„Sag mir nichts“ erz�hlt von zwei Spielarten der Liebe: von einer Partnerschaft, die auf (materieller) Sicherheit beruht und �ber die Jahre ein St�ck weit mehr oder weniger sch�ne Gewohnheit geworden ist, und von einer eher sexuell motivierten Urkraft zwischen den Geschlechtern, die im Idealfall Berge versetzen, aber auch viel kaputt machen kann. Die Macher verzichten auf jede psychologische Ausdeutung, liefern aber viel biografisches & famili�res „Material“ f�r den Zuschauer. Der bewegt sich auf Augenh�he mit den Charakteren – und sieht h�ufig klarer als die in ihrer Leidenschaft und den Fluchtw�nschen Verstrickten. Also nicht nur ein Film �ber die unb�ndige Begierde, sondern auch ein Film �ber den Einfluss von Geld und Gesellschaft auf den Sexus. Gro�es Melodram in Fassbinder-Tradition.
Foto: SWR / Julia von VietinghoffNur Lust & Leidenschaft? Oder auch eine tiefere Bindung? Oder machen sich beide nur etwas vor? Jeder hat schlie�lich schon ein Leben ... Zehrfeld & Lardi. TRAILER
Ihre Blicke treffen sich in der Stra�enbahn. Wenig sp�ter lehnen Lena (Ursina Lardi) und Martin (Ronald Zehrfeld) am Gitter eines Bolzplatzes und lieben sich leidenschaftlich. War’s das? Z�gelloser Sex mit einem fremden Menschen. Sie gehen wortlos auseinander, haben sich offenbar weder ihre Namen gesagt, noch ihre Handy-Nummern ausgetauscht. Zur�ck in ihrem Alltag, dr�ngt es beide bald danach, das Erlebte zu wiederholen – obwohl jeder von ihnen scheinbar gl�cklich verheiratet ist: Lena, die k�nstlerisch ambitionierte Fotografin, mit Bodo (Roeland Wiesnekker), einem einfach gestrickten Malocher, und Martin mit Solveig (Sarah Hostettler), einer bildsch�nen, aber etwas anstrengenden Tochter aus besserem Hause. Erst ein Zufall f�hrt die beiden wieder zusammen. Und jetzt entbrennt eine hei�e Aff�re. Mit SMSen organisieren sie ihre spontanen Treffen, bis sie einen ersten „Fluchtversuch“ starten: ein romantisches Wochenende am Meer – das allerdings sehr unromantisch endet. „Bin ich das f�r dich, so ’ne Fickgeschichte?!“, f�hrt Lena Martin an. Offenbar ist es ihr mit dem, was sie beide verbindet, ernster als ihm. F�r sie, die auch beruflich an einem Scheideweg zu stehen scheint, ist das alles mehr als ein Abenteuer. Sieht sie die Chance f�r einen doppelten Neuanfang? Doch auch Martin f�hlt sich gefangen in seiner Ehe, kontrolliert von einer Frau, die ganz auf den Wunsch, ein Kind zu kriegen, fixiert ist. Er w�rde gern das langweilige Mannheim gegen Berlin eintauschen. Es muss sich doch mal irgendwas �ndern!
Foto: SWR / Julia von VietinghoffTiefenentspannt. Nach dem Spontansex mit Lena kann Martin selbst seine nervigen Schwiegereltern mit einem L�cheln ertragen. Hostettler, Zehrfeld, Gabriel, Leupold
Der ARD-Fernsehfilm „Sag mir nichts“ erz�hlt von zwei Spielarten der Liebe: von einer Partnerschaft, die auf (materieller) Sicherheit beruht und �ber die Jahre ein St�ck weit mehr oder weniger sch�ne Gewohnheit geworden ist, und von einer eher sexuell motivierten Urkraft zwischen den Geschlechtern, die im Idealfall Berge versetzen kann, zumindest aber immer gut ist f�r kr�ftige emotionale Steinschl�ge. Durch die genaue Beobachtung des Alltags der Protagonisten und durch den Kontrast zwischen den Momenten sexueller Lust und dem zunehmend als frustrierend erfahrenen Eheleben geht die Geschichte von Norbert Baumgarten weit �ber ein Seitensprung-Szenario hinaus. Die Liebenden haben nicht nur sich, sondern sie haben langj�hrige Partner, die Frau hat eine Tochter, der Mann hat Schwiegereltern, die einen gr��eren Einfluss auf ihn haben, als ihm lieb ist. Und: Die bisher gelebten Beziehungen sind auf den ersten Blick so �bel nicht. Sehr geschickt gelingt es Baumgarten, sogar die Arbeitswelt, die Berufe der Paare, ins Spiel zu bringen. Daraus k�nnten sich denn auch Erkl�rungen f�r die gro�e Anziehungskraft jenseits des Sinnlichen ergeben. K�nnten. Baumgarten und Regisseur Andreas Kleinert verzichten auf jede psychologische Ausdeutung der Geschichte. Sie liefern aber gen�gend biografisches und famili�res Spielmaterial, damit sich der Zuschauer selbst einen Reim auf diese Liebesgeschichte(n) machen kann.
Foto: SWR / Julia von VietinghoffLASS UNS ABHAUEN – Martin (Zehrfeld) hat die SMS von Lena (Ursina Lardi) w�rtlich genommen. Doch das Wochenende am Meer verl�uft anders als geplant. Lena will keine billige Aff�re sein. Und vielleicht ist "der Neue" ja auch gar nicht so aufregend. Martin schnarcht jedenfalls genauso laut wie ihr Mann Bodo. TRAILER
Die Sexualit�t allein kann es jedenfalls nicht sein. Vielleicht versp�ren ja beide Protagonisten auch unbewusst ein Verlangen danach, die Fesseln ihrer Herkunft abzustreifen und sich von ihrer sozialen „Schicht“ zu emanzipieren? Martin ist ein gefragter Journalist, f�r den dank seiner Schwiegereltern Geld keine Rolle spielt – aber diese Abh�ngigkeit nervt auch. Wer in Mannheim wohnt und sich auf eine Stelle in Berlin bewirbt, ohne es dem Partner zu sagen, d�rfte ein St�ck weit auch von der Sehnsucht getrieben sein, aus dieser Beziehung auszubrechen. F�r Lena dagegen spielt Geld durchaus eine Rolle. Weil sie es nicht hat. Mit ihrer Arbeit als Fotografin und Projektk�nstlerin, f�r die es immer weniger �ffentliche Gelder gibt, steht sie vor dem Aus. Und nat�rlich geh�rt sie nicht zu der Art Frauen, die sich aushalten lassen, im Gegenteil, als es die beiden in ein f�r sie zu teures Restaurant verschl�gt, kann sie Martins gro�z�gige Haltung nicht annehmen (und isst nur einen kleinen Salat). Ein sch�nes Bild, wie sie sp�ter in Gedanken versunken in einem Lokal sitzt, das Caf� Prag hei�t, so ein bisschen die alte Welt repr�sentierend, w�hrend Martin zeitgleich Gefahr l�uft, sich von der Welt der Neureichen kaufen zu lassen. Keine Liebe ohne den Einfluss von Geld und Gesellschaft. Also doch nur eine Fickgeschichte? Kein Film �ber die gro�e Leidenschaft, sondern �ber pl�tzlich ausgebrochene Sehns�chte, �ber den Mythos von der zweiten Chance, f�r die man nun eine geeignete Projektionsfl�che gefunden hat? Und genretechnisch also doch am Ende eher ein Melodram, wie es auch Fassbinder h�tte erz�hlen k�nnen (wenngleich sicher sehr viel radikaler, b�ser und weniger elegant als Kleinert) als ein Diskurs �ber Liebe, Lust und Leidenschaft? Eigentlich stellt man sich diese Fragen erst ganz am Ende des Films. Man dreht ihn quasi in Gedanken zur�ck, versucht, Erkl�rungen zu finden – sp�testens da erkennt man auch, wie pr�zise hier alle Interaktionen gezeichnet und wie stimmig die Menschen in ihrer Welt verortet sind. Sex allein ist tats�chlich nicht die L�sung.
Soundtrack: Doors ("Break on through"), Herb Alpert ("This guy's in love with you"), Arcade Fire ("Empty Room"), Thievery Corporation ft. Lou Lou Ghelichkhani ("D�collage"), Robert Mitchum ("Sunny"), Prodigy ("Breathe")
Foto: SWR / Julia von VietinghoffDer Kinderwunsch wird zum Wahn. Wie w�re das wohl, wenn sie schwanger w�re? Martins Frau Solveig (Sarah Hostettler) tr�gt Z�ge einer modernen Melodram-Figur.
W�hrend der 90 Minuten von „Sag mir nichts“ d�rfte der geneigte Zuschauer selten grunds�tzliche Fragen stellen. Daf�r ist das Wechselspiel der Gef�hle, das Hin und Her zwischen Alltag und Aff�re einfach zu mitrei�end. Man bewegt sich ganz auf Augenh�he mit den Protagonisten. Man folgt ihnen in ihr Leben. Nach dem Quickie am Bolzplatz mit seinem ebenso wortlosen Vorspiel dauert es �ber 20 Filmminuten, bis sich die Liebenden wiedersehen und im Film h�rbar die ersten Worte austauschen. Diese lange Pause, in der einem die Charaktere und ihre Lebensumst�nde nahegebracht werden, also all das, was die Aff�re mitbedingt, ist entscheidend daf�r, dass der Zuschauer die Geschichte nicht als „Fickgeschichte“ abtun wird, sondern den Hauptfiguren mit Sympathie und Anteilnahme begegnen kann. Dazu tr�gt besonders auch bei, dass der Alltag mit den lustvollen kleinen Fluchten die Handlung bestimmt und dass viele Szenen – besonders im ersten Teil des Films – hart und schnell aneinandergeschnitten werden. Dieses Rastlose in der Form korrespondiert mit dem Sujet, der sexuellen Z�gellosigkeit, aber auch mit der zunehmenden Haltlosigkeit der Charaktere. Das hohe Tempo erm�glicht zugleich, dass die Sex-Szenen nicht �berm��ig ausgespielt werden m�ssen. Denn nichts ist schwerer im Film darzustellen als sexuelle Leidenschaft. Kleinert macht das richtig gut: Er deutet Sex nicht nur an, er zeigt ihn, aber eben nur kurz. Dadurch gibt er die Leidenschaft nicht der L�cherlichkeit preis, macht aus den Sex-Szenen aber auch keine coolen voyeuristischen Nummern � la „Neuneinhalb Wochen“. Filmisch konsequent eingesetzt wird auch der SMS-Verkehr. „Kann heute noch“, „Lass uns abhauen“ oder „Will dich“ prangt da in Gro�buchstaben �ber dem halben Bildschirm. Da muss man sich folglich fragen: wie hat man das fr�her gemacht mit den Seitenspr�ngen?�
Foto: SWR / Julia von VietinghoffIn einer Theaterst�ckverfilmung von Andreas Kleinert war Lardi "Die Frau von fr�her". In "Sag mir nichts" ist ihre idealistische Fotografin eine Frau von gestern.
Auch die Besetzung passt. Die zwei in der ersten Reihe, Ursina Lardi und Ronald Zehrfeld, sowie die beiden tragenden Nebendarsteller, Sarah Hostettler und Roeland Wiesnekker als die Betrogenen, bringen viel von ihrer besonderen Ausstrahlung und Physis in die jeweiligen Charaktere ein. Lardi, die Kleinert als Extrem-Liebende bereits in der Theaterst�ckverfilmung „Die Frau von fr�her“ besetzt hat, besticht als zerbrechliche Ikone der Leidenschaft. Auch wenn es nicht thematisiert wird: Ihre Lena ist ein paar Jahre �lter als der von ihr hei� begehrte Lover, hat bereits eine 15j�hrige Tochter und mit ihrem Mann d�rfte sie schon an die 20 Jahre zusammen sein. Wird die Jugend und/oder das Geld ausschlaggebend sein f�r den Ausgang der Geschichte? Zehrfeld jedenfalls spielt einen, der f�r alles offen ist, der Ver�nderung braucht. Wie ein gro�er (kr�ftiger) Junge wirkt er in dieser Rolle, immer ein bisschen fremdbestimmt, ob von seiner Frau, seiner Chefin oder den Schwiegereltern. Wie einer, der Ver�nderung zwar zu seinem Mantra erhoben hat, aber offenbar von einer Frau gelenkt werden muss. Wird er am Ende der brave Junge bleiben, der es „Mutti“ recht macht? Wiesnekker verk�rpert den betrogenen Ehemann als geistig wie k�rperlich etwas ungelenkes Kraftpaket. Die Untreue seiner Ehefrau macht jenen Bodo fertig, w�hrend Martins Frau Solveig der Seitensprung ihres Mannes regelrecht umhaut. Mit einer Verzweiflungstat versucht sie raffiniert und heimlich den Ehemann an sich zu ketten. Hostettler spielt diese unnahbar Verzweifelte am Rande des allt�glichen Wahnsinns zum Fr�steln sch�n. Ihre Solveig wirkt wie eine Fassbinder-Kreatur. Bizarr, wie sie mit Schere, Schwangerschaftstest und falschem Bauch herumhantiert. Beim deutschen Meister des Melodrams w�re in den 70er Jahren sicherlich Blut geflossen. Baumgarten und Kleinert verzichten darauf. Schneeflocken, ein gro�es Fenster und eine Tr�ne tun es am Ende auch. (Text-Stand: 13.10.2016)
Interview mit Andreas Kleinert zu dem SWR-Liebesdrama "Sag mir nichts"
Und hier geht es zum eineinhalbmin�tigen TRAILER zum Film auf Vimeo.
Rainer Tittelbach arbeitet als TV-Kritiker & Medienjournalist. Er war 25 Jahre Grimme-Juror, ist FSF-Pr�fer und betreibt seit 2009 tittelbach.tv. Mehr
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