Schwarz. 56 Ja,<br />

auch Eva und Ursula, prächtige Mädels und gute Kameraden, hatten nicht überlebt.<br />

Auch hier wurde eine ganze Familie buchstäblich ausgerottet. Die Wirklichkeit schrieb<br />

wahre, blutige Geschichte! Ida Last aus Altwarschow, neun Jahre in unserem Haus tätig,<br />

wählte mit ihrer Familie den Freitod in der Wipper. Dieser Fluss, der nach Rügenwalde<br />

zur Ostsee strebt, hatte viele Menschen, die dem Unheil aus dem Wege gehen wollten, in<br />

sich aufgenommen. Ich kann sie nicht alle namentlich aufzählen und belasse es nur<br />

bei Freunden und Bekannten. Eine Tragödie löste die andere ab. Auch Frau Fenske aus<br />

Berlin (Schwester von Leo Kämmerer, München), eine alte Freundin unserer Familie,<br />

die mit uns auf den Treck ging und seinerzeit im Stadtwald, von innerer Angst getrieben,<br />

zur Familie Steinhorst in den Hästerkaten wechselte, starb hier den Freitod. Vielleicht<br />

hätte sie mit uns überlebt?<br />

Selbst hier hatte es viele Tote gegeben. Uns gegenüber wohnte Schmiedemeister Hermann<br />

Lemm, ein angesehener, ehrsamer Bürger unserer Stadt, ein fleißiger und strebsamer<br />

Handwerksmeister, der keinem Menschen etwas zu Leide getan hatte. Er war beim<br />

Einmarsch der Russen zu seinen Verwandten nach Waldhof ausgewichen. Eines Tages<br />

kam er in die Stadt, um nach dem Rechten zu sehen. Vor seiner Haustür wurde er erschossen<br />

aufgefunden.<br />

Meine Schilderung schöpft nicht die ganze Tragweite der Vorgänge aus, die sich in der<br />

Stadt abspielten. Ich war nicht unmittelbar dabei, und ich möchte sagen: Gott sei Dank!<br />

Nur die markantesten Begebenheiten sind in meiner Erinnerung haften geblieben, weil<br />

ich mich mit vielen Augenzeugen über diese Ereignisse eingehend unterhalten habe.<br />

56 Dr. Hermann Schwarz, Hindenburgstr. 34.<br />

145


20. - 21. März, Dienstag und Mittwoch<br />

Aus Quäsdow fuhr jetzt ab und zu ein Wagen mit Schwerkranken in die Stadt. Das<br />

Krankenhaus, total überfüllt, war der einzige Betrieb, in dem eine Tätigkeit ausgeübt<br />

wurde. Nach dem Tode von Dr. Schmidt bemühten sich zwei oder drei deutsche Ärzte<br />

gleichermaßen um Russen und die vielen Deutschen. Frau Dr. Narius ist mir noch in<br />

guter Erinnerung, dazu die Oberschwester Maria Möller mit einigen ihrer treuen Helferinnen.<br />

Die Vorräte an Medikamenten und Seren waren fast aufgezehrt, und gerade das<br />

Fehlen von Arzneien gegen Infektionskrankheiten sollte sich noch verheerend auswirken.<br />

Bekannte, die aus dem Bereich <strong>des</strong> Krankenhauses in unser Dorf zurückkehrten,<br />

berichteten meinem Vater, dass die russische Kommandatur in <strong>Schlawe</strong> für das Krankenhaus<br />

einen Zahnarzt suchte. Der Name Mielke fiel, weil man wusste, dass mein Vater<br />

irgendwo im Umkreis der Stadt sein musste. Dieses sinnlose Dasein sollte nun aufhören,<br />

denn gerne wollte er wieder in seinem Beruf arbeiten, wenn auch wohl unter nicht<br />

idealen Verhältnissen. Nach reiflicher Überlegung hatten wir uns entschlossen, doch in<br />

die Stadt umzusiedeln, vorerst natürlich nur teilweise. Über die Schwierigkeiten waren<br />

wir uns bewusst. Es gab in der Stadt keinerlei Lebensmittel, weder Brot noch Kartoffeln.<br />

Selbst das Trinkwasser war eine Rarität. In unserem Hause hätten wir sowieso nichts<br />

wiedergefunden, und selbst besaßen wir nichts mehr. Von unserer Bauersfrau hatten wir<br />

nichts zu erwarten, sie ließ sich das Viehzeug lieber von den Russen fortholen. „Wenn<br />

die Not am größten ...“, der Bauer vom Nachbargehöft verkaufte uns ein Schwein von<br />

170 Pfund. Wir hatten das liebe Tierchen jetzt auf unserem Hof, aber keiner war dort,<br />

der es schlachten konnte und wollte. Mein Vater passte („Lieber 50 Zähne ziehen“),<br />

Onkel Alla war Sohn eines Viehhändlers, aber Blut konnte er nicht sehen. Ich sah es<br />

auch nicht gerne, aber aller Augen warteten auf mich. Noch nie in meinem Leben hatte<br />

ich ein Tier getötet, außer in Russland Flöhe, Wanzen und Fliegen. Von allen Seiten<br />

sprach man mir Mut zu, „... halb so schlimm“, „Letzte Rettung“, „... müssen ja was zu<br />

essen haben“, „Muss geschlachtet werden, sonst holt es der Russe“, usw. usw. Mein<br />

Ehrgeiz wurde angestachelt. Ein Pfund Mut ist mehr wert, als eine Tonne Glück, und<br />

wenn man erst den Mut verliert, verliert man auch die Kraft. Mir blieb nichts erspart,<br />

Hunger tut weh, und das Magenknurren all meiner Lieben nötigte mich, die harten<br />

Schläge zu tun. Unsere Erna, ein Mädchen vom Lande, stand mir mit Rat und Tat zur<br />

Seite. Jeden Schlag und jeden Griff, den ich bei dieser blutigen Exekution machen musste,<br />

wurde vorher von ihr angesagt. Dies waren Minuten in meinem Leben, in denen ich<br />

aus einer großen Not heraus über meinen eigenen Schatten sprang. Außergewöhnliche<br />

Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Ich hatte zwar Schweiß auf der<br />

Stirn, aber es war alles gelungen, ich hatte mich hier wirklich selbst übertroffen und es<br />

sei mit gestattet, dass ich an dieser Stelle ein Eigenlob ausspreche. Es ging alles ziemlich<br />

schnell, denn die Faust saß uns im Nacken. Unsere Frauen packten alle zu, sie verstanden<br />

etwas davon, denn es war ja üblich, dass früher "im Hause" geschlachtet wurde.<br />

Zwischendurch gab es einige Male Alarm, Russen erschienen