Sahra Wagenknecht: Ich kriege Mails von Ukrainerinnen, die irrsinnig Angst haben

Sahra Wagenknecht: Ich kriege Mails von Ukrainerinnen, die irrsinnig Angst haben

Die Linken-Politikerin im Gespräch mit der Berliner Zeitung über eigene Irrtümer – und den Versuch, eine neue Friedensbewegung ins Leben zu rufen.

Sahra Wagenknecht fordert im Ukraine-Krieg Kompromissbereitschaft vom Westen und Verhandlungen mit Putin.
Sahra Wagenknecht fordert im Ukraine-Krieg Kompromissbereitschaft vom Westen und Verhandlungen mit Putin.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Das Interview mit Sahra Wagenknecht findet per Telefon statt. In den sitzungsfreien Wochen des Bundestages ist die Linke-Abgeordnete meist im Saarland – oder sie sitzt in Talkshows wie diese Woche bei Markus Lanz. Die 53-Jährige polarisiert mit ihrer Meinung zum Ukraine-Krieg – auch in ihrer eigenen Partei.

Zusammen mit der Publizistin Alice Schwarzer hat sie ein „Manifest für Frieden“ veröffentlicht, in dem Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert wird, auf Waffenlieferungen für die Ukraine zu verzichten und stattdessen mit Putin zu verhandeln. Am kommenden Wochenende soll dafür in Berlin demonstriert werden.

Frau Wagenknecht, demonstrieren Sie am Samstag für die Unterwerfung der Ukraine?

Das ist wirklich ein ganz lächerliches Argument, was immer wieder gegen unser Manifest vorgebracht wird. Es geht nicht darum, dass die Ukraine sich unterwirft. Es geht darum, das Sterben zu beenden, und wenn man das Sterben beenden will, muss man verhandeln. Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse suchen, und man kann vom Gegenüber keine Kompromissbereitschaft erwarten, wenn man selbst keine an den Tag legt. Darum geht es jetzt: ein verhandelbares Kompromissangebot des Westens.

In Ihrem Manifest liest man: Verhandeln heißt, Kompromisse machen auf beiden Seiten. Wie soll denn das aber konkret aussehen? Wer soll auf wen zugehen und wie?

Es gibt ja interessante Aussagen des ehemaligen israelischen Premierministers Naftali Bennett und auch des türkischen Außenministers, die sich ja beide im Frühjahr bemüht hatten, diesen Krieg durch Vermittlung und durch Gespräche zu beenden. Beide haben gesagt, dass sowohl die Ukraine als auch die russische Seite zunächst kompromissbereit waren. Ein Waffenstillstand war in greifbarer Nähe. Verhindert wurde er damals von London und Washington. Weil es immer heißt, Putin wolle gar nicht verhandeln – zumindest im Frühjahr war er offenbar verhandlungsbereit.

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Berliner Zeitung/Markus Wächter
Zur Person
Sahra Wagenknecht sitzt seit 2009 im Bundestag, sie wurde jeweils über die Landesliste Nordrhein-Westfalen gewählt, die sie bei der Wahl 2021 auch anführte.

In ihrer Fraktion ist sie nicht erst seit ihren Aussagen zum Ukraine-Krieg umstritten. Vor der Wahl verübelten ihr viele, dass sie mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ Bewegungen wie Fridays for Future und Black Lives Matter verunglimpfe und damit auch der eigenen Partei schade. Dennoch ist sie nach wie vor eines der prominentesten Gesichter der Partei.

Der Versuch, eine eigene linke Sammlungsbewegung unter dem Namen „Aufstehen“ zu gründen, scheiterte.

Das ist lange her. Heute wirkt Russland keineswegs verhandlungsbereit.

Das muss man ausloten. Und das beginnt damit, etwas anzubieten. Es war immer der Kern des Konflikts, dass es amerikanische Militärbasen und womöglich Raketenstützpunkte auf ukrainischem Territorium gibt. Russland will nicht, dass die Ukraine ein militärischer Vorposten der Vereinigten Staaten wird. Das kann man legitim oder nicht legitim finden, in jedem Fall ist es eine Haltung, die die USA in ihrem Umfeld, etwa in Mexiko, genauso praktizieren würden.

Seit Kriegsbeginn spricht Putin nicht mehr von den russischen Sicherheitsinteressen, sondern davon, die Ukraine zu „entnazifizieren“ und als eigenständigen Staat von der Landkarte zu streichen. Wie könnte auch nur annähernd ein Kompromiss aussehen, der den Namen verdient hat?

Das ist Kriegsrhetorik. Ich fand diese Reden von Putin auch furchtbar, aber Politiker im Krieg, die die eigene Bevölkerung motivieren wollen, das sinnlose Sterben hinzunehmen, reden so. Die Frage der Nato-Mitgliedschaft ist ja eine relativ abstrakte Frage. Nationalistische Erzählungen eignen sich in Kriegen immer besser. Aber wir müssen die Vorgeschichte sehen.

Was meinen Sie?

Es gibt viele, auch westliche Beobachter, die darauf hingewiesen haben, dass es bei diesem Konflikt im Kern nicht um Territorialfragen, sondern um die Nato-Frage geht. Immerhin waren vor dem Krieg 4000 Nato-Soldaten in der Ukraine stationiert, es gab gemeinsame Manöver im Schwarzen Meer. Die russische Führung hat immer gesagt, dass sie das als Bedrohung empfindet. Auch wenn das im Westen viele anders sehen, es wäre klüger gewesen, darauf Rücksicht zu nehmen.

Was also sollte dann zum jetzigen Zeitpunkt verhandelt werden?

Es gibt Dokumente, die dafür sprechen, dass Russland im Frühjahr bereit gewesen wäre, sich hinter die Linien des 24. Februar zurückzuziehen, wenn die Ukraine dafür auf eine Nato-Perspektive verzichtet hätte. Ich finde, man muss zunächst mal ein Angebot machen. Natürlich können Verhandlungen auch scheitern, aber ich finde es unverantwortlich, dass man es noch nicht einmal versucht, sondern immer nur auf Waffen und noch mehr Waffen setzt.

Glauben Sie, es macht Verhandlungen aussichtsreicher, wenn man einseitig, etwa vonseiten der Bundesrepublik, auf Waffenlieferungen verzichtet? Warum geht nicht beides – also Waffenlieferungen vorantreiben und Kompromissbereitschaft zeigen?

Aber bisher gibt es ja von westlicher Seite keine Kompromissbereitschaft. Es gibt immer nur die Ansage, die Russen müssen sich komplett zurückziehen. Punkt. Das kann man sich wünschen. Aber auf dieser Basis wird es keine aussichtsreichen Gespräche geben. Ein Waffenstillstand setzt das Angebot voraus, die aktuelle Frontlinie zunächst einzufrieren. Das heißt nicht, dass man akzeptieren muss, dass diese Gebiete russisch bleiben, sondern es muss dann darüber verhandelt werden, wie ihre Zukunft aussieht. Möglich wäre es, wie nach dem Zweiten Weltkrieg im Saarland, in einem UN-beaufsichtigten Referendum die Bevölkerung zu fragen, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören will.

Sahra Wagenknecht
Sahra WagenknechtMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Der Appell, keine Waffen in die Ukraine zu liefern, macht nur dann ansatzweise Sinn, wenn das russische Militär dann auch mit dem Schießen aufhört. Was würde Putin daran hindern, in dem Fall seinen militärischen Vorteil auszunützen?

Einen Waffenstillstand gibt es natürlich nur, wenn beide Seiten ihm zustimmen. Selbstverständlich geht es nicht darum, dass die Ukraine aufhört und die Russen schießen weiter. Weihnachten war es ja umgekehrt. Da hat Putin einen Waffenstillstand angeboten. Auf den sind die Ukrainer nicht eingegangen, und dadurch gab es ihn dann natürlich auch nicht. Aber mit der Lieferung von immer mehr und immer brutaleren Waffen kommen wir einem Waffenstillstand keinen Schritt näher. Im Gegenteil. Sie führen dazu, das Sterben zu verlängern und wir werden immer tiefer in diesen Krieg hineingezogen. Wir haben mit Helmen angefangen, dann kamen Munition und Flugabwehr, inzwischen sind wir bei Kampfpanzern, und wir reden schon über Kampfjets. Diese Eskalation ist hochgefährlich.

Aber es ist doch Putin, der eskaliert, oder nicht?

Ja, natürlich eskalieren auch Russen, aber es schaukelt sich doch gegenseitig hoch. Ein Krieg wird immer von zwei Seiten geführt. Wir haben gesehen, dass, nachdem im Herbst die Ukraine dank der westlichen Waffenlieferungen gewisse Geländegewinne hatte und dann auch die Krimbrücke angegriffen hat, dann Putin seine nächste Eskalationsstufe gestartet und die Infrastruktur bombardieren hat lassen. Das hatte er vorher nicht getan, und dadurch ist das Leid der Menschen nur größer geworden. Und natürlich gibt es noch viele Eskalationsstufen in diesem Krieg. Ich hielte es für unverantwortlich, sie auszureizen.

Wie meinen Sie das?

Wenn wir jetzt Kampfpanzer liefern, wenn wir möglicherweise Flugzeuge liefern, werden auch die Russen weiter eskalieren. Das ist ein gefährlicher Pfad, den man hier beschreitet. Auf mehr Waffen, auf mehr Munition, auf mehr Kampfstärke, die der Westen bereitstellt, wird auch die russische Seite immer wieder mit mehr Brutalität antworten. Viele Militärs sagen, dass die Russen letztlich die Eskalationshoheit haben. Der Weg, der jetzt eingeschlagen wurde, kostet immer mehr Menschenleben, am Ende wird die Ukraine ein entvölkertes, zerstörtes Land und die Gefahr, dass der Konflikt sich über die Ukraine hinaus ausweitet, ist extrem groß.

Sahra Wagenknecht
Sahra WagenknechtMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Bisher haben knapp 600.000 Menschen Ihre Petition gegen Waffenlieferungen unterschrieben. Wie zufrieden sind Sie mit dieser Resonanz?

Ich bin überwältigt. Ich hätte nicht gedacht, dass wir innerhalb von nur einer Woche eine halbe Million Unterzeichner finden. Das freut mich natürlich sehr, zumal das Echo auf das Manifest in vielen Medien alles andere als sachlich war. Wir wurden beschimpft und mit Hass und Häme überschüttet, und trotzdem haben so viele Menschen sich nicht einschüchtern lassen und unterschrieben. Deshalb bin ich auch optimistisch, dass zu unserer Kundgebung am Samstag um 14 Uhr am Brandenburger Tor viele Tausend Menschen kommen werden, um ein unüberhörbares Zeichen für Frieden, für Verhandlungen statt Panzer zu setzen. Dieses Signal an die Regierung ist dringend notwendig. Nach Umfragen macht sich die Hälfte der Bevölkerung Sorgen angesichts der Entwicklung. Diese Hälfte wird immer ignoriert, und wir wünschen uns, dass die Stimme dieser Menschen endlich so laut wird, dass die Bundesregierung sich nicht mehr über sie hinwegsetzen kann.

Sahra Wagenknecht
Sahra WagenknechtMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Ein Erstunterzeichner ist Ihnen bereits abhandengekommen. Der Politologe Johannes Varwick hat seine Unterschrift zurückgezogen, weil zunehmend Personen mitunterzeichnen, mit denen er nicht genannt werden will und gegen die es keine klare Distanzierung gebe. Er meint damit die Rechtsextremen. Wie werten Sie das?

Ich war erstaunt. Es ist doch klar: Wenn man eine Petition ins Netz stellt und über 500.000 Menschen unterschreiben, dass da auch der eine oder andere dabei ist, dessen Ideologie man nicht teilt. Wir haben mit der Auswahl der Erstunterzeichner deutlich gemacht, mit wem wir die Zusammenarbeit suchen, aber dass eine Petition prinzipiell jeder unterschreiben kann, hätte Herr Varwick eigentlich auch vorher wissen können.

Sehen Sie also keine Gefahr, dass der Protest am Samstag von rechten Extremisten und Populisten instrumentalisiert wird?

Dass Neonazis und Reichsbürger, die in der Tradition eines Regimes stehen, das den schlimmsten Weltkrieg der Menschheitsgeschichte zu verantworten hat, auf einer Friedenskundgebung nichts zu suchen haben, versteht sich von selbst. Wir werden mit unseren Ordnern dafür sorgen, dass rechtsextreme Symbole oder Flaggen keinen Platz haben. Aber natürlich fragen wir niemanden nach seinem Parteibuch und seiner Wahlabsicht. Was ist das für eine absurde Debatte!

Also kein Problem für Sie?

Es werden sehr, sehr viele Menschen kommen, die meisten ganz normale Bürger aus der Mitte der Gesellschaft. Und jeder, der ehrlichen Herzens mit uns für Frieden demonstrieren möchte, ist willkommen. Wer dagegen unsere Kundgebung stören oder für sachfremde Zwecke instrumentalisieren möchte, sollte lieber zu Hause bleiben. Ich habe vor kurzem ein Interview mit einem unserer Erstunterzeichner, Thilo Bode, gelesen. Er war Mitbegründer von Foodwatch und einer der Organisatoren der großen Anti-TTIP-Demo 2015 in Berlin. Damals haben auch einige rechte Organisationen aufgerufen. Die Organisatoren haben das einfach ignoriert, am Ende waren 150.000 Leute auf dem Platz, die übergroße Mehrheit ganz normale Bürgerinnen und Bürger. Auch früher bei den großen Friedenskundgebungen im Bonner Hofgarten hat man keine Gesinnungsprüfungen gemacht. Diese ganze Debatte ist offenkundig nur dazu da, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit zu untergraben!

Sahra Wagenknecht
Sahra WagenknechtMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Kritiker sagen, dass die Friedenssehnsucht Deutschlands Ihnen wichtiger ist als die Freiheit der Ukraine. Was antworten Sie darauf?

Im Krieg gibt es auch keine Freiheit. Es geht doch darum, dass nicht jeden Tag Hunderte Menschen in der Ukraine sterben. Ich verstehe nicht, wie man das gegeneinander ausspielen kann. Natürlich geht es auch darum, dass dieser Krieg sich nicht ausweitet, dass kein atomares Inferno oder ein dritter Weltkrieg daraus erwächst. Selbstverständlich hat die Bundesregierung da der eigenen Bevölkerung gegenüber eine Verantwortung. Ein möglichst schnelles Ende des Ukraine-Krieges ist aber auch im Interesse der ukrainischen Bevölkerung. Ich bekomme Mails von Ukrainerinnen hier in Deutschland, die mir schreiben, dass sie wahnsinnige Angst haben, was mit ihren Männern passiert, die nicht aus dem Land dürfen. Es ist keineswegs so, dass alle mit Begeisterung in den Krieg ziehen.

Vor ziemlich genau einem Jahr haben Sie in der Show von Anne Will gesagt, Putin sei kein Irrer, der sich daran berauscht, Grenzen zu verschieben. Nun versucht er aber genau das. Haben Sie schon mal überlegt, dass Sie sich vielleicht irren könnten und jene recht haben, die konsequenten Einsatz gegen Putin fordern?

Man sollte immer einkalkulieren, dass man sich irren kann. Ich habe nicht gedacht, dass dieser Krieg unmittelbar bevorsteht, darin habe ich geirrt. Wie viele andere übrigens auch. Aber ich habe auch in dieser Sendung gewarnt, dass nach meinem Gefühl die russische Führung um jeden Preis und im Notfall auch mit militärischen Mitteln einen ukrainischen Nato-Beitritt verhindern wird. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Situation gefährlich ist und ein kriegerischer Konflikt drohen könnte.

Noch eine Frage zu kommenden Samstag. Wie viele Demonstranten wären ein Erfolg für Sie?

Die Kundgebung ist für 10.000 Menschen angemeldet. Aber es könnten auch viel mehr werden, dann wäre es die größte Friedenskundgebung seit langer Zeit in Berlin. Ich denke, dass Deutschland wieder eine starke Friedensbewegung braucht, und wenn die Demo ein Startsignal dafür sein könnte, würde ich mich sehr freuen.


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